Selbst zur Expertin, zum Experten werden

Unter Den eignen Erfahrungen trauen? habe ich schon angedeutet, unter welchen Umständen wir es im Ernst mit einem anderen Denkwerkzeug versuchen können, als das von der Mehrheit der Expert:innen bevorzugte: Wenn wir in einem Bereich selbst zur Expertin bzw. zum Experten werden. Ich habe ja nur darum vorgeschlagen, dass wir der Mehrheit der Expert:innen folgen sollen, weil wir typischerweise die Argumente, die in der Diskussion dieser Expert:innen genutzt werden, nicht wirklich verstehen können. Sind wir hingegen selbst Expertin oder Experte im entsprechenden Bereich, dann ändert sich das.

Es gibt gute Gründe, zu versuchen, selbst Experte oder Expertin zu werden, denn der Mehrheit der Expert:innen zu folgen ist keine Garantie, dass wir so das für uns nützlichste Denkwerkzeug wählen. Unter anderem kann sich auch eine grosse Menge von Expert:innen irren. In der Geschichte der Wissenschaft ist dies immer wieder geschehen. Wohl alles, was heute als bewährte Ansicht gilt, war einmal eine Minderheitsmeinung, so auch die Idee, dass die Erde um die Sonne kreist oder dass Ärzte sich häufig die Hände waschen sollten, wenn sie ihre Patientinnen nicht unnötig gefährden wollen[1]. In all diesen Fällen bestanden alte, bewährte Denkwerkzeuge und entsprechend mussten diejenigen, die etwas Neues entwickelten, einiges an Überzeugungsarbeit leisten, bis ihr Vorschlag als nützlich akzeptiert wurde.

Ernsthaft ein neues Denkwerkzeug entwickeln können wir aber nur, wenn wir einerseits die bestehenden gut kennen und andererseits mit dem neuen Werkzeug viele Erfahrungen sammeln. Nur so können wir das neue Werkzeug immer wieder verfeinern, bis wir zu etwas gelangen, dessen Brauchbarkeit auch andere überzeugt. Auf diesem Weg werden wir selbst zum Experten, zur Expertin sowohl für das alte Werkzeug, das wir ersetzen möchten, als auch für das neue. D.h. wenn Sie ernsthaft und nicht nur spielerisch ein anderes Denkwerkzeug als die Mehrheit der Expert:innen nutzen wollen, dann können Sie das tun, wenn Sie selbst in diesem Zusammenhang zur Expertin oder zum Experten werden. Das ist Arbeit, viel Arbeit. Sie kann lohnend sein, wenn dadurch etwas entsteht, das auch für andere nützlich ist.

Der Experte hinter diesem Text

Bei mir war es so, dass ich nach einer eher spielerischen Phase der Gegenüberstellung von Kritischem Rationalismus und Pragmatismus gegen Ende meines Studiums begann, mich ernsthaft mit den Ideen auseinanderzusetzen, die diesem Buch zugrunde liegen. Meine Lizentiatsarbeit (heute würde man dem Masterarbeit sagen) hatte dann auch den Titel „Wissenschaftstheoretische und erkenntnistheoretische Überlegungen im Rahmen der Sozialwissenschaften.“ Für diese Arbeit hatte ich an die hundert Artikel und Bücher anderer Autoren gelesen, einiges an Kritik zum Kritischen Rationalismus kennengelernt und die Überlegungen und Erfahrungen zum Pragmatismus. Gleichzeitig habe ich ausprobiert, wie es sich anfühlt, wenn man unter einer pragmatischen Perspektive Forschung betreibt.

Dies hat sich dann über die Jahre fortgesetzt. Ich bin dabei zum Experten geworden und habe dabei dafür, dass man mit meiner Form des Pragmatismus gut arbeiten kann, so viele positive Erfahrungen gesammelt, dass ich mich getraue, dieses Denkwerkzeug hier für einen allgemeineren Gebrauch vorzuschlagen. Ob es allerdings je das Werkzeug der Wahl der Mehrheit der Expert:innen wird, bleibt abzuwarten.

Wenn wir uns vom Urteil der Mehrheit der Expert:innen unabhängig machen wollen, dann müssen wir selbst Expertin oder Experte werden. Aber das ist Arbeit, viel Arbeit, und dauert Jahre!

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[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Ignaz_Semmelweis