Expert:innen

Am besten setzen wir selbstverständlich für jeden Zweck das jeweils nützlichste Denkwerkzeug ein. Doch woher wissen wir, ob ein bestimmtes Werkzeug nützlich ist?

Mit wenigen Ausnahmen haben wir die Denkwerkzeuge, die wir in unserem Leben einsetzen, jemandem „abgekauft“: Unseren Eltern; Lehrpersonen; Freunden und Bekannten; Autorinnen und Autoren von Büchern, Zeitungsartikeln, Radioreportagen, Twitter Nachrichten, Blogs; etc. Auch die Meiers und die Müllers. Meiers positive Einstellung zum Impfen stammt sicher von ihrem Kinderarzt sowie vermutlich einem Buch mit dem Titel „Mein Kind“ und den Medien. Bei Müllers könnte es ein Blog im Internet sein oder, wie am Schluss von Verwendungszweck spekuliert, eine Autorität innerhalb einer Sekte, der sie angehören.

Die Frage, ob wir das, was uns erzählt wird, wirklich „kaufen“ wollen, stellt sich bei der Übernahme eines Denkwerkzeugs genau gleich, wie wenn wir bspw. eine neue Kaffeemaschine anschaffen. Entsprechend sollten die folgenden Überlegungen nicht besonders viele überraschende Punkte enthalten.

1. Wozu möchten wir das Werkzeug einsetzen?

Zuerst müssen wir klären, wofür wir das Teil benutzen wollen. Bei einer Kaffeemaschine ist sicher wichtig zu überlegen, wo wir sie überhaupt einsetzen möchten: Zuhause? Im Vereinshaus? In einer professionellen Kaffeebar? Wenn wir solche Fragen für uns selbst klären, dann können wir das, was wir in einem Prospekt vorfinden oder was uns ein Verkäufer erzählt, besser einordnen.

Im Zusammenhang mit Denkwerkzeugen wäre zu klären: Warum möchten wir etwas wissen? Wie möchten wir dieses Wissen einsetzen? Einiges, das helfen kann, diese Frage zu klären, findet sich im Teil A. Bei der Impffrage Meiers und Müllers soll das Denkwerkzeug in erster Linie einmal eine Entscheidungshilfe liefern, ob man das Impfangebot der Medizin annehmen will.

Gute Verkäufer:innen werden uns übrigens von sich aus helfen, solche Fragen zum Verwendungszweck zu klären – auch solche von Denkwerkzeugen.

2. Hat die „Verkäuferin“, der „Verkäufer“ Erfahrung mit dem Einsatz des Werkzeugs?

Wenn wir wissen, wozu wir etwas brauchen, stellt sich die zweite Frage: Welchen „Verkäufer:innen“ wollen wir vertrauen? Wem glauben wir, wenn er oder sie uns etwas empfiehlt?

Bei der Kaffeemaschine ist es vielleicht eine Arbeitskollegin. Aber jede beliebige Arbeitskollegin? Wohl eher nicht jemand, der nur Tee trinkt. Beim „Einkaufen“ von Denkwerkzeugen ist es dasselbe: Empfehlungen holt man sich am besten bei jemandem, der tatsächlich Erfahrungen mit dem Gebrauch dieses Werkzeugs hat und das Ganze nicht nur vom Hörensagen kennt.

Wenn wir wissen, dass der Kollege zuhause regelmässig Kaffee trinkt, dann ist das vielleicht schon Qualifikation genug, um seiner Empfehlung zu vertrauen. Was bei ihm zuhause funktioniert, wird für uns auch funktionieren. Ausser wir sind in Sachen Kaffee sehr anspruchsvoll. Vielleicht ist der Kollege ja mit einer Brühe zufrieden, von der wir keinen zweiten Schluck trinken würden. Dann ist es vielleicht besser, wir befragen jemanden, die ähnlich grosse Ansprüche stellt und Erfahrungen mit verschiedensten Typen von Kaffeemaschinen hat. Die Barista im Lokal beim Bahnhof wäre vielleicht eine mögliche Quelle. Wobei, wenn sie nur in ihrem Lokal und mit einer für den Dauereinsatz gemachten Maschine Kaffee zubereitet, ist sie vielleicht auch nicht die optimale Auskunftsperson. Besser wäre, sie würde auch noch zuhause unter Bedingungen, wie man sie in unserem Haushalt antrifft, Kaffee machen.

Auch hier gilt dasselbe für Denkwerkzeuge. Jemand, der ein tolles Buch, das sich gut verkauft, über die positiven Effekte von Yoga geschrieben hat, ist nicht zwingend jemand, der wirklich etwas von diesen Effekten versteht. Was er schreibt, hat sich insofern als nützlich erwiesen, als dass es bei Leserinnen und Lesern Anklang findet, sie begeistert, sie dazu bringt, das Buch anderen zu empfehlen, die es dann auch kaufen. Aber ob das, was er beschreibt, tatsächlich zu positiven Effekten führt, wenn man auf dieser Basis selbst Yoga betreibt, ist keineswegs gesichert. Verlässlicher ist ein Buch von jemandem, der selbst Yoga macht und andere dabei anleitet und die Effekte von all dem systematisch auswertet.

Sind die Müllers so gesehen vertrauenswürdige „Verkäufer“ in Sachen Impfverzicht? Es ist fraglich, ob sie überhaupt relevante Erfahrung haben. Sie haben zwar ihre Kinder nicht geimpft und deswegen wohl auch die eine oder andere Diskussion mit Ärztinnen, Verwandten und Bekannten durchgestanden. Aber haben sie bereits eines ihrer Kinder während einer der Krankheiten begleitet? Für Meiers wären die Müllers auf jeden Fall die besseren Auskunftspersonen, wenn ihre drei Kinder schon alle Mumps, Masern und Röteln gehabt hätten. Wenn die Müllers dann immer noch sagen, dass dies machbar ist, dann hat das mehr Gewicht, als wenn sie sich nur erst vorstellen, wie sie das dann mit Hilfe ihres anthroposophisch ausgerichteten Hausarztes bewältigen werden.

3. Wie breit sind die Erfahrungen des „Verkäufers“?

Jemand, der bisher mit einer einzigen Kaffeemaschine gearbeitet und mit diesem Modell gute Erfahrungen gemacht hat, kann zwar bereits interessante Anhaltspunkte geben. Aber noch besser wäre eine Person, die vergleichen kann, die auf Erfahrungen mit möglichst vielen verschiedenen Modellen zurückgreifen kann, kurz: ein Experte oder eine Expertin. Die Erfahrungen, auf die solche Expert:innen zurückgreifen, brauchen nicht zwingend alles Erfahrungen sein, die sie selbst gemacht haben, sondern es können auch Erfahrungen anderer sein, die sie sich haben erzählen lassen oder von denen sie gelesen haben. Haben sie selbst eine breite Erfahrungsbasis, werden sie in der Lage sein, solche Berichte kritisch zu verarbeiten.

Die beste Expertin für Denkwerkzeuge ist daher eine, die einerseits breite Einsatzerfahrungen hat, die aber auch möglichst vollständig kennt, was andere weltweit dazu geschrieben haben. Vor allem zu aktuellen Themen wie Covid-19 oder die Klimaproblematik gibt es eine gewaltige Menge an Erfahrungsberichten über den Einsatz entsprechender Denkwerkzeuge. Glaubwürdige Expert:innen sollten diese kennen.

Gute Informationsquellen zur Brauchbarkeit eines Denkwerkzeugs sind Personen, die das Werkzeug selbst zum gleichen Zweck eingesetzt haben, wie wir es einsetzen möchten, und die dabei breite Erfahrungen gemacht haben.

Auch hier ist fraglich, ob die Müllers dieses Kriterium erfüllen, denn auch wenn all ihre drei Kinder je drei Krankheiten durchgemacht hätten, wären das erst neun Erfahrungen unter immer recht ähnlichen Bedingungen. Mehr beitragen können hier Kinderärzt:innen, die schon hunderte Familien begleitet haben und die relevante Fachliteratur kennen.

4. Gibt es andere Expert:innen mit vergleichbaren Meinungen?

Auf noch breitere Erfahrungen können wir zugreifen, wenn wir den Rat von mehreren Expert:innen einholen. Indirekt machen wir das schon, wenn wir eine Person konsultieren, die möglichst vieles von dem kennt, was andere schon dazu geschrieben haben. Auch die besten Experten arbeiten das Material aus einer bestimmten Perspektive auf, ihrer persönlichen Sicht. Ziehen wir mehrere Expertinnen bei, ergänzen sich diese unter Umständen, indem der eine einzelne Punkte einbringen kann, die der anderen nicht so wichtig waren.

Mit mehreren Expertinnen besteht aber natürlich die Möglichkeit, dass sie sich widersprechen. Mit dieser Schwierigkeit haben auch alle Experten zu kämpfen, wenn sie das vorhandene Material sichten.

Manchmal lassen sich solche Widersprüche zwischen verschiedenen Expert:innen auflösen, indem wir sorgfältig den Hintergrund herausarbeiten, auf dem sie argumentieren. Haben wir zwei Gruppen von Kaffeemaschinen-Expertinnen die für zwei verschiedene Typen von Maschinen argumentieren, und stellt sich dabei heraus, dass die einen an einen professionellen Einsatz in einer Kaffeebar denken und die anderen an einen Einsatz zuhause, dann hören wir selbstverständlich am besten auf diejenigen, die denselben Einsatz im Auge haben wie wir selbst.

Empfehlen verschiedene Expertinnen verschiedene Typen von Maschinen für denselben Einsatz, dann wird es allerdings schwierig. Denn echte Expertinnen wissen typischerweise so viel mehr als wir selbst, dass wir unmöglich aufgrund eigener Überlegungen oder Erfahrungen eine bessere Wahl treffen können als sie. Das einzige, was uns bleibt, ist der Mehrheit zu folgen. Das ist kein absolut sicheres Rezept, denn auch eine noch so grosse Mehrheit kann sich irren. Aber je mehr Experten sich einer Meinung anschliessen, umso kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Vorschlag völlig unbrauchbar ist.

Wenn sich Expert:innen widersprechen, ist es meist eine gute Idee, der Mehrheit zu folgen.

Die Meiers können die Meinung der Müllers mit der Meinung ihrer Hausärztin oder ihres Kinderarztes vergleichen. Die Müllers sind nicht selbst auf ihre Idee gekommen, sondern benutzen ein Denkwerkzeug, das von den Anthroposophen vertreten wird. Sie sind also nicht allein, sondern einer Meinung mit einer ganzen Menge möglicher Experten.[1] Dasselbe gilt aber auch für ihren schulmedizinisch ausgerichteten Hausarzt, nur deckt sich seine Meinung mit der einer deutlich grösseren Menge von Personen, die sich intensiv mit der Problematik auseinandergesetzt haben.

5. Kann uns jemand eine Expertin, einen Experten empfehlen?

Selbst einen geeigneten Kaffeemaschinen-Experten zu finden, kann schwierig sein. Empfehlungen von Bekannten, die mit einer bestimmten Expertin gute Erfahrungen gemacht haben, sind daher nützlich. Allerdings nur dann, wenn wir einen Experten aus demselben Grund brauchen, wie der Bekannte den Experten konsultiert hat. Führt der Bekannte ein Restaurant und braucht Beratung für seine Kaffeemaschinen dort, ist nicht gesagt, dass der empfohlene Experte für uns brauchbar ist, wenn wir zuhause unsere alte Maschine ersetzen möchten.

Wir können uns also gern Empfehlungen für Denkwerkzeug-Expertinnen anhören. Wichtig ist dabei aber, dass wir uns fragen aus welchem Grund und auf welchem Hintergrund eine Empfehlung zu Stande kommt. Wenn die Meiers die Müllers bitten, doch geeignete Experten zu nennen, würden die Müllers vermutlich auf die anthroposophische Gesellschaft verweisen und auf deren Website. Daraus könnte sich ein Gespräch ergeben, warum den Müllers das anthroposophische Gedankengut wichtig ist, was sie veranlasst hat, dort nach Rat zu suchen. Vielleicht würden die Müllers darauf erzählen, dass ihnen die moderne Wissenschaft so mechanisch leer und seelenlos vorkommt und sie sich daher nach einem anderen Zugang umgesehen haben. Das würde bedeuten, dass ihr Ziel, zu dessen Erreichung sie ein Denkwerkzeug gesucht haben, nicht in erster Linie die Gesundheit ihrer Kinder ist, sondern ein spirituelles Welterleben. Wenn für die Meiers dieses Ziel nicht im Vordergrund steht, sind die Anthroposophen nicht die richtigen Experten für sie.

Kurz zusammengefasst heisst das, dass wir gute Expert:innen für Denkwerkzeuge ähnlich beurteilen können wie Expert:innen für Kaffeemaschinen. Ein paar Beispiele:

Weiter lesen >> Falsch eingesetzte Wekzeuge?


[1] Wie weit die Anthroposophen allerdings als Experten gelten können, die das Denkwerkzeug zum gleichen Zweck einsetzen, wie die Meiers es einsetzen, ist unklar. Auf der oben zitierten Website steht als zweiter Satz „Trotz Impfungen in der allerfrühesten Kindheit sind unsere Kinder nicht widerstandsfähiger und gesünder geworden“. Das kann nicht im Sinne von physisch gesünder gemeint sein, denn bspw. durch die weitgehende Zurückdrängung der Kinderlähmung dank Impfung sind die Kinder weltweit in den letzten 100 Jahren ganz klar physisch gesünder geworden.