Journalist:innen zitieren Fachartikel

Ein spezieller Fall liegt vor, wenn Journalist:innen nicht Expert:innen direkt, sondern einen von Expert:innen geschriebenen Fachartikel zitieren. Dann kann man direkt auf diesen Artikel zurückgreifen, um sich selbst ein Bild zu machen. In Online-Medien findet man dafür oft einen direkten Link, sonst ist manchmal etwas Sucharbeit nötig.

Beim Lernen von Mathematik sind abstrakte Beispiele nützlicher als konkrete

Vor einigen Jahren wurde in den Medien mehrfach berichtet, Forscher hätten gezeigt, dass beim Lernen von Mathematik abstrakte Beispiele nützlicher seien als konkrete. Da mich das Thema interessiert und die Aussage komplett im Gegensatz zu meinen eigenen Erfahrungen stand, habe ich mir den Originalartikel beschafft und angeschaut.[1]

In der im Artikel dargestellten Untersuchung haben die Forschenden den Lernenden anhand von Beispielen zuerst eine bestimmte mathematische Struktur beigebracht. Anschliessen testeten sie, wie gut die Lernenden diese Struktur bei einem neuen Beispiel erkennen konnten.

Um welche Art von Strukturen es ging, erkennt man am einfachsten am konkreten Lernbeispiel in der Mitte von Abbildung 1. Dort gibt es drei Objekte: Krüge, die zu 1/3, 2/3 oder ganz voll sein können. Kombiniert man jeweils zwei dieser Objekte, erhält man das Dritte. Im Falle der Krüge besteht die Kombination darin, dass man die Inhalte aus zwei Krügen zusammen in einen neuen Krug schüttet. Sobald der Zielkrug dabei ganz voll wird, leer man ihn, bevor man weiterfährt (Beispiel in der zweiten Zeile). Das Interessante an dieser Struktur ist, dass egal, welche zwei Objekte man kombiniert, man immer wieder eines der drei Objekte erhält, es tritt nie plötzlich ein neues Objekt auf. Zudem spielt die Reihenfolge keine Rolle: Ob man einen 1/3 vollen Krug mit einem 2/3 vollen Krug kombiniert (dritte Zeile) oder einen 2/3 vollen mit einem 1/3 vollen (nicht abgebildet), man erhält immer einen vollen Krug.[2]

Abbildung 1: Mathematikaufgaben

Im abstrakten Beispiel ist die Struktur analog aufgebaut: Man hat als Objekte drei Symbole und eine Anleitung, was man als Resultat erhält, wenn man jeweils zwei kombiniert. Die drei Symbole haben aber keine konkrete Bedeutung, und so kann man nicht „verstehen“, was beim Kombinieren vor sich geht, man kann die Zusammenhänge nur auswendig lernen.

Gleich aufgebaut ist die Testaufgabe. Zwar sind die Objekte „konkret“, noch viel konkreter als die doch etwas schematisch gezeichneten Krüge. Aber der Effekt der Kombination ergibt sich nicht aus diesen Objekten, man muss die Zusammenhänge auswendig lernen.

Mich überrascht deshalb nicht, dass diejenigen, die zuerst das abstrakte Lernbeispiel hatten, mit dem Testbeispiel weniger Mühe hatten. Sie waren darauf vorbereitet, dass sie die Zusammenhänge auswendig lernen müssen. Für diejenigen, welche mit den Krügen begannen, kam das als Überraschung und vermutlich haben sie viel zu viel Zeit damit verloren, zu überlegen, warum zwei Glückskäfer eine Vase ergeben. Wenn man mit willkürlichen Zusammenhängen arbeiten muss, ist es natürlich von Vorteil, wenn man das anhand von willkürlichen Beispielen übt. Der Titel des Artikels müsste also eher heissen: „Der Vorteil willkürlicher Beispiele als Vorbereitung auf willkürliche Testaufgaben“. Hätte er so gelautet, wäre es in den Medien nicht zur unbegründeten Aussage gekommen, dass man Mathematik besser an abstrakten Beispielen lernt.

Wie das Fallbeispiel illustriert, setzt allerdings der Rückgriff auf einen von Journalist:innen erwähnten Fachartikel voraus, dass wir selbst genügend Vorwissen mitbringen, um uns vertieft mit dem Artikel auseinander zu setzen. Die meisten Journalist:innen bringen dieses Vorwissen nicht mit, ausser sie sind wirklich Expert:innen im entsprechenden Gebiet. Man kann ihnen deshalb auch keinen Vorwurf machen, wenn sie sich in diesem Fall auf den Titel des Artikels und allenfalls noch auf die Zusammenfassung, das „Abstract“ des Artikels, gestützt haben. Dort steht: „Studierende könnten beim Mathematiklernen mehr von einer einzigen abstrakten, symbolischen Darstellung profitieren als von mehreren konkreten Beispielen“ (meine Übersetzung).

Aber vermutlich wären sie sogar, wenn sie den Artikel selbst vollständig gelesen hätten, zu keinem anderen Eindruck gekommen. Im Artikel wird nur von konkreten und abstrakten Beispielen gesprochen, ohne je die Beispiele zu beschreiben. Man muss schon selbst Expert:in sein – was ich in diesem Fall bin – um zu wissen, dass man sich über solche Experimente nur eine Meinung bilden kann, wenn man sich das Experiment im Detail anschaut. In diesem Fall war es dazu notwendig, im Internet nach den Details zu den Beispielen zu suchen, die im Artikel gar nicht dargestellt werden.

Das Fallbeispiel ist insofern speziell, als hier nicht einfach die Journalist:innen einen nicht ganz verstandenen Teilaspekt des Artikels herausgreifen und damit das Ganze verzerrt darstellen – was häufig geschieht – sondern dass die Expert:innen selbst eine Interpretation ihres Experiments liefern, die mir als Experte beim genauen Hinsehen nicht besonders überzeugend scheint. Ich komme hier aufgrund des Fachartikels nicht nur dazu, die plakative Aussage der Journalist:innen für unbrauchbar zu halten, ich habe aufgrund eines Anhangs zum Fachartikel sogar meine Zweifel an der Brauchbarkeit der Überlegungen der Autor:innen des Fachartikels. Das kann ich aber nur, weil ich selbst Experte bin.

Ist die Quelle eines Medienbeitrags ein Fachartikel, kann man seine Darstellung anhand des Artikels überprüfen. Allerdings ist das meist nur dann fruchtbar, wenn man selbst Expert:in ist.

Weiter lesen >> Fakten in den Medien


[1] Kaminski, J. A., Sloutsky, V. M., & Heckler, A. F. (2008). The Advantage of Abstract Examples in Learning Math. Science, 320, 454-455.

[2] Für Interessierte: Mathematiker nennen eine solche Struktur eine kommutative Gruppe. Auch die ganzen Zahlen mit der Operation Subtraktion bilden eine Gruppe. Egal welche zwei ganzen Zahlen wir voneinander subtrahieren, also ob 6 von 8 oder 2387 von 126, erhalten wir immer wieder eine ganze Zahl (hier 2 bzw. -2261). Allerdings sind die ganzen Zahlen mit der Subtraktion nicht kommutativ: Es spielt eine Rolle, ob wir 6-4 oder 4-6 rechnen. Eine kommutative Gruppe bilden die ganzen Zahlen hingegen bei der Addition: 6+4 und 4+6 führen zum selben Resultat.