Werkzeuge gebrauchen

Nächte zählen

Als wir rechnen lernten, haben wir alle zuerst die Finger dazu genutzt, um etwa 2 + 4 abzuzählen. Irgendwann haben wir uns dann aber davon gelöst und Techniken entwickelt, wie wir ohne unsere Finger zu einem Resultat kommen. Dieser Schritt war wichtig. Bspw. können wir die Frage „Reicht mein Budget von 250.- Fr., wenn die Trekking-Schuhe 129.- Fr. und die Stöcke 109.- Fr. kosten?“ nicht gut durch Abzählen an den Fingern beantworten. Alle, die überhaupt rechnen lernen, erreichen irgendwann die Stufe „Nicht-Zählendes-Rechnen“.

Jetzt stellen Sie sich aber einmal folgende Situation vor: Sie machen einen kleinen Städteausflug, kommen dort am 8. Juni an und reisen am 12. wieder ab. Wie viele Übernachtungen müssen Sie buchen? Praktisch alle, denen man diese Frage stellt, nehmen für die Berechnung ihre Finger. Dabei wäre die Antwort einfach zu finden: Es sind 12 – 8 = 4 Nächte. Sie können das Resultat gerne mit Hilfe Ihrer Finger überprüfen!

Wieso ist das so? Haben es all diese Leute doch nicht bis zum Nicht-Zählend-Rechnen geschafft? Sicher nicht! Die meisten, die man fragt, wissen ganz genau, dass zwölf minus acht vier ergibt, oder können es zumindest mit Hilfe eines Taschenrechners ohne weiteres berechnen. Das Problem ist also nicht, dass all die, die hier zu den Fingern greifen – und es sind wirklich praktisch alle – plötzlich nicht mehr rechnen können. Das Problem ist vielmehr, dass sie nicht wissen, dass das Denkwerkzeug Subtraktion hier anwendbar ist. Wie sollten sie auch, denn mit Subtraktion verbinden wir die Vorstellung einer Menge von Dingen (bspw. 12 Bierflaschen) von der wir eine Teilmenge (8 Flaschen) wegnehmen, um zu wissen, wie viel übrig bleiben. Das passt schlecht zur Übernachtungssituation, denn der 8. Juni und der 12. Juni sind (zumindest auf den ersten Blick) keine erkennbaren Mengen von Dingen, sondern Daten. Und wie nach der Subtraktion zweier Daten eine Anzahl Nächte übrigbleiben soll, ist nicht wirklich klar.

Trotzdem funktioniert es. Sie können es gerne bei jeder Ihrer zukünftigen Reisen ausprobieren. Vermutlich werden Sie feststellen, dass Ihnen dabei nicht ganz wohl ist, wenn sie nur „rechnen“ und zur Kontrolle auch noch mit den Fingern nachzählen. Es wird einige Reisen und vermutlich mehr als ein Jahr dauern, bis Sie sich so sicher fühlen, dass Sie das Zählen weglassen können.

Rechnen ist ein Denkwerkzeug, das, wie praktisch alle unserer Denkwerkzeuge, über viele Generationen hin entwickelt wurde und das wir jemandem „abgekauft“ haben. Und wie alle Werkzeuge hat es die Eigenschaft, dass es sich nicht von selbst anwendet. Es reicht nicht, eine gute Kaffeemaschine zu besitzen. Man muss sie auch einsetzen können. Und wie alle wissen, die eine tolle Siebträgermaschine[1] zuhause haben, braucht es einige Erfahrungen, bis es gelingt, deren Potenzial auch zu nutzen. Dasselbe gilt für das Rechnen. Es genügt nicht, dass wir die „Maschine“ zum Laufen bringen können und auf Knopfdruck bspw. „zwölf weniger acht gleich vier“ sagen können. Wir müssen auch wissen, wie man diese „Maschine“ sinnvoll und gekonnt einsetzt. Wo ist der Mechanismus Subtrahieren überhaupt brauchbar? Was kommt an die erste Stelle? Was wird abgezogen? Um das zu wissen, brauchen wir Erfahrungen mit dem Einsatz dieses Denkwerkzeugs.

Genau so geht es einem Barista, der bisher mit seiner Maschine nur Espressos gemacht hat und nun plötzlich einen Lungo machen sollte. Er wird Zweifel haben, ob das überhaupt geht. Er wird kein Gefühl haben für die richtige Menge Pulver, für den Mahlgrad etc. Und erst nach einigem Herumprobieren und etlichen Erfahrungen wird er auch die Lungos so locker produzieren können, wie vorher nur die Espressos. Und wie dieser Barista werden wir auch erst nach einigen Erfahrungen mit der Subtraktion beim Nächte-Berechnen nicht mehr die Finger nehmen müssen.

Es gibt (mindestens) zwei Arten von Wissen: Deklaratives Wissen – das ist die Form, in der uns Denkwerkzeuge von Expert:innen angeboten werden – und situatives Wissen – das sind die notwendigen Erfahrungen, die wir machen müssen, um die „eingekauften“ Denkwerkzeuge überhaupt sinnvoll einsetzen zu können. Die zentrale Bedeutung unserer persönlichen Erfahrungen liegt in diesem Anwendungswissen. Nichts kann diese Erfahrungen ersetzen.

Und wenn wir dabei sind, solche Erfahrungen zu machen, kann es selbstverständlich vorkommen, dass es uns nicht recht gelingt, das Werkzeug einzusetzen. Dann ist es natürlich sinnvoll, wenn wir den Herstellern ein entsprechend kritisches Feedback geben, genauso wie der Barista das tun würde, wenn er immer wieder daran scheitert, einen qualitativ guten Lungo zu produzieren.

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[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Espressomaschine