Heuristisches Potenzial

Nehmen wir einmal an, es würde gelingen, die Flach-Erde-Theorie so auszubauen, dass sie für unser Leben hier auf der Erde gleich nützlich wäre wie die Rund-Erde-Theorie. Egal welche der beiden Denkwerkzeuge wir verwenden würden, könnten wir uns dann orientieren, Strassen und Brücken bauen, effizient von Ort zu Ort fliegen etc. Es gäbe dann keinen Grund, sich für die eine oder andere der beiden Theorien zu entscheiden. Alle könnten mit der Theorie arbeiten, die ihnen besser zusagt.

Distanzen auf der flachen Erde

Zu einer groben Orientierung eignet sich die Weltkarte, wie sie Anhänger:innen der Flach-Erde-Theorie bevorzugen, ganz gut (Abbildung 1).

Abbildung 1: Eine Weltkarte der flachen Erde mit der Antarktis als Eisring rundherum

Afrika ist randwärts von Europa (Rund-Erde-Theorie:  südwärts) und wenn man von den USA immer im Uhrzeigersinn (westwärts) segelt, landet man irgendwann einmal in der Nähe von Japan. Schwieriger wird es, wenn man Distanzen vergleichen möchte. In Abbildung 1 ist die Distanz zwischen Sydney und Perth in Australien etwa gleich gross wie zwischen Lissabon und Irkutsk auf dem eurasischen Kontinent. Beide Strecken lassen sich auf dem Landweg mehr oder weniger gut vermessen und die Distanzen betragen ca. 3‘300 km für Sydney-Perth und ca. 8‘000 km für Lissabon-Irkutsk. Karte und messbare Distanzen sind also nicht konsistent, aus der Karte kann man nicht ableiten, welche Distanzen man messen wird und aus den gemessenen Distanzen kann man nicht ableiten, wie die Karte zu zeichnen ist. Will man diese Flach-Erde-Karte nutzen, dann muss man diese Inkonsistenz auflösen. Dasselbe Problem ergibt sich selbstverständlich für alle Ost-West-Distanzen. Je weiter südlich, d.h. randwärts, man auf der Karte gelangt, umso mehr sind die Distanzen gegenüber vergleichbaren Distanzen in der Nähe des Nordpols gestreckt.

Interessanterweise finde ich bei der Flat Earth Society keine Vorschläge zur Lösung dieses Problems, obwohl sie in Foren auf ihrer Website immer wieder einmal angesprochen wird. Ich versuche mich daher einmal selbst an möglichen Antworten. Als ersten Versuch könnte man die Inkonsistenz beseitigen, indem man annimmt, dass Australien in Abbildung 1 etwa 2.5 mal zu lang dargestellt ist und den Kontinent auf der Karte entsprechend stauchen. Australien würde dann so aussehen, wie wir uns das von den konventionellen Landkarten gewohnt sind. Allerdings kann man sich ja auch zwischen den Landmassen bewegen, bspw. fliegen. Auf der Karte ist der Abstand zwischen Sydney und Auckland etwa gleich gross wie der Abstand zwischen Lissabon und Teheran, die entsprechenden Flugzeiten sind ca. 3 Stunden bzw. 7 Stunden. Eine einseitige Anpassung der Distanzen innerhalb der Landmassen löst das Problem also nicht. Es kann nur gelöst werden, indem man alle Ost-West-Distanzen verkürzt – und zwar umso stärker, je weiter weg vom Nordpol man sich befindet.

Selbstverständlich kann es im Rahmen der Flach-Erde-Theorie nicht sein, dass die Distanzen tatsächlich entsprechend kürzer sind, als sie in Abbildung 1 erscheinen. Dies würde die Scheibe verbiegen und zu einer Kugel zusammenziehen und wir wären wieder bei der Rund-Erde-Theorie. Aber es könnte sein, dass die Distanzen nur jedem, der sie zu messen versucht, verkürzt erscheinen. Das würde bedingen, dass ein in Ost-West-Richtung ausgestrecktes Metermass in Australien rund 2.5-mal so lang wäre wie dasselbe Metermass in der Mitte von Europa eingesetzt – ohne dass die Messenden etwas davon bemerken. Wenn wir bereit sind, die gesamte Physik radikal neu zu denken, können wir natürlich auch so etwas annehmen. Die Allgemeine Relativitätstheorie der Rund-Erde-Physik geht ebenfalls davon da aus, dass Längenmessungen relativ zu Eigenschaften der Messenden sind. Bei der Allgemeinen Relativitätstheorie hängt die gemessene Länge eines Objekts von der Geschwindigkeit der Messenden relativ zum Objekt ab. Hier würde sie von der Position der Messenden relativ zum Nordpol abhängen.

Das Interessante an diesem Konzept der Wachsenden Messbänder wäre, dass es eine prüfbare Aussage über den Rand der Scheibe ermöglicht. Die Flat Earth Society weicht der Frage, was denn am Rande der Scheibe passiert, im Prinzip dadurch aus, dass sie ihn an eine Stelle legt, an der selten jemand vorbeikommt und von der daher wenig bis nichts bekannt ist. Gerüchteweise soll es ganz aussen einen hohen Eiswall geben, den niemand überwinden kann, so dass auch noch nie jemand über den Rand hinaus blicken konnte.

Verfolgt man hingegen die oben entwickelte Idee der Wachsenden Messbänder konsequent bis zum Rand bzw. Südpol weiter, wird die Länge der verwendeten Messbänder immer länger und länger. Und mit diesen gemessen schrumpft die Länge des Randes auf einen Punkt. Will man den Rand, d.h. diesen Punkt treffen, muss man sich daher dem Rand perfekt im rechten Winkel nähern. Stimmt der Winkel nur minimal nicht, verfehlt man den Punkt und biegt vor dem Rand ab, zurück auf die Scheibe. Vielleicht ist einfach darum noch nicht bekannt, was am Rand geschieht, weil noch nie jemand versucht hat, so perfekt genau über den Südpol zu gehen.

Die Flach-Erde-Theorie ergänzt um das Konzept der Wachsenden Messbänder führt also zu einer interessanten Vermutung bezüglich des Randes der Scheibe. Abenteuerlustige könnten daher der Flach-Erde-Theorie den Vorzug gegenüber der Rund-Erde-Theorie geben und gestützt auf sie versuchen, wirklich haargenau rechtwinklig den Rand anzupeilen und zu sehen, was passiert, wenn sie ihn überschreiten. Vermutlich wär es sinnvoll, die mutige Forscherin dabei zumindest mit einem Seil zu sichern, so dass man sie zurückziehen kann, wenn sie bei diesem Versuch plötzlich verschwindet.

Die Idee zu diesem Versuch kann man als das heuristische Potenzial der so ausgebauten Flach-Erde-Theorie sehen. Sie wird dadurch gegenüber alternativen, bisher gleich nützlichen Theorien interessanter, da sie auf mögliche neue Entwicklungen hinweist.

Das heuristische Potenzial der Rund-Erde-Theorie hat bereits Newton zu nutzen begonnen. Die Rund-Erde-Theorie geht ja nicht nur davon aus, dass die Erde eine Kugel ist, sondern dass sie sich durch das Weltall bewegt wie andere Himmelskörper auch. Das legt die Vermutung nahe, dass die auf der Erde beobachtbaren und nutzbaren physikalischen Gesetzte nicht nur hier gelten, sondern überall. Das hat Newton dazu veranlasst, anzunehmen, dass genau gleich, wie der Apfel vom Baum fällt, der Mond rund um die Erde fällt. Auf dieser Basis gelang es ihm, die Bahnen der Planeten um die Sonne mit ausserordentlich grosser Präzision vorherzusagen.

Wenn es darum geht, Vermutungen aufzustellen, was ausserhalb der Erde im Weltall geschieht, ist das heuristische Potenzial der Rund-Erde-Theorie gewaltig viel grösser[1] als das der Flach-Erde-Theorie, denn die Flach-Erde-Theorie muss ja annehmen, dass für die Bewegungen der Sonne andere Gesetzmässigkeiten gelten als für die Bewegungen eines Apfels auf der Erde. Natürlich weiss niemand, ob auf dem Planeten Uranus ein Apfel auf dieselbe Art und Weise zu Boden fallen würde, wie auf der Erde. Aber die Annahme, dass es so ist, hat Theorien ermöglicht, die sehr gut mit den von der Erde aus beobachtbaren Phänomene übereinstimmen.

Müssen/wollen wir uns zwischen zwei im praktischen Einsatz ähnlich nützlichen Denkwerkzeugen entscheiden, kann es spannend sein, dasjenige zu wählen, dessen heuristisches Potenzial vielversprechender erscheint.

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[1] Für Newton war dieses Potenzial so gross und verlockend, dass er die Rund-Erde-Theorie nutzte, obwohl es noch 400 (!) Jahre dauerte, bis sie wirklich mit den bekannten Daten in Übereinstimmung gebracht werden konnte.