Gleichwertige Alternativen

Haben wir die Frage geklärt, zu welchem Zweck wir ein bestimmtes Denkwerkzeug verwenden wollen, können wir daran gehen zu beurteilen, ob es diesen Zweck auch erfüllt, ob es nützlich ist.

Kosmologie

Aktuell geht die Kosmologie davon aus, dass unser Universum knapp 14 Milliarden (14‘000‘000‘000) Jahre alt ist. Es ist eine spannende Geschichte, wie die Forscher:innen auf diese Zahl kommen. Angefangen hat das Ganze eigentlich mit einer Beobachtung: Wenn ein Feuerwehrauto an uns vorbeifährt, klingt die Sirene höher, wenn das Auto auf uns zufährt, als wenn es von uns wegfährt. Im Moment, wo es an uns vorbeifährt, ist ein deutlicher Abfall der Tonhöhe wahrzunehmen (der sogenannte Dopplereffekt). Diesen Effekt gibt es auch beim Licht. Hier ändert sich die Farbe ganz leicht. Gegenstände, die auf uns zukommen, wirken ein klein wenig blauer, als wenn sie ruhig neben uns stehen. Gegenstände, die von uns weggehen, wirken etwas roter. Der Effekt ist allerdings so gering, dass wir ihn mit blossem Auge nicht wahrnehmen. Die Kosmologie nimmt nun an, dass die chemischen Prozesse, die in fernen Sternen ablaufen, etwa dieselben sind, wie wir sie hier bei uns kennen. Auf Grund dieser Annahme kann man ausrechnen, wie das Licht zusammengesetzt sein müsste, das von diesen Sternen zu uns gelangt. Und als die Astronomen begannen, auf dem Hintergrund dieser Überlegungen das Licht der Sterne zu analysieren, stellten sie überrascht fest, dass es bei allen ein wenig zu rot ist, so als ob sich alle Sterne von uns wegbewegen würden. Diese Rotverschiebung und damit die scheinbare Geschwindigkeit sind umso grösser, je weiter weg die Sterne sind. Alle Sterne, das ganze All scheinen wie das Produkt einer gigantischen Explosion auseinanderzufliegen. Diese Explosion bekam den Namen Urknall. Und aus den Distanzen zwischen den Sternen und ihren Geschwindigkeiten zueinander konnte man rückwärts rechnen, wie lange ungefähr dieser Urknall zurückliegen müsste, und kam so auf die rund 14 Milliarden Jahre.

Aber natürlich war niemand mit einer Stoppuhr in der Hand beim Urknall dabei und hat diese seither immer wieder aufgezogen und laufen gelassen. Die ganze Kosmologie beruht auf verschiedenen Annahmen, die sich nicht wirklich überprüfen lassen. Eine davon ist die erwähnte, dass die Gesetze von Physik und Chemie durch das ganze Weltall gleich gelten, wie wir sie hier bei uns beobachten können – und das nicht nur jetzt, sondern seit 14 Milliarden Jahren unverändert. Aber mit diesen Annahmen gelingt es der Kosmologie ein Bild zu entwerfen, mit dem vieles, was am Himmel beobachtbar ist, erklärbar wird. Bezogen auf dieses Ziel ist die Kosmologie nützlich.

Wie ich bei der Flach-Erde-Theorie zu illustrieren versuchte, kann man mit etwas Phantasie und Aufwand typischerweise dieselben Phänomene mit verschiedenen Theorien hinterlegen. Eine Alternative zum Bild der Kosmologie wäre die Ansicht derjenigen, welche gestützt auf die Bibel davon ausgehen, dass die Erde vor weniger als 10‘000 Jahren geschaffen wurde. Ich möchte diese Theorie hier aber nicht weiter diskutieren, da sie für ihre Vertreter aus religiösen Gründen mit starken Emotionen verbunden ist und sich so schlecht für Gedankenspiele eignet. Weniger belastet ist hingegen die Idee, dass die Welt, wie sie ist, vor genau fünf Minuten entstanden ist.[1] Dabei wäre nicht nur das entstanden, was wir um uns herum beobachten können, sondern auch all unsere Erinnerungen daran, was früher war. Wenn sie sich daran erinnern, dass sie schon vor mehr als fünf Minuten in diesem Buch gelesen haben, wäre das gar nicht „wahr“, sondern ihnen einfach als Erinnerung vor genau fünf Minuten in ihr vollständig neues Gedächtnis eingepflanzt worden.

Computerspiele funktionieren so. Bevor sie gestartet werden, ist da Nichts. Und im Moment, wo das Spiel zu laufen beginnt, ist plötzlich alles da. Wenn es sich dabei etwa um ein Rätselspiel im Sinne eines Krimis handelt, bei dem Personen befragt werden müssen, haben diese Personen auch Erinnerungen, die sich auf die Zeit vor dem Start des Spiels beziehen. Wenn wir den ganzen Kosmos als so eine Art „Computerspiel“ ansehen, wäre das zwar ein sehr komplexes Spiel und die „Programmierer“ müssten über gewaltige Fähigkeiten verfügen. Aber wenn man einen allmächtigen Schöpfer annimmt, dann wäre das nicht unmöglich.

Es gibt keine Möglichkeit, zwischen der anerkannten kosmologischen Theorie und der „Programmstart“ Theorie als erklärende Theorie für die im Weltall beobachteten Phänomene zu unterscheiden. Oder wie Bertrand Russell sagt: „Es besteht keine logisch notwendige Verbindung zwischen Ereignissen zu unterschiedlichen Zeiten; daher kann nichts, was jetzt oder in der Zukunft passiert, die Hypothese widerlegen, dass die Welt vor fünf Minuten begann.“ Die beiden Theorien sind wie zwei Schraubenzieher, einen mit einem roten Griff und einen mit einem grünen Griff. Um Schrauben festzuziehen eignen sich beide gleich gut.

Die Gleichwertigkeit der kosmologischen und der „Programmstart“ Theorie gilt allerdings nur, wenn es allein darum geht, die beobachtbaren physikalischen Phänomene im Weltall in ein Gesamtbild einzubetten. Für religiöse Christen hingegen, die die Schilderung der Genesis in der Bibel mitberücksichtigen wollen, sind beide nicht haltbar.

Um dasselbe Ziel zu erreichen, sind immer unterschiedliche Denkwerkzeuge vorstellbar. Und manchmal liegen auch zwei Denkwerkzeuge vor, die gleich nützlich sind.

Für die Beantwortung der Frage „Wie spät ist es?“ gibt es auf der Erde 24 verschiedene absolut gleichwertige Denkwerkzeuge, die 24 Zeitzonen. Wenn ich am Telefon mit jemandem in Sydney Australien sage: „Es ist jetzt 9 Uhr“ und der am anderen Ende der Leitung antwortet: „Nein, es ist 18 Uhr“, dann hat keiner mehr recht als der andere, genauso, wie wenn an Silvester die Raketen zur Begrüssung des neuen Jahres in Sydney 9 Stunden vor denen in Zürich gezündet werden. Wie frei man bei der Festlegung der aktuellen Zeit ist, zeigt das Beispiel Spanien. Geografisch würde Spanien in dieselbe Zeitzone gehören wie Grossbritannien, es liegt aber in derselben Zeitzone wie Deutschland. Das geht auf General Franko zurück, der damals seine Verbundenheit mit Hitler dadurch ausdrücken wollte, dass er sich derselben Zeitzone wie Deutschland anschloss. Bin ich in Spanien im Urlaub, freue ich mich über die langen, sonnigen Abende, die ich dadurch geniessen kann. Bin ich allerdings in London, ist es vor Vorteil, wenn ich die dort übliche Zeit benutze, wenn ich rechtzeitig im Theater sein will (vgl. Kooperation).

Verabschieden wir uns vom Kriterium „Wahrheit“ bei der Beurteilung von Denkwerkzeugen, dann ermöglicht uns das eine gewisse Haltung der Toleranz gegenüber alternativen Ideen. Manchmal sind zwei Denkwerkzeuge ganz einfach gleich nützlich.

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[1] Bspw. Bertrand Russell (1921) The Analysis of Mind.