Expert:innen für unser eigenes Erleben

Skiunfall

Vor Jahren war ich einen dummen Unfall beim Skifahren verwickelt. Als Folge davon hatte ich ein blaugrünes Auge, Schmerzen im Arm, den Rippen und am Oberschenkel. Der Arzt im Ferienort, der täglich einige Unfälle versorgt, sah sich das Ganze an und machte sich vor allem Sorgen wegen meines blaugrünen Auges bzw. wegen einer möglichen Hirnerschütterung, die der Aufprall hätte verursachen können. Trotz verschiedener Abklärungen konnte er aber nichts entdecken. Mein Kopf sah zwar schrecklich aus, war aber im Wesentlichen intakt. Auch bei den Rippen ergab ein sorgfältiges Abtasten, dass sie zwar etwas gequetscht, aber nicht gebrochen waren und die Schmerzen im Oberschenkel diagnostizierte er als Abduktorenzerrung. Erfreut wollte er mich entlassen und sagte mir, dass ich Glück gehabt hätte, dass zwar alles schmerzhaft sei, aber von selbst heilen würde. Ich wollte schon gehen, aber beim Aufstehen zwickte mich der Arm und ich machte ihn darauf aufmerksam, dass wir noch nicht alle Punkte abgearbeitet hatten. – Der Arm war gebrochen und ich bekam doch noch einen Gips, wie es sich für einen richtigen Skiunfall gehört.

Der Arzt war ganz klar ein Experte für Skiunfälle. Er praktizierte in diesem Ferienort schon seit vielen Jahren und behandelte jede Wintersaison hunderte von Skiunfällen. Entsprechend gab es für mich keinen Grund, seine Entscheidung anzuzweifeln, als er sich zuerst um eine allfällige Hirnerschütterung kümmern wollte. Aber natürlich konnte er trotz seiner ganzen breiten Erfahrung nicht wissen, wo es mir überall wehtat. Hier war ich der alleinige Experte. Niemand ausser uns weiss so genau darüber Bescheid, wie wir uns fühlen, was uns Sorgen macht, wo wir wann Schmerzen haben etc. Wir begleiten uns selbst 24 Stunden pro Tag und machen daher jede Menge Erfahrungen in Bezug auf uns selbst – auf jeden Fall deutlich mehr, als bspw. ein Arzt, der uns kurz einmal 15 Minuten untersucht. Natürlich können diese Erfahrungen verfälscht sein (Den eignen Augen trauen?) und müssen durch Zugänge ergänzt werden, wie sie Expert:innen zur Verfügung stehen. Aber auch dann können wir darauf beharren, dass wir viel über uns selbst wissen, das nicht einfach ignoriert werden sollte. Das Gespräch mit einer Ärztin oder einem Arzt ist eigentlich ein Gespräch zwischen zwei Expert:innen sein, zwischen mir, der ich viele Erfahrungen mit mir selbst habe, und der Ärzt:in, die viel Erfahrungen mit mehr oder weniger ähnlich gelagerten Fällen hat. Im Idealfall gelingt es, die Denkwerkzeuge der beiden Beteiligten so zu kombinieren, dass es zu einer wirkungsvollen Problemlösung kommt.

Sofern das überhaupt möglich ist, sind die Regeln dafür, dass dies gelingt, erstaunlich einfach:[1]

  • Beide Seiten dürfen alle Fragen stellen, die ihnen wichtig erscheinen.
  • Beide nehmen alle Fragen der anderen Seite ernst.
  • Früher oder später wird jede Frage beantwortet (es sei denn, es wurde bereits eine Lösung gefunden, die beide Seiten zufriedenstellt).
  • In komplexen Fällen führen am besten beide Seiten ein gemeinsames Protokoll darüber, welche Fragen gestellt wurden, wie diese zusammenhängen und welche beantwortet sind.

Es dürfte allerdings nicht ganz einfach sein, eine Ärztin oder einen Arzt zu solch einer Zusammenarbeit zu bewegen, aber man kann es ja versuchen.

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[1] Kaiser, H. (1987) Wissensaustausch im Dialog. Bern, Huber.