Corona Experte

Der Anteil der Variante wird grösser – und es passiert nichts

Bericht auf SRF im Februar 2021[1]:

Die Corona-Fallzahlen sinken in der Schweiz seit Wochen, doch die Anzahl der mutierten Varianten nimmt stetig zu. In Deutschland wurden deswegen gerade die Massnahmen verlängert, in der Schweiz sind Lockerungen per Ende Februar wenig wahrscheinlich. Dabei wird immer wieder auf Modelle verwiesen, nach denen mit den Varianten die Fallzahlen wieder steigen würden. Doch der renommierte deutsche Forscher Klaus Stöhr widerspricht: Dafür gebe es bis jetzt keine Anzeichen.

SRF News: Die Angst vor Corona-Mutationen ist gross und bestimmt in Deutschland wie der Schweiz die Strategie zur Bekämpfung des Coronavirus. Sie beobachten die internationale Entwicklung sehr genau, ist die Angst übertrieben?

Klaus Stöhr: In England haben Epidemiologen und Labortechniker zunächst beobachtet, dass die neue Variante ansteckender ist. Da war die Sorge natürlich gross und berechtigt. Interessanterweise gibt es jedoch keine höheren krankmachenden Eigenschaften, keine höhere Sterblichkeit und auch keine Veränderung in der Altersstruktur der Erkrankten. Das haben inzwischen epidemiologische Untersuchungen ergeben.

In Grossbritannien und Irland war die Furcht vor der Variante besonders gross, die Situation schien schlimmer zu werden?

In Irland hatte man zum Ende des letzten Jahres einen dramatischen Anstieg der Gesamtfälle beobachtet. Dieser wurde von den irischen Gesundheitsbehörden eindeutig auf das veränderte soziale Verhalten der Iren zurückgeführt und hatte nur am Rande mit der Variante zu tun. Erst in den letzten Tagen vor dem Peak ist die Variante vermehrt beobachtet worden, da waren rund 20 Prozent der Variante zuzuordnen. Interessanterweise sind danach die Fälle um 80 Prozent gesunken, gleichzeitig hat sich der Anteil der Variante auf fast 50 Prozent erhöht. Das bedeutet: Die Bekämpfung durch Massnahmen hat funktioniert, trotz der signifikanten Zunahme der Variante.

In Grossbritannien war zum Höhepunkt die Variante bereits für viele Fälle verantwortlich. Doch auch hier sind die Fallzahlen in den letzten Wochen nun um zwei Drittel eingebrochen, obwohl die Variante anteilsmässig noch mehr zugenommen und fast hundert Prozent erreicht hat.

In der Schweiz hatten und haben wir keinen so starken Lockdown wie in Irland und Grossbritannien, was ist hier zu beobachten?

Die Schweiz ist mit Dänemark vergleichbar, was Massnahmen und Fallzahlen angeht. Wir sehen bei beiden Ländern einen linearen Rückgang. Gleichzeitig nehmen auch hier die Varianten sukzessive zu.

Eigentlich wäre es ja logisch, dass nun die Fallzahlen wieder ansteigen, die Variante ist schliesslich ansteckender?

Der Denkansatz ist falsch, dass Mutationen, die im Labor und in den Modellrechnungen ansteckender sind, dies auch in der realen Welt sein müssen. Varianten entstehen immer – und wenn nun die Modelle mit höherer Infektiosität nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, dann muss man das Modell ändern. Die im Labor beobachtete höhere Ansteckung wirkt sich in der realen Bekämpfung offenbar nicht negativ aus.

Die Modelle, die auch hierzulande gerne zur Illustration gezeigt werden, sind also falsch?

Modelle sind nur so gut wie die Datengrundlage. Und wenn diese unklar ist, können die Modelle auch falsch liegen. Nun haben wir genug empirische Daten gesammelt, wenn man sich die Trends in verschiedenen Ländern anschaut, dass man die Modelle nun ganz schnell überdenken sollte.

Die Länder haben unterschiedliche Massnahmen, wie wirkt sich das denn konkret aus?

Es gibt Länder, die nach einem schlimmen Peak harte Massnahmen ergriffen haben, wie England und Irland, und die Massnahmen haben gewirkt, trotz Varianten. In Ländern wie der Schweiz, Deutschland oder Dänemark hat es in den letzten Wochen keine grossen Änderungen in der Bekämpfungsstrategie gegeben, und die Fallzahlen sinken entsprechend weniger ab. Gleichzeitig wird der Anteil der Variante immer grösser – und es passiert nichts.

In Frankreich zum Beispiel sind die Massnahmen weniger streng, die Varianten nehmen signifikant zu und die Fallzahlen nur leicht. Auch hier: keinen Einfluss.

Was müsste denn jetzt in Ländern wie Deutschland und der Schweiz passieren?

Ich vertrete hier eine Einzelmeinung, insbesondere was Deutschland angeht. […]

Hätten wir damals diesem Experten glauben sollen? Unterdessen wissen wir ja, dass die sogenannte Delta-Variante, im Gegensatz zu seinen Überlegungen, sehr wohl hoch-ansteckend ist und zu neuen Wellen von Ansteckungen geführt hat. Aber hätten wir ihm damals glauben sollen?

Wie vorgeschlagen sollten wir uns dazu zuerst einmal fragen: Wozu brauchen wir das hier besprochene Denkwerkzeug und hat der Experte es im Hinblick auf diesen Zweck entwickelt?

Eigenes Interesse/Verwendungszweck: Vermutlich hatten Sie gar keinen bestimmten Zweck verbunden mit Covid-19 im Sinn, als sie begannen, den Text oben zu lesen. Bei mir war das etwas anders. Seit die Pandemie ausgebrochen ist, lese ich vieles zum Thema. Ich wollte mir ein Bild davon machen, wie es in nächster Zeit weitergehen könnte. Ein Sohn und seine Familie leben in Deutschland, ich lebe in der Schweiz, und da stellte sich immer wieder die Frage, ob und wann gegenseitige Besuche möglich sein werden.

Interesse/Verwendungszweck des Experten: Lassen wir einmal die Interessen des Journalisten weg, durch die die Darstellung selbstverständlich gefiltert wird. Nehmen wir an, wir könnten durch das, was gesagt wird, direkt auf die Interessen des Experten schliessen. Auch er möchte vorhersagen, wie sich die Situation weiter entwickelt. Damit decken sich sein und mein Interesse. (Darüber hinaus möchte er aber auch noch, dass sich seine Meinung durchsetzt. Dieses zweite Interesse verleitet ihn vielleicht dazu, die Situation eindeutiger darzustellen, als sie ihm erscheint.)

Empfehlung: Der Journalist empfiehlt uns den Experten, indem er schreibt: „der renommierte deutsche Forscher Klaus Stöhr“. Da ich SRF selbst für eine verlässliche Quelle halte, nehme ich einmal an, dass der Journalist das nicht so leichthin sagt und bin bereit, dem Experten eine gewisse Kompetenz zuzusprechen. Einmal kurz googeln zeigt zudem, dass Klaus Stöhr von allen möglichen Medien ständig zum Thema Covid-19 befragt wird; eine starke Empfehlung.

Breite Erfahrung: Wenn mir die Empfehlung noch nicht reicht, kann ich versuchen, weitere Informationen einzuholen. Auf Wikipedia finde ich: „Während seiner 15-jährigen Tätigkeit für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) war er [Klaus Stöhr] u. a. Leiter des Globalen Influenza-Programms und SARS-Forschungskoordinator. Von 2007 bis Ende 2017 arbeitete er in der Impfstoffentwicklung und weiteren Funktionen bei Novartis.“ Mit Viren und deren Bekämpfung hat er also offensichtlich ausführlich Erfahrungen gesammelt. Es folgt weiter unten: Bei der WHO „war er u. a. verantwortlich für die jährliche Festlegung der Impfstämme für die weltweite Influenzaimpfstoffproduktion und für die Pandemieplanung.“ Er hat also genau mit der Anwendung von Denkwerkzeugen, von denen er spricht – Modelle zu Prognose des Verlaufs von Pandemien – breite, praktische Erfahrung gemacht.

Mehrere Expert:innen: Ehrlicherweise sagt er: „Ich vertrete hier eine Einzelmeinung.“ (Laut Wikipedia arbeitet er seit 2018 „als freier Berater“). Dies ist ihm hoch anzurechnen, schwächt aber seine Position. Seiner Einzelmeinung gegenüber stehen Prognosemodelle, die von ganzen Gruppen von Forschenden entwickelt wurden, hinter denen also viele – und ich nehme nun einmal an ebenso erfahrene – Forschende stehen. Das macht mich eher skeptisch. Selbstverständlich können sich 99 Experten irren und ein einziger dagegen Recht haben. Aber wahrscheinlich ist das nicht.

Seine Argumentation mit den Fallzahlen in den verschiedenen Ländern ist für mich als Laie leider nicht hilfreich. Ich verstehe, dass nach seiner Meinung die im Labor beobachtete höhere Ansteckungsrate der Delta-Variante nicht unbedingt heissen muss, dass sie auch im Alltag ansteckender ist, und dass er in den erwähnten Ländern keine höhere Ansteckung beobachtet. Aber ob das stichhaltig ist, kann ich nicht beurteilen.

Meine Schlussfolgerung war daher damals: Ich sah keinen Grund, Klaus Stöhr zu folgen und zu erwarten, dass sich die Delta-Variante nicht doch noch negativ bemerkbar machen wird. Ich nahm aber seinen Widerspruch gegenüber den Mehrheitsmodellen als Hinweis, dass es vermutlich noch mehr Daten und einige Zeit braucht, bis Klarheit herrscht. Da ich in jenem Moment nicht handeln musste (bspw. eine Reise nach Deutschland planen), konnte ich gut mit einem „Unentschieden“ zwischen den Prognosen zwei verschiedener Denkwerkzeuge (Stöhrs und das der Mehrheit der Experten) leben und abwarten, wie sich die Situation entwickeln würde.

[Expert:innen]


[1] https://www.srf.ch/news/international/coronavirus-der-anteil-der-variante-wird-groesser-und-es-passiert-nichts, 11.2.2021, 17:13 Uhr, das Gespräch führte Matthias Schmid.