Journalist:innen als Expert:innen

Neben den generellen Verzerrungen, die sich bei der Berichterstattung durch die Medien beobachten lässt und die zu berücksichtigen sind, stellt sich bei jedem einzelnen Bericht immer wieder neu die Frage, ob man diesem vertrauen kann. Dabei stellt sich diese Frage, je nachdem um welche Art von Meldung es geht, etwas anders. Ich möchte hier auf drei Fälle spezifisch eingehen:

  • Expert:innen melden sich selbst zu Wort
  • Interviews mit Expert:innen
  • Berichte über „Fakten“

Manchmal sind die Autor:innen eines Medien-Beitrags ganz klar Expert:innen für die dargestellten Denkwerkzeuge. Wenn Jimmy als erfahrener Bastler illustriert, wie er ein Brett ohne grosse Rechnerei in mehrere gleich breite Bahnen unterteilt, dann sehen wir hier einen Experten am Werk und können ihn danach beurteilen, wie wir jeden anderen Experten beurteilen würden. Wenn wir selbst vor der Aufgabe stehen, ein Brett in drei gleiche Teile zu zerlegen, dann decken sich seine und unsere Zielsetzung. Wie er im Video zeigt, kann er mit dem vorgeschlagenen Denkwerkzeug umgehen, hat also Erfahrung damit. Und die ganze Situation im Video mit seiner Werkstatt vermittelt den Eindruck, dass es nicht das erste Mal ist, dass er ein Brett in der Hand hat, dass seine Erfahrung also eine gewisse Breite hat. Selbstverständlich könnte das alles Show sein und Jimmy nur ein Schauspieler, bezahlt dafür, uns etwas vorzuführen. Bei Jimmy kann ich mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, wer hier ein verschleiertes Interesse haben könnte und bin deshalb bereit, das Bild, das das Video vermittelt, als zutreffend zu akzeptieren. Zudem können wir in diesem Fall leicht selbst überprüfen, ob das vorgestellte Denkwerkzeug seinen Zweck erfüllt.

Melden sich Expert:innen über die Medien direkt zum Wort, kann man sie wie alle anderen Expert:innen beurteilen.

Auch Luzia Tschirky, die Autorin des Textes im folgenden Fallbeispiel, ist eine Expertin. Sie berichtet für Radio und Fernsehen SRF aus Russland und den ehemaligen Gebieten der UdSSR, früher sporadisch, seit 2019 als offizielle Korrespondentin. Sie hat 2013 die Maidan-Proteste in Kiew vor Ort erlebt und wurde im Januar 2021 in Minsk auf offener Strasse verhaftet, später dann wieder freigelassen. Sie reist und beobachtet, führt Gespräche und berichtet darüber in Radio und Fernsehen, sie verfügt also definitiv über eine breite Anwendungserfahrung für bestimmte Denkwerkzeuge. Die Beurteilung, ob sie eine für uns nützliche Expertin ist, ob es uns etwas bringt, wenn wir ihre Einschätzung der Lage teilen, ist aber etwas weniger klar als im Fall von Jimmy. Dies beginnt schon mit der Frage, welches unser Verwendungszweck ist, d.h. wozu wir das Denkwerkzeug einsetzen wollen.

Strategie mit Explosionsgefahr[1]

Eine Analyse von Luzia Tschirky, 2.12.2021, 21:05 Uhr:

„Der russische Aussenminister Lawrow hat sich am Donnerstag unter klarem Auftrag des Kremls mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen Blinken in Stockholm getroffen. Für Russlands Regierung ungewöhnlich transparent, gab Wladimir Putin am Mittwoch im Vorfeld öffentlich bekannt, welche Forderung Moskau an Washington stellt.

Der Kreml wolle eine schriftliche Zusicherung, dass die Ukraine nicht der Nato beitrete. Damit hätte er persönlich klargestellt, weswegen er in den vergangenen Wochen wieder vermehrt Militärfahrzeuge, Waffen und Soldaten in das Grenzgebiet zur Ukraine auffahren hat lassen. Wie im Frühling, scheint Wladimir Putin den Eindruck erwecken zu wollen, ein offener Einmarsch russischer Truppen könne unmittelbar bevorstehen.

Mit Waffen zum Scheinriesen

Die Strategie Putins, sich Gespräche auf Augenhöhe mit der Supermacht USA erzwingen zu wollen, hat auch innenpolitische Gründe. Russlands Präsident inszeniert sich selbst gerne als Staatsmann von Welt, der Russland zurück auf die Bühne der Grossmächte gebracht hat.

Dieses Image ist einer der zentralen Pfeiler für die Unterstützung des Präsidenten in der Bevölkerung. Ökonomisch gesehen ist Russland ein Zwerg und hat im Unterschied zu China ausser Öl und Gas kaum wirtschaftliche Druckmittel gegenüber dem Westen. So bleibt Putin nur militärische Gewalt als Druckmittel.

Ein Bluff auf Zeit

Doch selbst wenn diese Strategie im Frühling für einmal funktioniert haben sollte und sich Biden mit Putin in Genf getroffen hat, nachdem Russlands Militär entlang der Grenze Truppenübungen durchgeführt hatte, ist diese Strategie langfristig zum Scheitern verurteilt. Damit eine Drohkulisse ernst genommen wird, muss sie von Mal zu Mal ausgebaut werden. Eine tatsächliche Eskalation scheint dabei immer mehr zu einem realen Risiko zu werden.

Entgegen allen Klischees vom grossen Strategen hat Wladimir Putin bezüglich der Ukraine keine wirklich langfristig durchdachte Strategie. Auch eine schriftliche Zusicherung aus Washington bringt die Ukraine nicht zurück in den Einflussbereich Moskaus. Dies macht das Spiel von Putin mit dem Feuer kurzfristig nicht weniger gefährlich.“

Ich kann nicht wissen, mit welchem Interesse Sie Nachrichten und Analysen über die Entwicklung im Einflussbereich Russlands verfolgen oder verfolgten – sofern sie das überhaupt tun. Bei mir selbst bin ich mir darüber aber recht sicher: Damals wollte ich wissen, ob sich der Konflikt mit der Ukraine in eine Richtung entwickelt, bei der ich mir Sorgen über mögliche Auswirkungen auf mein Leben machen müsste.

Verfolgte Luzia Tschirky mit ihrer Analyse denselben Zweck? Ich denke schon, denn wenn es ihr auch nicht um mein Leben geht, so versuchte sie doch eine mögliche Entwicklung in der Ostukraine vorherzusagen. Ich sehe auch keinen Grund anzunehmen, dass sie damals nur vorgab, das zu tun und im Hintergrund eine andere Absicht verfolgte.

Ihr Hauptwerkzeug ist eine Einschätzung der Absichten und Ziele des russischen Präsidenten Putin. Sie kommt zum Schluss, dass er nicht im Ernst die Ostukraine besetzen möchte, sondern dass es ihm „nur“ darum geht, international ernst genommen zu werden. Mit dem Einsatz ihres Denkwerkzeuges hat sie Erfahrung, d.h. sie berichtet nicht nur darüber, wie man allenfalls Putin einschätzen könnte, sondern sie nimmt selbst eine Einschätzung vor. Wie breit diese Erfahrung ist, ist hingegen nicht so klar, war sie doch in jenem Moment erst seit zwei Jahren als offizielle Korrespondentin von SRF tätig. Als Konsequenz ordnete ich ihre Einschätzung einmal als interessanten Beitrag ein, war aber noch nicht bereit, die Denkfigur „Putin möchte einfach Aufmerksamkeit“ direkt als nützliches Denkwerkzeug für mich zu adoptieren. Dazu hätte ich mehrere übereinstimmende Einschätzungen gebraucht.

Ein weiterer Experte, der sich zum Thema zu Wort meldete, war Thomas Jäger, Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Aussenpolitik an der Universität zu Köln.[2] Auch er ging davon aus, dass Putin die Ukraine nicht wirklich besetzen will. Und er teilte mit Luzia Tschirky die Einschätzung, dass Putin sich innenpolitisch profilieren kann, wenn er erreicht, dass die USA mit ihm verhandelt. Nach Jäger geht es Putin aber um mehr, nämlich darum „den bestimmenden Einfluss auf die Ukraine wieder herzustellen“ und deshalb wird er auf keinen Fall zulassen, dass sich die Ukraine näher an den Westen (Nato, EU) bindet. Im Gegensatz zu Tschirky, die die Gefahr vor allem darin sah, dass Putin jedes Mal grösseres Geschütz auffahren muss, um wahrgenommen zu werden, erwartete Jäger zusätzlich echte Probleme, wenn der Westen die Ukraine allzu fest einzubinden versucht.

Da sich die beiden Expert:innen bezüglich dieses Punktes einig waren, war ich bereit zu glauben, dass Putin die Ukraine nicht einfach so annektieren möchte. Wie bekannt, hat sich das allerdings als falsch erwiesen.

Weiter lesen >> Expert:innen im Interview


[1] https://www.srf.ch/news/international/konflikt-in-der-ostukraine-strategie-mit-explosionsgefahr

[2] https://www.focus.de/politik/ausland/gastbeitrag-von-thomas-jaeger-100-000-soldaten-stehen-bereit-was-putin-jetzt-in-der-grenze-zur-ukraine-plant_id_24481793.html