Verwendungszweck

Vielleicht war der Moment, als ich mit meinem schwitzenden Vater auf dem Berggipfel stand, der Moment, wo ich auch zum Pragmatiker (im philosophischen Sinn) geworden bin. Entscheidend war dann aber, dass ich einige Zeit später Jürgen Habermas Buch Erkenntnis und Interesse gelesen habe.[1] Habermas rollt darin auch die Geschichte der Suche nach Kriterien für die Wahrheit auf und kommt zum Schluss, dass wir nur Kriterien zur Beurteilung von Denkwerkzeugen gewinnen können, wenn wir uns klar machen, wozu wir sie gebrauchen möchten. Nützlichkeit ist nichts Absolutes, sondern hängt vom Ziel ab, das wir erreichen möchten.

Habermas arbeitet in seinem Buch drei grundverschiedene Ziele (bei ihm: „Interessen“) heraus:

  • Technisches Interesse: Das Fenster steht offen, es wird langsam kalt. Was muss ich tun, damit es im Zimmer wieder wärmer wird?
  • Praktisches Interesse: Wir haben Gäste eingeladen. Ich möchte zusammen mit meiner Frau ein Vier-Gang-Menü zubereiten. Wie kann ich erreichen, dass wir Hand in Hand daran arbeiten können?
  • Emanzipatorisches Interesse: Gewisse Ãœberzeugungen der Lehrpersonen in meinem Kurs hindern sie daran, auf die Bedürfnisse ihrer Lernenden einzugehen. Wie kann ich ihnen helfen, diese Ãœberzeugungen durch hilfreichere zu ersetzen?

Das Interessante an Habermas Einteilung ist, dass je nach Art des Ziels, je nach Interesse, die nützlichen Denkwerkzeuge eine andere Form annehmen und die Erfolgskriterien anders aussehen. Beim technischen Interesse kreist unser Denken um Gegenstände bzw. Objekte. Wir messen ihre Eigenschaften und wir kennen Regeln in der Form: „Wenn das Fenster offen ist und ich möchte, dass es geschlossen ist, dann kann ich das erreichen, indem ich …“. Diese Regeln sind nützlich, wenn sie mir erlauben, das Fenster zu schliessen, wann immer ich möchte.

Beim praktischen Interesse hat sich hingegen über eine viele tausend Jahre alte Erfahrung die Haltung herausgebildet, dass man die Gegenüber, mit denen man zusammenarbeiten möchte, nicht als Objekte, sondern als Subjekte mit Ideen, Wünschen, Gefühlen etc. behandelt. Diese Ideen, Wünsche etc. kann man nicht messen, wie die Eigenschaften der Objekte; man muss sie erfragen, man muss mit dem Gegenüber reden. Und man kann sich auch nicht Ziele setzen, wie beim technischen Interesse, denn wenn mehrere Personen zusammenarbeiten, entstehen gemeinsame Ziele erst in der Zusammenarbeit. Das Kriterium des Gelingens ist hier, ob eine befriedigende Kooperation zu Stande kommt.

Ich denke, das Beispiel illustriert, dass es zur Beurteilung der Nützlichkeit von Denkwerkzeugen keine allgemeinen Kriterien gibt:

Ob ein Denkwerkzeug nützlich ist, können wir nur entscheiden, wenn wir wissen, zu welchem Zweck wir es einsetzen möchten.

Habermas war vermutlich der Meinung, mit diesen drei „Interessen“ zumindest die wichtigsten Zwecke der Wissensgenerierung beschrieben zu haben. Jedenfalls hat er nach diesem Buch das Thema nicht weiter bearbeitet und sich anderen Fragen zugewendet. Aber wir müssen nicht dabei stehen bleiben. Die Idee der Wiedergeburt bspw. scheint mir nicht so recht zu einem der drei Interessen von Habermas zu passen. Wenn ich an die Avalon Romane von Marion Zimmer Bradley denke[2], wo Wiedergeburten eine wichtige Rolle spielen, dann erinnere ich mich, beim Lesen ein gutes Gefühl eines vernetzten Kosmos gehabt zu haben. Vielleicht ist das Erleben eines solchen Gefühls der Zweck, den meine Bekannte mit diesem Denkwerkzeug verfolgt. Ich bin leider nicht dazu gekommen, sie dazu zu befragen.

Auch bei Meiers und Müllers lassen sich verschiedene Verwendungszwecke vermuten. Als Erstes scheint da ein technisches Interesse im Sinne von Habermas vorzuliegen. Meiers wie Müllers möchten, dass ein bestimmter Zustand eintritt bzw. nicht eintritt. Bei Meiers ist der Bezug zum technischen Interesse recht eindeutig. Ihre Kinder sollen die entsprechenden Vieren erfolgreich abwehren können, so dass die jeweiligen Krankheiten nicht ausbrechen. Die Eltern behandeln dabei ihre Kinder als (biologische) Objekte. Sie befürchten, dass die Kinder physisch Schaden nehmen könnten, und wollen das verhindern. Konsequenterweise werden die Kinder auch nicht um ihre Meinung gefragt, sondern es wird über sie verfügt.

Bei Müllers könnte man zuerst auch ein technisches Interesse vermuten: Die Kinder sollen die Viren in ihre Körper lassen, so dass die Krankheiten ausbrechen. Nur ist das eigentliche Ziel ja nicht, dass sie krank werden, sondern dass sie dank der Krankheit einen Schritt in ihrer Entwicklung machen, wobei die Müllers dabei vermutlich auch oder vor allem an eine psychische Entwicklung denken. Von den Anthroposophen wird in diesem Zusammenhang gern zitiert, dass Goethe die vielen durchgemachten Kinderkrankheiten als Reifeschritte erlebte, die seinen Hang zum Nachdenken vermehrten.[3] Dies sind nun aber Begriffe aus der Welt des praktischen Interesses im Sinne von Habermas.

Wenn jetzt Meiers aus einem technischen Interesse heraus argumentieren und die Müllers eher aus einem praktischen, dann können wir uns gut vorstellen, dass ein Gespräch zwischen ihnen auch bei gutem Willen nicht einfach ist. Zu unterschiedlich sind unter den jeweiligen Perspektiven die Kriterien, was als überzeugendes Argument gilt.

Die Kombination von technischem – die Müllers lassen ihre Kinder genauso wenig mitentscheiden – und praktischem Zugang, wie wir ihn bei Müllers finden, ist übrigens im medizinischen Bereich verbreitet. Wenn mir mein Arzt sagt „Nehmen Sie die nächsten drei Tage dreimal täglich je eine dieser Tabletten“, dann versucht er mich sowohl mit einem technischen wie einem praktischen Zugang zu heilen. Habe ich die Tablette einmal eingenommen, wirkt sie nach technischer Logik; sie und ich sind Objekte in einem biologisch/chemischen Prozess. Mit der mündlichen Anweisung versucht der Arzt aber zusätzlich auf typisch praktische Art im Gespräch mich zur Kooperation und Mitarbeit in diesem Vorgang zu bewegen. Er wird mir über die kurze Anweisung hinaus erklären, wozu das Ganze gut ist, und mir vielleicht ein bisschen Angst davor machen, was geschieht, wenn ich nicht kooperiere. Das medizinische Interesse ist also weder rein technisch noch rein praktisch, sondern eine sehr spezifische Kombination der beiden.

Bei Müllers könnte der eigentliche Zweck, der ihr Denkwerkzeug erfüllen soll, noch ein ganz anderer sein. Vielleicht sind sie Mitglieder einer Sekte, die wie jede Sekte versucht, ihre Mitglieder möglichst von der Umwelt abzuschneiden. Wenn diese Sekte die Müllers dazu bringt, sich dem Impfen der Kinder zu verweigern, dann erschwert das für Müllers die Kooperation mit einer Umwelt, in der Impfen üblich ist, und fördert die gewünschte Isolation. In diesem Fall wäre es den Produzenten des Denkwerkzeugs, den Ideologen der Sekte, völlig egal, welche Wirkung die Kinderkrankheiten bei den Kindern haben. Die Wirkung, an der sie interessiert sind, ist nur die Isolation ihrer Mitglieder von der Umwelt.

Ich denke, das Beispiel illustriert, dass sich über Habermas drei Erkenntnisinteressen hinaus viele andere Interessen formulieren lassen, die sich mehr oder weniger deutlich davon unterscheiden  (ein weiteres Beispiel: Unterrichtsrezepte). Je präziser wir sie fassen, je genauer wir die Ziele umschreiben, die erreicht werden sollen, umso einfacher können wir beurteilen, ob das im Hinblick auf diese Ziele geschaffene Wissen nützlich ist.

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[1] Habermas, J. (1968). Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. Main: Suhrkamp.

[2] Als Einstieg: Zimmer Bradley, M. (1987). Die Nebel von Avalon. Fischer.

[3] https://www.erziehungskunst.de/artikel/fruehe-kindheit/haben-kinderkrankheiten-noch-einen-sinn/