Journalismus

Aber auch wenn wir selbst in einem Bereich zur Expertin, zum Experten werden, können wir das nur, wenn wir alle möglichen Quellen einbeziehen. Und damit wir das kritisch tun können, ist es nützlich, wenn wir etwas darüber wissen, unter welchen Bedingungen diese Quellen arbeiten, wie bspw. die Medien.

Die Produktionsbedingungen im Journalismus führen dazu, dass auch seriöse Medien, die sich Mühe geben, ausgewogen zu berichten, gewisse Themen deutlich ausführlicher behandeln als andere. Wird ein Fussgänger beim Überqueren der Strasse von einem Auto angefahren, ist das eine Meldung wert. Die vielen tausend Fussgänger, die am selben Tag unversehrt die Strasse überqueren, erwähnt hingegen niemand. Das kann uns dazu verleiten, anzunehmen, dass Unfälle viel häufiger sind, als es tatsächlich der Fall ist.

Wie gesagt sollten wir vorsichtig sein, wenn wir aufgrund unserer Erfahrungsbasis (hier den gelesenen Unfallberichten) Schlüsse ziehen (auf die Häufigkeit von Unfällen). Unsere Erfahrungsbasis ist in praktisch allen Bereichen zu schmal für solche Schlussfolgerungen. Befolgen wir diese Empfehlung, sollte uns dieser Fehler also nicht passieren. Noch besser können wir uns vor unzulässigen Verallgemeinerungen schützen, wenn wir uns bewusst sind, zu welchen Verzerrungen die Auswahlprozesse im Journalismus ganz automatisch führen. Hier ein paar Beispiele. Mehr dazu findet man im empfehlenswerten Buch „News Literacy“ von Seth Ashley. [1]

Falsche Ausgewogenheit

Seriöse Medien bemühen sich, nach Möglichkeit jeweils die Meinungen/Denkwerkzeuge verschiedener Gruppen wie Parteien etc. zu Worte zu kommen lassen. Das kann paradoxerweise zu einer falschen Ausgewogenheit führen. Erhält in einem Beitrag zur Klimakrise ein von der menschengemachten Klima-Erwärmung überzeugter Forscher gleich viel Platz wie ein Klima-Leugner, kann bei uns als Leser:innen der Eindruck entstehen, diese wären zwei gleichberechtigte, gleichbewährte Denkwerkzeuge. Dabei vertritt der Forscher die grosse, grosse Mehrheit aller Experten zum Thema und der Klimaleugner ist, wenn überhaupt Experte, nur Anhänger einer kleinen Minderheit.

Gerade beim Thema Klimakrise ist diese falsche Ausgewogenheit gut untersucht. In einer Studie wurden 100.000 Artikel zur Klimakrise analysiert. „Das Ergebnis: 386 ausgewählte ‚Klimawandelskeptiker‘ waren häufiger Autor oder wurden öfter zitiert als 386 renommierte Klimaforscher:innen – sogar in Qualitätsmedien wie der New York Times.“ [2] Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie lässt sich Ähnliches beobachten.

Unfälle, Verbrechen, Katastrophen

Wie schon eingangs beschreiben, ist die geglückte Überquerung einer Strasse durch einen Fussgänger keine Meldung wert. Das ist zuerst einmal eine Folge eines verständlichen menschlichen Kommunikationsmusters: Warnungen vor Gefahren haben Vorrang und erregen unsere Aufmerksamkeit mehr, als alle anderen Arten von Meldungen. [3]

Medien gleich welcher Art ringen um Aufmerksamkeit, also bringen sie bevorzugt Meldungen über negative Ereignisse, da diese mehr Aufmerksamkeit erhalten. Bspw. ist die Anzahl der Todesfälle pro Jahr in Folge von Naturkatastrophen in den letzten hundert Jahren praktisch konstant geblieben, obwohl sich die Weltbevölkerung vervierfacht hat[4]. Die Gefahr für den Einzelnen ist also auf ein Viertel gesunken. Aufgrund der Berichterstattung in den Medien könnte man aber das Gegenteil annehmen. Ähnliches gilt für viele Gebiete[5],[6] wie extreme Armut, Hunger, Selbstmordrate, Anzahl Personen auf der Flucht etc.

Geschichten

Wenn es sich nicht um ein schreckliches Ereignis handelt, dann besteht eine andere Methode des Journalismus darin, Geschichten zu erzählen. Geschichten benötigen einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Sie funktionieren besonders gut, wenn es dabei um Konflikte geht, und sie benötigen Protagonist:innen/Helden. Wahlen, v.a. die amerikanischen Präsidentschaftswahlen, bieten das ideale Format für Geschichtenerzählungen, welche die Medienkonsumenten eine Zeit lang bei der Stange halten. Sie beginnen mit den Vorwahlen und enden mit dem Sieg eines der Protagonisten.

Ereignisse, die sich als Geschichten erzählen lassen, haben es daher leichter, Erwähnung in den Medien zu finden. Das langsame Reifen der Trauben im Weinberg tut sich schwer gegen den Hahnenkampf zwischen Elon Musk und Jeff Bezos um die Eroberung des Weltraums.

Dass die Aktualitäten oft als Geschichten erzählt werden, hat neben der Chance, überhaupt erwähnt zu werden, noch andere Auswirkungen. Einmal hat eine Geschichte einen definierten Anfang. Alles, was vorher geschehen ist, wird ausgeblendet. Das führt dazu, dass in den Medien Tagesaktualitäten ohne Hintergrund, ohne geschichtliche Einordnung dominieren. Eine Geschichte endet auch. Ist dieses Ende erreicht, verschwindet das Thema aus dem Fokus. Und da eine Geschichte Helden braucht, werden oft Ereignisse personalisiert und Erfolge und Misserfolge einzelnen zugeschrieben, auch wenn typischerweise an jedem Erfolg viele beteiligt sind. Bspw. haben wir in der Sportberichterstattung die Geschichte des Wettkampfs, die irgendwann kurz vor dem eigentlichen Start beginnt und mit dem Sieg oder der Niederlage endet, mit der Sportlerin als Heldin im Zentrum. Das Team an Betreuer:innen hinter diesem Sieg, von denen jede und jeder einzelne genauso wichtig war, wird zwar routinemässig verdankt, ist aber nicht wirklich Teil der Geschichte, genauso wenig die jahrelange kontinuierliche Arbeit, in dessen Ablauf der Wettkampf nur ein ganz kleiner Ausschnitt darstellt.

Dieses Schwergewicht auf das Erzählen von Geschichten führt dazu, dass wir oft das Weltgeschehen als eine Auseinandersetzung Einzelner entweder mit widrigen Umständen oder mit einem Gegner sehen. Nicht gerade eine besonders nützliche Art, die Welt zu begreifen.

Bevor man Schlüsse aus Darstellungen in den Medien zieht, sollte man sich bewusst machen, wie die Produktionsbedingungen im Journalismus Auswahl und Format der Meldungen beeinflussen.

Weiter lesen >> Journalist:innen als Expert:innen


[1] Ashley, S. (2020). News Literacy and Democracy (Kindle-Version ed.): Taylor and Francis.

[2] https://www.journalist.de/startseite/detail/article/verzerrte-darstellung

[3] Ashley, S. (2020). News Literacy and Democracy (Kindle-Version ed.): Taylor and Francis.

[4] https://www.deutschlandfunk.de/naturkatastrophen-erschreckende-statistik-mit-positivem-100.html

[5] https://www.gapminder.org/

[6] Rosling, H., Rosling, O., & Rosling Rönnlund, A. (2018). Factfulness: Ten Reasons We’re Wrong About The World – And Why Things Are Better Than You Think . Mit einer ähnlichen Stossrichtung: Bregman, R. (2021). Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit: rororo.