Fakten in den Medien

Vieles, was man in den Medien lesen, hören oder sehen kann, kommt nicht als Überlegungen von Expert:innen daher, sondern als Fakten. Aber auch Fakten wie: „Gestern wurde in der Zukunftsstrasse ein Fahrradfahrer angefahren“ sind Versuche, einen Ausschnitt der Welt zu fassen, und wir können sie gleich wie andere Denkwerkzeuge behandeln.

Rekordmann Lewandowski und Jubilar Müller führen Bayern zum Sieg

Auf der Website von SRF am 17.12.2021 um 22:28 Uhr aufgeschaltet[1]:

„Beim souveränen 4:0-Sieg über passive Wolfsburger erleben gleich zwei Bayern-Akteure einen besonderen Abend.

Lange sah es so aus, als ob Liga-Topskorer Robert Lewandowski einen weiteren Rekord auf der Zielgeraden verpassen würde. Der Pole ging mit 42 Bundesliga-Toren im 2021 in das letzte Spiel des Kalenderjahres. In der 87. Minute gelang ihm schliesslich der 43. Treffer und damit eine neue Bestmarke, die er zuvor mit «Bomber» Gerd Müller geteilt hatte, dem 1972 ebenfalls 42 Tore gelangen.

Bayern mit Blitzstart

Nur gerade 7 Minuten benötigte hingegen Thomas Müller in seinem 400. Bundesliga-Spiel, um die Bayern gegen das krisengebeutelte Wolfsburg in Führung zu schiessen. Der Jubilar traf nach einem Abstauber aus kurzer Distanz. Wenige Augenblicke später verzeichnete Wout Weghorst die beste Möglichkeit für die Gäste, doch der Niederländer scheiterte aus aussichtsreicher Position an Manuel Neuer.

Müller lieferte auch die Vorlage beim 2. Treffer. Seine butterweiche Flanke konnte Dayot Upamecano in der 57. Minute zum 2. Treffer verwerten. Keine 2 Minuten später entschied Leroy Sane mit einem sehenswerten Schlenzer die Partie endgültig zugunsten der Münchner. […]“

Bei Wolfsburg, das damit die vergangenen sieben Pflichtspiele verloren hat, wurde Renato Steffen nach einer guten Stunde ausgewechselt. Kevin Mbabu kam bei den ‚Wölfen‘ zu einem Kurzeinsatz.“

Zum gleichen Spiel auf ntv[2]:

„Alles andere als ein Sieg des FC Bayern zum Auftakt des 17. Spieltags der Fußball-Bundesliga wäre angesichts der Vorleistungen eine Sensation gewesen. Der VfL Wolfsburg setzt also seine schlimme Serie fort. Und das, obwohl Robert Lewandowski überraschend lange mit dem Toreschiessen warten muss.

Herbstmeister FC Bayern München hat es im 400. Bundesligaspiel von Thomas Müller zum Jahresabschluss gegen den Krisenclub VfL Wolfsburg noch einmal krachen lassen. Drei Tage nach dem 5:0-Schützenfest beim VfB Stuttgart beendeten die in dieser Saison extrem torhungrigen Münchner Fußballstars die Hinrunde mit einem standesgemäßen 4:0 (1:0) in der zuschauerlosen Allianz Arena. 56 Treffer nach einer Halbserie sind Rekord. Jubilar Müller konnte schon in der 7. Minute sein 134. Tor in der Fußball-Bundesliga bejubeln. Der Ur-Bayer staubte erfolgreich ab, nachdem VfL-Keeper Koen Casteels einen Flatterball von Serge Gnabry nach vorne abklatschen ließ. Das erste Tor von Dayot Upamecano im Bayern-Trikot legte Müller zudem auf (57.). Der agile Leroy Sané erhöhte mit seinem sehenswerten Distanzschuss auf 3:0 (59.).

Ein später Jubelabend war es für Robert Lewandowski. Der Pole jagte seinen 43. Bundesliga-Tor im Jahr 2021 bis zur 87. Minute vergeblich nach, dann traf er nach Vorarbeit von Jamal Musiala. Zuvor drosch er den Ball aus guter Position drüber (66.) und schoss auf Zuspiel von Gnabry VfL-Torwart Casteels an (76.). Lewandowski überbot damit die Bestmarke der kürzlich verstorbenen Bayern-Legende Gerd Müller, die 1972 ebenfalls 42 Tore im Münchner Trikot erzielt hatte. Es war der 24. Treffer des Polen im 21. Bundesligaspiel gegen den VfL Wolfsburg. Nur Gerd Müller hatte einen offensichtlicheren Lieblingsgegner: Der verstorbene Torjäger traf in seiner Laufbahn 27-mal gegen den Hamburger SV. Alles andere als ein Lewandowski-Treffer wäre also die Überraschung des Abends gewesen. […]“

Können wir diese Nachricht als brauchbare Darstellung dessen akzeptieren, was bei diesem Spiel geschehen ist? Diese Frage wirft wie immer zuerst die andere Frage auf: Brauchbar wofür?

Nehmen wir an, unser Interesse ist es, am anderen Tag beim Mittagessen mit Kollegen über das Spiel zu sprechen und uns dabei nicht zu blamieren. Ist das Interesse, mit dem diese Darstellung verfasst wurde, dasselbe? Ich denke schon. Zwar ist das Hauptinteresse solcher News-Plattformen, die Leser:innen an sich zu binden. Das können sie u.a. erreichen, indem sie Denkwerkzeuge anbieten, die sonst nirgends zu haben sind. SRF versucht das mit der Anmerkung zu Renato Steffen und Kevin Mbabu, speziell ausgerichtet auf das schweizerische Publikum. n-tv als deutsche Plattform geht nicht darauf ein, wartet hingegen mit Details zu Gerd Müller auf.

Da aber auch viele andere Plattformen über dieses Spiel berichten, ist es schwierig, hier Kundenbindung über Exklusivität zu erreichen. Daher muss es vielmehr das Ziel sein, etwas anzubieten, das dem Interesse einer grossen Teil der Leserschaft entspricht, und das dürfte mit meinem Wunsch, das Spiel mit Kollegen zu diskutieren, identisch sein.

Verschiedene Angaben wie das 4:0 Resultat, Lewandowskis Treffer in der 87. Minute oder Müllers Treffer in der 7. Minute fallen in den Bereich, in dem wir als Menschen unseren eigenen Augen trauen können. Wenn wir annehmen, dass die Darstellungen auf Berichten von Personen basieren, welche das Spiel gesehen haben und sich dabei Notizen gemacht haben, können wir in diesen Punkten die Darstellung als brauchbar ansehen. Wir müssen nicht erwarten, dass wir uns blamieren, wenn wir diese Punkte so beim Gespräch mit Kollegen erwähnen. Wir brauchen dazu nicht einmal mehrere Berichte zu vergleichen.

Wobei, wie alle wissen, die sich regelmässig mit Fussball beschäftigen, „München hat vier Tore geschossen“ heisst nur, dass der Schiedsrichter vier Mal auf Tor entschieden hat. Und offenbar gab es auch keinen grösseren Protest dagegen – aber ob der Ball jeweils wirklich in vollem Umfang über der Torlinie war? Man hat ja den Video-Schiedsrichter eingeführt, weil das nicht immer so unbestritten ist.

Weniger eindeutig ist die Sache mit dem 43. Saisontor von Lewandowski, den 42 Toren von Gerd Müller im Jahre 1972 und dem 400. Spiel von Thomas Müller. Ob es wirklich das 43. Tor ist, sieht man nicht einfach, da muss man das ganze Jahr sorgfältig Buch führen. Und vermutlich war keiner der Journalist:innen, die zu diesen Berichten beigetragen haben, 1972 dabei und hat mitgezählt. Für solche Aussagen braucht es Expert:innen, welche die entsprechenden Denkwerkzeuge wie Statistiken und Jahrbücher beherrschen. Sportjournalist:innen, die ihre Berichterstattung dauernd mit solchen Statistiken anreichern, können wir als brauchbare Expert:innen betrachten, die hier erst noch übereinstimmen. Allerdings ist nicht ganz auszuschliessen, dass alle bezüglich Gerd Müller genau dieselbe Quelle konsultiert haben und dass jene Quelle falsch liegt, weil es damals nämlich 44 Tore waren!

Der russische Angriff auf die Ukraine

Auf der Web-Site von SRF am 18.03.2022 um 16:40 Uhr aufgeschaltet:

„ ‚Hunderte‘ Personen sollen sich noch im Theater von Mariupol befinden

Laut dem ukrainischen Präsidenten Selenski konnten bisher 130 Menschen aus dem von Bomben zerstörten Theater in der Hafenstadt Mariupol gerettet werden. ‚Hunderte‘ Menschen würden sich aber noch im Gebäude befinden. Die Rettungsarbeiten würden ‚trotz anhaltender Bombardierungen‘ fortgesetzt, sagte Selenski. Hunderte Zivilisten sollen vor der Bombardierung im Keller des Theaters Schutz gesucht haben.

Die Vereinten Nationen zeigten sich bereits zuvor extrem besorgt über die Lage in Mariupol. Ein Sprecher des Welternährungsprogramms (WFP) sagte am Freitag in Genf: ‚Die letzten Reserven an Essen und Wasser gehen zu Ende‘. Zudem fehlten Versorgungsgüter und Medikamente, was verheerende Konsequenzen haben könne, hiess es vom UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). Immer noch könnten keine Hilfskonvois die Stadt erreichen. Auch sonst sei die Versorgungskette nicht mehr gewährleistet. Aus Angst vor Schüssen zögerten LKW-Fahrer, sich ans Steuer zu setzen.“

Zum Beschuss des Theaters in Mariupol war an gleicher Stelle am 17.03.2022 um 13.56 zu lesen:[3]

„Täglich erreichen uns Meldungen aus dem Kriegsgebiet der Ukraine: Bilder, Videos, zum Teil mit Absender, zum Teil ohne. Der jüngste Fall betrifft das zerstörte Theater der Hafenstadt Mariupol, wo eine unbekannte Anzahl Menschen Schutz gesucht haben soll, wobei Russland einen Bombenabwurf bestreitet. Stefanie Strahm gehört zum Kollektiv von Mitarbeitenden, die bei SRF solche Videos und Fotos prüfen.

SRF News: Wie gehen Sie vor beim Faktencheck? Können Sie herausfinden, wer geschossen hat?

Stefanie Strahm: Wer geschossen hat, ist tatsächlich nicht zu eruieren, weil es weder Fotos noch Videos des Angriffs gibt. Wir können nur überprüfen, ob es sich beim zerstörten Gebäude um das Theater in Mariupol handelt. Das ist der Fall. Zur Überprüfung konsultierte ich namhafte Nachrichtenagenturen, die das Material ebenfalls publiziert haben und Fotos auch immer selber gegenchecken. Zugleich arbeitete ich mit Street View auf Google Maps. So ist auf mehreren Fotos des Theaters ein auffällig gestalteter weisser Zaun zu sehen, der mit den älteren Bildern auf Google Maps übereinstimmt. Auch die Fenster und die noch bestehenden Bäume passen. Diese Art der Überprüfung nennt sich Geolokalisierung.

Im Netz gibt es auch Videos, die die Lage im zerbombten Theater zeigen sollen, Dunkelheit, Staub, das könnte irgendwo aufgenommen sein…?

Das ist richtig. Allerdings gibt es von dieser Situation mehrere Videos aus verschiedenen Perspektiven, die von verschiedenen Usern hochgeladen wurden. Das ist für die Überprüfung ein entscheidender Hinweis. Wir schauen uns zugleich genau an, wer diese Fotos oder Videos in die sozialen Medien gestellt hat: Wie schauen ihre Profile aus und seit wann gibt es sie? Welche Follower und Followerinnen haben sie und posten sie regelmässig aus der gleichen Gegend? Wenn sich daraus ein plausibles Gesamtbild ergibt, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Videos tatsächlich das zeigen, was angegeben ist.

Bei welchen Quellen verlassen Sie sich darauf, dass das Abgebildete den Angaben entspricht?

Es sind Fotos und Videos, die von Agenturen wie Reuters, AP oder EVN stammen. Diese Agenturen sind verlässliche Partner, die das Material vor der Veröffentlichung mit eigenen Faktenchecks überprüfen.

Im Krieg arbeiten Geheimdienste mit. Wie weit lassen sich solche Fälschungen schnell aufdecken, da das auch politische Entscheidungsträger beeinflussen kann?

Hier muss man unterscheiden. Es gibt die genannten ‚Deepfakes‘, aufwendig gemachte, unechte Videos. Sie lassen beispielsweise den ukrainischen Präsidentin Wolodimir Selenski etwas sagen, das er gar nicht sagen würde. Solche Deepfake-Videos sind zum Glück recht selten, da sie in der Produktion ziemlich teuer sind und die Tools entsprechend viel kosten.

Die allermeisten Fakes, denen wir im Alltag beim Netzwerk-Faktencheck von SRF begegnen, zeigen Videos und Fotos, die an sich zwar echt sind, aber in einem falschen Zusammenhang gezeigt werden. So sollte ein Foto angeblich ukrainische Flüchtlinge aus Kiew vom 16. März 2022 zeigen, doch es waren tschetschenische Flüchtlinge im Jahr 2000. Solche Fakes können durch ‚Reverse Image Search‘, also eine Rückwärts-Bildersuche, sehr schnell identifiziert werden. “

Genauso wie bei eher theoretischen Gebilden wie der Flach-Erde-Theorie ist bei Fakten nicht immer klar, mit welchem Ziel sie formuliert werden, und manchmal wird das Ziel absichtlich verschleiert. Bei Fake-News, die als Tatsachen daherkommen, ist das Ziel nicht, uns über die dargestellte Tatsache zu informieren, sondern bei uns Reaktionen wie Empörung etc. hervorzurufen. Es gibt Kontexte wie etwa in einem Krieg oder auch generell bei einer Auseinandersetzung um Machtansprüche (wie bspw. in einem Wahlkampf) oder bei der Durchsetzung von Interessen (wie bspw. in der Werbung), wo wir solche verschleierten Absichten erwarten müssen und daher eine besonders gründliche Überprüfung angesagt ist.

Verschleierte Interessen erkennt man auch im Zusammenhang mit Fakten, indem man die Darstellung verschiedener Experten vergleicht und dabei die Experten nach ihrer Glaubwürdigkeit gewichtet. Wie Stefanie Strahm oben sagt, betrachtet sie die Agenturen wie Reuters, AP oder EVN als so glaubwürdig, dass sie hier keine eigene Überprüfung vornimmt.

Wie Stefanie Strahm bei der Überprüfung der Bilder des zerstörten Theaters vorgeht, entspricht dem, was ich als Triangulation bezeichnet habe: Die Resultate verschiedener Darstellungen aus unterschiedlichen Quellen (die aktuellen Kriegsfotos und die älteren Bilder von Street View) werden verglichen; stimmen sie überein, steigt das Vertrauen in die Brauchbarkeit der Darstellung.

Auch Fakten sind Denkwerkzeuge zu Behandlung eines bestimmten Ausschnitts der Welt. Sie können gleich beurteilt werden, wie alle anderen Denkwerkzeuge.

Und wie mehrfach betont, ist dabei der erste Schritt immer, abzuklären, mit welchem Ziel, mit welchem Interesse diejenigen arbeiten, die Werbung für ein bestimmtes Denkwerkzeug machen. Im folgenden Beispiel nimmt uns diese Arbeit der Polizeichef von Chicago ab.

Der Fall Jussie Smollett

Über den Fall Juissie Smollett wurde auf allen Kanälen berichtet. Hier ein kurzer Auszug aus einer Meldung auf SRF[4]:

„Vor gut drei Wochen hatte der schwarze Schauspieler Jussie Smollett bekannt gegeben, er sei in Chicago von zwei Männern angegriffen worden. Sie hätten rassistische und homophobe Parolen geschrien, ihm einen Galgen um den Hals gebunden und mit Bleichmittel überschüttet. Nun hat die Polizei Smollett verhaftet. Er soll den Anschlag auf sich selber inszeniert haben. […] Chicagos Polizeichef Eddie Johnson rang sichtlich um Worte, als er am Donnerstag die Ermittlungsergebnisse kommentierte. Smollett habe Ängste vor rassistischen Angriffen dazu genutzt, um seine Karriere vorwärts zu bringen.“

Weiter lesen >> Forschung


[1] https://www.srf.ch/sport/fussball/internationale-ligen/wolfsburg-weiter-in-der-krise-rekordmann-lewandowski-und-jubilar-mueller-fuehren-bayern-zum-sieg

[2] https://www.n-tv.de/sport/fussball/Nur-Lewandowski-sorgt-fast-fuer-Uberraschung-article23007993.html

[3] https://www.srf.ch/news/international/fake-bilder-im-ukraine-krieg-so-laeuft-der-video-und-foto-faktencheck-bei-srf

[4] https://www.srf.ch/news/international/erfundenes-hass-verbrechen-smolletts-inszenierung-spielt-trump-in-die-haende