Den eigenen Erfahrungen trauen?

Beschränkte Erfahrungsbasis

Ich weiss nicht, wie es bei Ihnen ist, aber in meinem Umfeld war bis zum Moment, wo ich diesen Abschnitt entworfen habe, nur eine einzige Person an Covid-19 erkrankt und das auch nicht schwer – nach bald zwei Jahren Pandemie. Ist das ganze mediale Geschrei wegen Überlastung des Gesundheitssystems etc. da nicht ein bisschen übertrieben?

Eine kleine Rechnung zeigt, dass meine Erfahrung und die Berichte über die angespannte Lage sich nicht widersprechen. Bis zu jenem Moment mussten laut offiziellen Angaben in der Schweiz rund 35‘000 Personen wegen Covid-19 in Spital. Wenn die 35‘000 hospitalisierten Personen im Schnitt etwa zwei Wochen im Spital blieben, dann macht das pro Jahr rund 250‘000 zusätzliche Spitaltage; eine Zusatzbelastung, die sicher nicht einfach wegzustecken ist.

Aber in der Schweiz leben rund 8.6 Millionen Menschen. Das bedeutet, dass pro 1‘000 Menschen bis zu jenem Zeitpunkt nur etwa 4 im Spital behandelt werden mussten. Wenn ich zu meinem Umfeld etwa 100 Personen rechne, dann sind das aus diesem Umfeld rein rechnerisch nur 0.4 Personen. Also kein Wunder, dass ich niemanden kenne.

Diese kleine Überlegung illustriert, dass es für uns typischerweise schwierig ist, einzuschätzen, wie oft etwas überhaupt vorkommt. Wenn niemand in unserer Umgebung wegen Covid-19 ins Spital muss, könnten wir annehmen, dass das gar nie vorkommt – was sicher falsch ist. Umgekehrt könnte es der Zufall wollen, dass von den 100 Personen, die wir näher kennen, zehn hospitalisiert wurden. Würden wir daraus schliessen, dass bisher jede zehnte Person in der Schweiz, also etwa 860‘000 wegen Covid-19 im Spital waren, so wäre das auch falsch. Um in solchen Fällen auf verlässliche Werte zu kommen, genügen unsere eigenen Beobachtungen nicht. Erst wenn wir die Beobachtungen vieler Personen zusammentragen, erhalten wir ein aussagekräftiges Bild.

Das bedeutet aber auch, dass wir von den Fällen, die wir selbst beobachten, nie wissen, ob sie typisch sind oder nicht. Wie gesagt ist in meinem Umfeld bis zu jenem Zeitpunkt nur eine Person überhaupt an Covid-19 erkrankt, und bei dieser Person war der Verlauf unproblematisch. Daraus könnte ich schliessen, dass Covid-19 Erkrankungen kein Problem darstellen. Schaut man sich die Zahlen an, die gesamtschweizerisch zusammengetragen wurden, sieht die Situation etwas anders aus: Bis zu jenem Zeitpunkt wurden knapp eine Million Covid-19 Fälle gemeldet, d.h. von 1‘000 Erkrankten mussten ca. 35 ins Spital eingeliefert werden. Bei der normalen Grippe hingegen landet von 1‘000 Personen, welche wegen Grippe einen Arzt oder eine Ärztin konsultieren, nur eine einzige in Spital. Mein Eindruck – basierend auf dem einzigen Fall in meinem Umfeld – ist also falsch. So ganz harmlos ist Covid-19 nicht.

Dasselbe gilt für Vieles, was wir anhand von ein paar Beispielen in unserem Umfeld beobachten. Vielleicht kommen wir auf Grund von Beobachtungen in unserem Umfeld zum Schluss, dass Kleinkinder spätestens im Alter von drei Jahren ohne Windeln auskommen sollten. Dabei zeigen umfangreiche Erhebungen, dass viele Kinder erst mit vier oder fünf Jahren auch in der Nacht trocken sind. Und wie jede erfahrene Kinderärztin oder jeder Entwicklungspsychologe bestätigen kann, ist das auch kein Problem. Oder vielleicht sind wir auf Grund der Beobachtungen an uns selbst der Meinung, dass alle Menschen in der Lage sein sollten, Rechtschreibung zu beherrschen, wenn sie sich nur Mühe geben würden. Dabei ist bekannt, dass etwa einer von zehn Personen das nie gelingen wird. Und wenn es den Müllers gelungen ist, ihre drei Kinder gut durch die verschiedenen Kinderkrankheiten zu begleiten, heisst das zwar, dass dies offenbar möglich ist, aber es bleibt unklar, in wie viel Fällen das im Schnitt gelingt.

Islamismus in der Schweiz

In den Medien war immer wieder von Predigern in schweizerischen Moscheen die Rede, die einen ultrakonservativen Islam vertreten, Hass auf „Ungläubige“ verbreiten und gar zum Heiligen Krieg aufrufen. [1],[2],[3] An einer Stelle hiess es noch im Sommer 2021: „Im Kampf gegen islamistische Hetzer scheinen die Schweizer Moscheen hilflos“.[4] Das hat bei mir das Gefühl hinterlassen, dass der Islamismus in der Schweiz eine echte Gefahr darstellt und niemand so recht weiss, wie man dagegen vorgehen soll. Allerdings war ich mir auch bewusst, dass die Medienberichte nur Momentaufnahmen sind und es schwierig ist, daraus ein verlässliches Bild abzuleiten.

Eine Studie[5] hat nun (2022) die Verhältnisse in sieben Moscheen genauer untersucht. Die Autor:innen der Studie fanden, dass es zwar „ausländische Akteure und internationale Organisationen [gibt], die Einfluss nehmen in Schweizer Moscheegemeinden und die ihre Vorstellungen eines ultrakonservativen oder politischen Islams verbreiten wollen.“ [6] Dieser Einfluss hat aber in den letzten Jahren abgenommen. In der Studie wird das einerseits zurückgeführt auf die Wirkung einer kritischen Öffentlichkeit, auf die Medien, die problematische Entwicklungen publik machen. „Andererseits gab es einen Generationenwechsel. Junge, gut gebildete Musliminnen und Muslime besuchen die Moscheen. Sie wehren sich oft gegen zu viel Einflussnahme aus dem Ausland oder Predigten, die mit ihrer Lebensrealität wenig zu tun haben.“

Für vieles ist unsere Erfahrungsbasis zu schmal – einige wenige Fälle – als dass wir daraus Schlüsse ziehen könnten. In der Regel ist es besser, den Expert:innen zu glauben, welche Daten von tausenden oder noch mehr Fällen verarbeitet haben. Ausserhalb der oben geschilderten Grenzen unserer Wahrnehmung ist ihre Einschätzung verlässlicher.

Die Einschätzung anerkannter Expert:innen ist in der Regel brauchbarer als unsere eigene, auf unseren eigenen Erfahrungen basierende, da ihre Erfahrungsbasis deutlich breiter ist.

Diese Empfehlung gilt natürlich auch gegenüber dem, was wir von Freunden, Bekannten, mehr oder weniger anonymen Kommentatoren im Internet hören. Sind sie nicht Expert:innen für das jeweilige Denkwerkzeug, dann ist auch ihre Erfahrungsbasis in der Regel nicht breiter als unsere eigene und damit nur bedingt verlässlich.

Bestätigungstendenz

Aber auch wenn wir in einem Fall über eine genügend grosse und verlässliche Erfahrungsbasis verfügen, besteht die Gefahr, dass wir unseren eigenen Schlussfolgerungen nicht trauen können. Wir haben nämlich alle – wirklich alle, Sie und ich! – die Tendenz, vor allem Dinge zur Kenntnis zu nehmen, die zu unserer bereits vorgefassten Meinung passen. Wenn wir bspw. der Meinung sind, dass Leute aus Afrika deutlich lauter reden als wir Schweizer, dann fällt uns natürlich sofort jede Gruppe dunkelhäutiger Personen auf, die sich überdurchschnittlich laut unterhält. All die anderen, die leise miteinander redend an uns vorbeigehen, übersehen wir.

In der Psychologie wird diese Tendenz, nur wahrzunehmen, was zum eigenen Weltbild passt, „confirmation bias“ genannt und ist gut dokumentiert. Es ist sehr schwierig dieser Tendenz zu entkommen. So könnte es auch den Müllers passieren, dass sie in ihrem Umfeld nur die Fälle wahrnehmen, bei denen ein ungeimpftes Kind problemlos durch eine Krankheit kommt und Komplikationen bei anderen Kindern übersehen. Zudem könnte es sein, dass ihnen „Entwicklungsstörungen“ nur bei Kindern auffallen, die geimpft sind.

Um diesem Problem zu entgehen, zeichnen Forscher:innen – Expert:innen für die Auswertung von Erfahrungen – ihre Beobachtungen sehr sorgfältig auf und sorgen durch ein systematisches Vorgehen dafür, dass alle gleichwertig in die Auswertung einfliessen.

Wenn wir aus unseren eigenen Erfahrungen Schlüsse ziehen wollen, dann müssen wir diese Erfahrungen sehr systematisch festhalten und sorgfältig auswerten, da wir sonst die Tendenz haben, einfach nur unsere vorgefasste Meinung zu stützen.

Weiter lesen >> Den eigenen Erinnerungen trauen?


[1] https://www.srf.ch/news/regional/zuerich-schaffhausen/zu-gewalt-aufgerufen-der-hassprediger-von-winterthur-ist-ausgeschafft-worden

[2] https://www.bernerzeitung.ch/bieler-prediger-abu-ramadan-angeklagt-871406864422

[3] https://www.tagesanzeiger.ch/panorama/werden-in-genf-junge-jihadisten-ausgebildet/story/29129645

[4] https://www.bluewin.ch/de/news/schweiz/wer-muss-gegen-hassprediger-vorgehen-822969.html

[5] https://folia.unifr.ch/unifr/documents/313356

[6] https://www.srf.ch/news/schweiz/netzwerk-von-islamisten-wie-viel-einfluss-haben-islamisten-und-wahabiten-in-der-schweiz