Brustkrebsscreening

Soll man alle Frauen präventiv röntgen?

Es scheint einleuchtend, dass die Behandlungschancen umso besser sind, je früher ein Brustkrebs entdeckt wird. Die Krebsliga Schweiz schreibt daher auf ihrer Website: „Die wichtigste Methode zur Früherkennung von Brustkrebs bei Frauen ab 50 Jahren ist die Mammografie. Die Krebsliga Schweiz empfiehlt und unterstützt die Brustkrebs-Früherkennung durch Mammografie-Screening bei Frauen ab 50 Jahren.“

„Screening“ bedeutet, dass man ausnahmslos alle Personen einer bestimmten Gruppe untersucht. Bei COVID-19 würde das heissen, dass man bspw. alle Einwohner einer Stadt testet, egal ob sie Symptome haben oder nicht, so wie das in China immer wieder gemacht wurde.

Der Verein mediX, eine schweizerische Vereinigung regionaler Ärztenetze, ist da nicht ganz dieser Meinung. mediX schreibt in einem Merkblatt zum Thema: „Es gibt eine gute Nachricht für alle Frauen: In den meisten Ländern sterben immer weniger Frauen an Brustkrebs. Diese erfreuliche Entwicklung ist [aber] wahrscheinlich nur zu einem geringen Teil der Früherkennung zu verdanken. … Ein Mammografie-Screeningprogramm ist letztlich nur dann erfolgreich, wenn es die Anzahl der Frauen mit fortgeschrittener Krebskrankheit deutlich zu verringern hilft. Erfahrungen aus verschiedenen Ländern lassen daran zweifeln, dass dieses Ziel erreicht wird.“

Zwei verschiedene Gruppen von Expert:innen, zwei verschiedene Meinungen. Was ist nun sinnvoller: Ab 50 (bis 69) jedes Jahr zur Untersuchung gehen? Oder es bleiben lassen, weil es nicht viel bringt? Ein Grund, warum sich die beiden Gruppen uneinig sind, können wir uns anhand von ein paar Zahlen veranschaulichen.


Abbildung: Prozentsatz der Frauen, die beim Screening einen falschen Alarm erhalten

Die Abbildung geht davon aus, dass wir eine Gruppe von 1000 Frauen im Alter von 60 Jahren haben, die alle zum Mammografie-Screening gehen. Aus langjähriger Forschung weiss man, dass in diesem Alter etwa 3 % aller Frauen an Brustkrebs leiden, von den 1000 Frauen im Beispiel wären das also etwa 30. Ebenfalls aus langjähriger Forschung ist bekannt, dass man beim Röntgen ca. 80 % dieser Fälle entdeckt. Von den 30 der 1000 Frauen, die tatsächlich Brustkrebs haben, wird er also bei 24 entdeckt. Bei den restlichen 6 Frauen übersieht man ihn. Umgekehrt ist es so, dass bei den Frauen, die keinen Tumor haben, bei etwa 10 % der Test fälschlicherweise angibt. Von den 970 Frauen gibt es also bei 97 einen falschen Alarm. Insgesamt erhalten von den 1000 Frauen im Beispiel 121 die (vorläufige) Diagnose Brustkrebs. Bei 97 von ihnen ist diese Diagnose aber falsch, d.h. etwa 8 von 10 Diagnosen sind falsch. Oder anders gesagt: Jede Frau, die hier die Diagnose „Brustkrebs“ erhält, kann eigentlich ziemlich sicher sein, dass dies nicht stimmt. (Bei Frauen in einem anderen Alter sind die Zahlen ganz leicht anders, da die Prozentsätze anders sind. Im Beispiel habe ich übrigens 1000 Frauen genommen, damit sich schöne Zahlen ergeben. Sie können das Ganze für eine andere Gruppengrösse berechnen, das Resultat bleibt dasselbe.)

Die Abbildung zeigt nur einen Ausschnitt des ganzen Geschehens, nur ein einziges Jahr aus dem Leben dieser Frauen. Von den 6 Frauen, bei denen der Tumor in diesem Jahr nicht entdeckt wurde, werden einige daran sterben, aber nicht alle. Umgekehrt wird man den meisten Frauen helfen können, bei denen ein Tumor erkannt wurde. Alles in allem gilt laut mediX, dass von 1000 Frauen, die während 10 Jahren regelmässig an einem Mammographie-Screening teilnehmen, eine vom Tode bewahrt wird, weil der Tumor durch das Screening früher entdeckt wurde.

Zusammengefasst heisst das also: Wenn 1000 Frauen 10 Jahre lang jährlich zum Mammografie-Screening gehen, dann retten wir ein Leben, versetzen aber jährlich fast 100 Frauen unnötigerweise in Angst und Schrecken, setzen sie unnötigerweise weiteren Untersuchungen aus und therapieren vielleicht sogar einen Tumor, bei dem das gar nicht nötig gewesen wäre. Es wird geschätzt, dass von diesen 1000 Frauen, die 10 Jahre lang ins Screening gehen, 5 unnötigerweise operiert werden, allenfalls mit Nachbestrahlung und Chemotherapie.

Ich denke, die Zahlen machen deutlich, warum die beiden Expert:innen-Gruppen zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Die Frage ist, ob man das eine gerettete Leben oder die jährlich 100 falschen Alarme mit ihren Folgen höher gewichtet.

(Die Zahlen sehen übrigens für Frauen, bei denen in der Familie (Mutter, Schwester oder Tochter) schon Brustkrebs aufgetreten ist, etwas anders aus, da ihr Risiko höher ist, nämlich eher 10 % als 3 %. Wenn sie gern mit Zahlen spielen, können sie eine Kopie der Abbildung oben machen und an Stelle der 3 % einmal 10 % einsetzen und dann alles durchrechnen.)

Auch dies ist ein Beispiel dafür, dass die sich widersprechenden Expert:innen dasselbe Denkwerkzeug mit unterschiedlichem Ziel einsetzen. Beide Gruppen benutzen dieselben Zahlen und kennen die Werte, die ich zusammengestellt habe. Die eine Gruppe verfolgt dabei wahrscheinlich das Ziel, unter allen Umständen möglichst viele Krebstote zu verhindern. Bei der Krebsliga ist das fast sicher so. Beim schweizerischen Bundesamt für Gesundheit (BAG) könnte es auch der Fall sein, wenn es schreibt: „In Abwägung aller Faktoren haben viele Länder wie auch die Schweiz entschieden, systematische Früherkennungsprogramme einzuführen.“ mediX hingegen spricht von „Nutzen und Schaden“, enthält sich einer Schlussfolgerung und wendet sich an die einzelne Frau: „Ob Sie persönlich von einem Mammografie-Screening profitieren oder nicht, lässt sich aber aus keiner Statistik ablesen. Jede Frau muss die Entscheidung nach Abwägung der Vor- und Nachteile letztlich selbst treffen.“

Leider gibt keine der Gruppen explizit an, welches Ziel sie genau mit dem Einsatz des Denkwerkzeugs verfolgt, was ihr wichtig ist und was nicht. Will man sich nicht auf die Vermutungen bezüglich der unterschiedlichen Ziele verlassen, wie ich sie angestellt habe, dann müsste man nachfragen, wie ihre Empfehlungen aufgrund der Daten zustande kommen. Vor allem beim BAG wäre ich gespannt, was die involvierten Expert:innen zu sagen haben.

[Expert:innen]