Wahrheit?

Wenn wir uns überlegen, ob wir etwas glauben sollen, stellen wir uns typischerweise die Frage: „Ja ist es denn wahr?“. (Ist es wahr, dass mit Masern im Bett zu liegen eine wichtige Erfahrung ist? Ist es wahr, dass es Wiedergeborene gib?). Wahrheit ist aber ein sehr problematischer Begriff. Ich möchte das gern einmal spielerisch an einem Beispiel illustrieren. Wie wäre es mit: Ist die Erde wirklich eine Kugel oder doch eher eine Scheibe?

Ich hoffe, diese Frage berührt Sie nicht wirklich emotional, so dass Sie das Folgende in Ruhe lesen können. Sollten Sie hingegen eine glühende Verfechterin oder ein glühender Verfechter der Flach-Erde-Theorie sein, dann ist das hier leider kaum der optimale Einstieg für Sie. Lesen Sie trotzdem weiter. Ich verspreche, fair mit der Flach-Erde-Theorie umzugehen.

Das Beispiel ist etwas länger, als alle anderen. Das kommt daher, dass wir etwas Zeit brauchen, um in die Thematik einzutauchen. Bitte nehmen Sie sich diese Zeit, denn ich versuche damit einen ganz zentralen Punkt zu illustrieren.

Und wenn die Erde eine ebene Scheibe wäre?

Nehmen wir an, ein Bekannter eröffnet mir eines Tages: „Ich habe mich informiert; die Erde ist keine Kugel, sondern in Wirklichkeit eine ebene Scheibe.“ Meine erste Reaktion darauf wäre wohl relativ entspannt: „Wenn du meinst.“ Mit dem Bild der Erde als flache Scheibe kann man ganz gut leben und sogar arbeiten. Wenn wir ein Einfamilienhaus planen, können wir die Erde im relevanten Umfeld problemlos als flache Scheibe behandeln. Auch den Plan einer kleineren Stadt können wir ohne Schwierigkeiten unter dieser Annahme erstellen und benutzen.

Mein Bekannter meint seine Aussage aber als Herausforderung, die über eine solch lokale Betrachtung hinausgeht und die ganze Erde im Blickfeld hat. Eine so verstandene Flach-Erde-Theorie muss ein paar Fragen beantworten können, wie bspw.: Wie kommen Tag und Nacht zustande?

Die alten Ägypter, für die die Erde eine Scheibe war, konnten sich noch vorstellen, dass am Abend die Sonne im Westen unter die Scheibe taucht, während der Nacht durch die Unterwelt in den Osten wandert und dann dort wieder von unten hervorkommt. Die uns heute bekannte Welt ist aber viel grösser als die der alten Ägypter und wir wissen, dass immer irgendwo die Sonne scheint, ja dass es zu jedem Zeitpunkt einen Ort auf der Welt gibt, über dem die Sonne genau im Zenit steht. Die Sonne taucht also nie unter die Erdoberfläche und kommt ihr auch nie nahe. (Vgl. Die Sonne über der flachen Erde)

Damit braucht die Flach-Erde-Theorie heute eine andere Erklärung für Sonnenuntergänge, als sie den alten Ägyptern zur Verfügung stand. Eine Möglichkeit wäre, dass die Sonne wie ein Scheinwerfer nur einen begrenzten Ausschnitt der Erde beleuchtet. Dort, wo dieser Scheinwerfer nicht hinreicht, wäre dann Nacht.

Allerdings löst diese Annahme das Problem nicht wirklich. Bei der Flach-Erde-Theorie befindet sich die Sonne immer deutlich über dem Horizont, also auch am Abend. Bei der Annahme eines begrenzten Lichtkegels würde sie daher am Abend nicht untergehen, sondern einfach etwa zwei Handbreit über dem Horizont verlöschen.

Interessanter als die Scheinwerfer-Annahme ist daher die Annahme, welche in der Flach-Erde-Theorie als elektromagnetische Beschleunigung bezeichnet wird. Nach diesem Modell werden Lichtstrahlen von der Erde weg nach oben gebogen, sodass das Sonnenlicht Orte, die zu weit weg vom aktuellen Standort der Sonne liegen, gar nicht mehr erreicht – wie Singapur in dem Moment, wo die Sonne über Quito steht. Bewegt man sich dem Äquator entlang von Quito ostwärts nach Singapur, dann kommt man nach halber Strecke bei Kisangani in der Demokratischen Republik Kongo vorbei. Dort kann man die Sonne gerade noch sehen, wie sie hinter dem Horizont zu verschwinden scheint.

Abbildung: Die Biegung des Sonnenlichts von der Erde weg entsprechend dem Modell der elektromagnetischen Beschleunigung[1]

Im Prinzip vertauscht man mit dieser Annahme gegenüber der Rund-Erde-Theorie die Charakteristika der Erdoberfläche und der Lichtstrahlen. Die Rund-Erde-Theorie geht davon aus, dass Lichtstrahlen gerade verlaufen. Als Folge davon muss man annehmen, dass die Erdoberfläche gebogen ist, um alle bekannten Phänomene erklären zu können. In der Flach-Erde-Theorie steht am Anfang die Annahme, dass die Erdoberfläche gerade ist und man muss dann in Form der „elektromagnetischen Beschleunigung“ annehmen, dass die Lichtstrahlen gekrümmt sind.

So lassen sich manche bekannte Phänomene durch eine Flach-Erde-Theorie erklären.[2] Bspw. erklärt sich so auch, warum die Leute in Kisangani in Abbildung oben die Sonne nicht von der Seite, sondern genauso von unten sehen, wie die Leute in Quito. Ebenso ergeben sich so die mit Winter und Sommer verbundenen Phänomene, wie bspw. die Polarnacht.

Allerdings sind damit noch bei weitem nicht alle Anpassungen der Theorien der Physik behandelt, die notwendig werden, wenn man die Flach-Erde-Theorie ernst nimmt.

Was ich mit den Überlegungen zur Flach-Erde-Theorie illustrieren möchte, ist Folgendes: Im Allgemeinen gibt es für ein bekanntes, kaum bestrittenes Phänomen (wie bspw. die Auf- und Untergänge der Sonne) nicht nur eine, sondern viele mögliche theoretische Erklärungen. Natürlich müsste man noch viel Arbeit investieren, um die Flach-Erde-Theorie und die dazu gehörende Physik so auszuarbeiten, dass sie ähnlich nützlich wäre, wie die viel besser ausgearbeitete Rund-Erde-Theorie. Aber grundsätzlich ist das nicht unmöglich. Die Grenzen alternativer theoretischer Erklärungen setzt nicht die „Realität“, sondern nur unsere Fantasie.

Machen wir es daher kurz: So etwas wie eine absolute Wahrheit gibt es nicht. Es ist nicht möglich, mit absoluter Sicherheit zu sagen, dass die Rund-Erde-Theorie – und nur sie – wahr ist. Das war übrigens damals auch die Haltung der kirchlichen Experten gegenüber Galileo. Sie störten sich nicht daran, dass er ein Modell vertrat, bei dem sich die Erde um die Sonne dreht. Den Nutzen eines solchen Modells – die Vereinfachung der notwendigen Mathematik zu Berechnung der Bahnen der Planeten – konnten auch sie sehen. Sie störten sich nur daran, dass Galileo stur behauptete, sein Modell sei die alleinige Wahrheit und diejenigen, die das nicht sehen, würden „es kaum verdienen, Menschen genannt zu werden“.[3]

Ähnlich geht es mir mit meiner Bekannten aus Fallbeispiel Wiedergeboren. Wenn sie sagt „Ich bin wiedergeboren“, dann ist meine erste Reaktion auch „Wenn du meinst“. Es könnte ja sein, dass das stimmt. Ich habe zwar nie etwas erlebt, das mir das Gefühl geben würde, ich hätte früher schon einmal gelebt. Aber die Vorstellung hat eine gewisse Anziehungskraft. Nur wenn es dann heisst „Ich weiss das“, dann geht es mir wie den Zeitgenossen von Galileo: Ich fühle mich und allfällige Bedenken, die ich haben könnte, nicht besonders ernst genommen.

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[1] Auf https://wiki.tfes.org/Electromagnetic_Acceleration gibt es eine ähnliche Graphik im Abschnitt Clouds Lit From Underside. Allerdings kommt es in Wirklichkeit nie vor, dass, wie dort dargestellt, die Sonne senkrecht über Brasilien steht und dabei gleichzeitig in Texas (TX) untergeht.

[2] Allerdings nicht ganz so einfach, wie hier skizziert, denn am 21. März geht die Sonne in Kisangani (und in jedem Ort auf den Äquator) genau im Osten unter. Beim Flach-Erde-Modell hat sie aber in dieser Zeit schon einen Viertelkreis um den Nordpol zurückgelegt und steht nicht mehr in gerader Linie im Osten. Um das zu kompensieren, müsste eine weitere Krümmung eingeführt werden.

[3] Koestler, A. (1959). Die Nachtwandler. Das Bild des Universums im Wandel der Zeit. Bern: Scherz.

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