Expert:innen im Interview

Immer wieder kommen in den Medien Expert:innen nicht direkt zu Wort, sondern werden von Journalist:innen befragt, die dann das weitergeben, was sie verstanden haben. Ähnliches geschieht, wenn Journalist:innen einen Fachartikel lesen – die verschriftlichte Meinung von Expert:innen – und diesen zusammenfassen.

Mathematik der Corona-Zahlen[1]

Paula Schneider berichtet auf fokus.de von einem Gespräch mit dem Mathematiker Moritz Kaßmann, 17.04.2020, 20:59 Uhr

Das Robert-Koch-Institut in Deutschland hatte damals angefangen, Verdopplungszahlen zu publizieren, im Sinne von: Bei der jetzigen Ansteckungsrate würden sich die Fallzahlen alle X Tage verdoppeln. Kaßmann versucht zu Beginn zu erklären, warum er als Mathematiker mit dieser Verdopplungszahl Mühe hat. Paula Schneider zitiert ihn: „Wer diese Zahl benutzt, setzt voraus, dass ein exponentielles Wachstum mit konstanter Wachstumsrate vorliegt, beziehungsweise, dass die Verdopplungszeit konstant ist“. Kaßmann versucht das anhand eines Beispiels zu illustrieren und Paula Schneider fasst die Schlussfolgerungen aus dem Beispiel zusammen: „Dabei handelt es sich also nicht um eine Momentaufnahme, sondern um die Entwicklung über einen bestimmten Zeitraum. Nur dann könne man von exponentiellem Wachstum sprechen und eine Verdopplungszeit bestimmen. ‚Das war jedoch schon zu dem Zeitpunkt nicht mehr der Fall, als über Verdopplungszeiten diskutiert wurde‘, betont der Mathematiker. ‚In Wahrheit schwankte bereits damals diese Zahl.‘“

Paula Schneider (oder die Redaktion) setzt dann den Zwischentitel:

Kein exponentielles Wachstum in Deutschland

Und fährt fort:

„Für einen Mathematiker bedeute das, dass er mit einer solchen Zahl nicht mehr arbeiten könne. Denn die Grundlage, ein Wachstum mit einer konstanten Wachstumsrate sei nicht gegeben. […] Sinnvoller sei der Blick auf die Netto-Reproduktionsrate. Das sei für Fachleute derzeit wohl die beste Zahl, um die Entwicklung der Pandemie einzuordnen. ‚Diese Rate gibt an, wie sich das Infektionsgeschehen wirklich entwickelt‘, erklärt der Mathematiker. ‚Sie sagt aus, wie viele weitere Menschen eine infektiöse Person ansteckt.‘ […] ‚Für die Kommunikation in der Öffentlichkeit halte ich sie jedoch nicht besonders gut geeignet‘, betont Kaßmann.

Denn diese Zahl sei recht kompliziert zu berechnen, außerdem von Laien schwer einzuordnen. ‚Auf den ersten Blick mag es keinen großen Unterschied machen, ob die Zahl bei 0,8 oder 1,2 liegt – für die Entwicklung des Infektionsgeschehens ist der Unterschied jedoch vehement‘, betont er. Denn eine Infektionsrate unter 1 bedeute, dass sich das Virus langsamer ausbreite, eine über 1, dass es sich schneller ausbreite.“

Da ich selbst auch Mathematik studiert habe, kann ich Herrn Kaßmanns Bedenken aus mathematischer Sicht nachvollziehen. Sein Ziel ist es, mathematisch saubere Verhältnisse zu haben. Das Ziel des Robert-Koch-Instituts ist hingegen ein anders, nämlich für die Allgemeinheit intuitiv nachvollziehbare Zahlen zu liefern. Ob sich diese beiden Ziele decken, ist fraglich, da Kaßmann ja selbst zugibt, dass die von ihm bevorzugte Netto-Reproduktionsrate für die Kommunikation in der Öffentlichkeit nicht besonders geeignet ist.

Paula Schneider versteht sein Hauptanliegen jedenfalls nicht wirklich. Der Zwischentitel „kein exponentielles Wachstum in Deutschland“ ist so nicht korrekt. Kaßmann sagt zwar, dass kein „exponentielles Wachstum mit konstanter Wachstumsrate“ vorliegt (denn sonst wären die Verdopplungszahlen mathematisch vertretbar). Aber das heisst nicht, dass man nicht von einem exponentiellen Wachstum sprechen kann, nur muss man sich bewusst sein, dass die Wachstumsrate schwankt. Zudem ist das weltweit überall der Fall, nicht nur in Deutschland.

Und auch die zusammenfassende Aussage „eine Infektionsrate unter 1 bedeute, dass sich das Virus langsamer ausbreite“ ist missverständlich. Eine Infektionsrate von bspw. 0.8 heisst, dass 10 infizierte Personen im Schnitt nur 8 neue Personen anstecken. Diese 8 Personen werden dann wieder etwa 6 weitere anstecken, etc. – bis die Neuinfektionen mit der Zeit ganz verschwinden. Natürlich kann man dem sagen „das Virus breitet sich langsamer aus“. Aber das ist auch der Fall, wenn die Reproduktionsrate 2 (10 Infizierte stecken 20 an) anstatt 10 (10 Infizierte stecken 100 an) ist. Die gute Nachricht einer Reproduktionsrate unter 1 ist, dass die Anzahl Infizierter langsam aber sicher zurückgeht.

Die Problematik der Konstellation „Journalist:innen befragen Expert:innen und geben wieder, was sie verstanden haben“ liegt im „was sie verstanden haben“. Wir erfahren nicht direkt, was die befragten Expert:innen sagten bzw. sagen wollten, sondern was die Journalist:innen aufgenommen haben. Sind die Journalist:innen selbst Expert:innen zum Thema – wäre bspw. Paula Schneider im Fallbeispiel oben Mathematikerin –, besteht hier kein Problem. Alle Expert:innen nehmen zur Kenntnis, was andere Expert:innen über ihre jeweiligen Denkwerkzeuge zu sagen haben und verarbeiten dieses. Journalist:innen hingegen sind zwar oft Expert:innen bezüglich der mediengerechten Darstellung von Inhalten, aber selten bezüglich des Themas, zu dem sie jemanden befragen. Und wie ich aus eigener Erfahrung als ab und zu von den Medien zitierter Experte berichten kann, ist dann das, was die Journalist:innen sagen, oft nicht das, was die Expert:innen sagen wollten.

So auch im Fallbeispiel oben. Der Zwischentitel „kein exponentielles Wachstum in Deutschland“ kann so verstanden werden, dass Deutschland irgendwie von der Gefahr eines explosionsartigen Anstiegs der Fallzahlen verschont bleibt. Etwas, dass Moritz Kaßmann mit Sicherheit nicht sagen wollte.

Wenn Journalist:innen Expert:innen zitieren, erfährt man v.a. etwas über das Denkwerkzeug der Journalist:innen, kaum etwas über das der Expert:innen. Entsprechend macht es Sinn, die Qualität der Quelle nicht nach der Qualität der Expert:innen, sondern nach der Qualität der Journalist:innen als Expert:innen für das angesprochene Thema zu beurteilen.

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[1] https://amp.focus.de/gesundheit/news/mathematiker-moritz-kassmann-auf-verdopplungszeiten-zu-schauen-macht-mathematisch-keinen-sinn_id_11890427.html