Kooperation

„Wahrheit“ ist also ein schlechtes Kriterium, wenn wir entscheiden müssen, wem wir was glauben wollen. Aber es gibt andere Kriterien, die wir beiziehen können.

Menschliches Leben ist ohne Kooperation nicht möglich. Für unser durchschnittliches Leben – bei dem wir im Supermarkt Nahrungsmittel einkaufen, die andere für uns bereitgestellt haben, und dann gut genährt unsere Arbeitskraft irgendwo zur Verfügung stellen, damit wir mit dem verdienten Geld wieder im Supermarkt einkaufen können – dürfte dies ohne weiteres einleuchten. Aber auch wenn jemand versucht, „autark“ zu leben, sein eigenes Gemüse anbaut und sich davon ernährt, wird er dabei Werkzeuge wie Spaten oder Messer einsetzen, die andere für ihn angefertigt haben und für die wieder andere das benötigte Metall aus der Erde geholt haben. Allenfalls auf dem Niveau der Steinzeit wäre ein „autarkes“ Leben noch denkbar – sofern man die richtigen Steine in der Nähe hat und sie nicht bei anderen Steinzeitmenschen eintauschen muss. Aber in unserer Zeit ist auch ein einfaches Leben ohne Austausch und Kooperation mit anderen Menschen nicht denkbar.

Absturz einer Marssonde

1999 stürzte der Mars Climate Orbiter beim Eintritt in eine Umlaufbahn um den Mars ab.[1] Eine Untersuchungskommission fand schnell den Grund dafür: Die NASA verwendete als Masseinheiten Meter und Kilogramm und gab Steuerbefehle an die Sonde auch in diesen Einheiten durch. Die Navigationssoftware des Herstellers Lockheed Martin rechnete dagegen in Fuss und Pfund, „verstand“ die Anweisungen daher völlig falsch und bremste die Sonde viel zu stark ab.

Das internationale Einheitensystem (Meter, Gramm) und das sog. Imperiale System (feet, pound) sind im Prinzip gleich nützlich, man kann also das eine oder das andere verwenden. Will man aber zusammenarbeiten, ist zwingend, dass man sich auf eines der beiden einigt (oder zumindest für die notwendigen Umrechnungen sorgt).

Was die kleine Fallstudie zeigen will, ist eigentlich trivial: Zu einem bestimmten Thema kann es gut unterschiedliche, gleichwertige Denkwerkzeuge geben. Diejenigen, die in Meter und Gramm denken und rechnen, kommen in ihrem Teil der Welt genauso gut zurecht, wie die Leute in den USA mit Hilfe von feet und pound. Auch Flach-Erde-Theoretiker können in ihren Foren und auf ihren Tagungen sehr gut miteinander diskutieren. Schwierigkeiten bekommen sie erst, wenn sie bei der NASA mitarbeiten wollen. Das Denkwerkzeug der NASA ist ganz klar die Rund-Erde-Theorie und wer dort mitarbeiten will, muss sich dessen bedienen. Genauso wie alle, die in einer bestimmten Zeitzone wohnen, am besten die dort gültige Zeit verwenden, wenn sie nicht ständig Koordinationsprobleme haben wollen.

Wir können schon gegen den Strom schwimmen und in einer beliebigen privaten Gedankenwelt leben. Etwa so, wie der Mann in einer von Peter Bichsels „Kindergeschichten“[2]: Er beschliesst, sein Bett „Bild“ zu nennen und den Stuhl „Wecker“. Und auch die anderen Gegenstände in seinem Zimmer tauft er systematisch um. Von nun an verlässt er am Morgen das Bild und setzt sich an den Teppich auf den Wecker. Der Mann zieht das konsequent durch, bis er am Schluss völlig vereinsamt und mit niemandem mehr sprechen kann. „Aber eine lustige Geschichte ist das nicht“, wie Peter Bichsel trocken anmerkt.

Leben können wir nur in Kooperation. Und Kooperation setzt voraus, dass wir uns auf gemeinsame Denkwerkzeuge einigen.

Entscheiden wir uns für den Gebrauch eines bestimmten Denkwerkzeugs, übernehmen wir die Verantwortung für das Gelingen oder allenfalls auch das Misslingen einer Kooperation. Für mich war es deshalb im Zusammenhang mit COVID-19 relativ einfach, mich zu entscheiden, ob ich mich impfen lasse oder nicht. In den ersten Monaten war zwar nicht ganz klar, welches der beiden folgenden Denkwerkzeuge für mein persönliches Wohlbefinden das bessere ist: „Impfen verhindert schwere Krankheitsverläufe und dämpft das Infektionsgeschehen“ oder „Die Nebenwirkungen und Langzeitwirkungen der Impfung sind noch viel zu wenig bekannt, sodass man das Risiko nicht eingehen sollte“. Aber ich kam zum Schluss, dass eine Impfverweigerung sich störend auf die so notwendige Kooperation zur Bewältigung der Pandemie auswirken würde. Entsprechend liess ich mich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit impfen.

Wenn ich andere Menschen dazu anstifte, ein bestimmtes Denkwerkzeug zu nutzen, dann übernehme ich zudem auch die Verantwortung für das Gelingen oder Misslingen ihrer unter Umständen lebenswichtigen Kooperationen. Sollten Müllers später das Gespräch fortzusetzen versuchen (Impfgegner), um Meiers zu überzeugen, dass Impfen für die Kinder schlecht ist, dann riskieren sie, dass die Meiers einen neuen Kinderarzt suchen müssen und sich zudem in ihrem Bekanntenkreis isolieren. (Das kann natürlich auch Absicht sein, wenn Müllers etwa einer Sekte angehören und Meiers in diesen isolierten Kreis ziehen möchten.)

Wir sollten anderen nur dann ein Denkwerkzeug empfehlen, wenn wir sicher sind, dass die verbesserte Qualität des Werkzeugs die dadurch verursachte Störung der Kooperation in ihrem Umfeld überwiegt.

(Ein weiteres Fallbeispiel zur Frage der Kooperation beim Einsatz von Denkwerkzeugen: Lehrerweiterbildung)

Da Denkwerkzeuge immer in einem kooperativen Zusammenhang eingesetzt werden, haben es übrigens neue Denkwerkzeuge oft schwer, sich durchzusetzen, auch wenn sie deutlich nützlicher wären. Ihnen geht es wie dem Layout der Schreibmaschinentastatur: Die sogenannte QWERTY Anordnung der Buchstaben auf der Tastatur wurde geschaffen, damit sich die Typenhebel der alten mechanischen Schreibmaschinen möglichst selten gegenseitig in die Quere kommen. Buchstaben, die häufig hintereinander getippt werden, liegen daher weit auseinander. Die heutigen elektronischen Tastaturen kennen dieses Problem nicht mehr, sodass es möglich wäre, andere Layouts einzuführen, die die vielleicht ein schnelleres und flüssigeres Schreiben ermöglichen würden. QWERTY ist aber so verbreitet und vertraut, dass alternative Layouts bisher keine Chance hatten.

Weiter lesen >> Nützlichkeit


[1] Vgl. auf: Holt, N. (2016). Rise of the Rocket Girls. New York: Little, Brown and Company.

[2] Bichsel, Peter (1969) Kindergeschichten. Neuwied: Luchterhand

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert