Nützlichkeit

Es dürfte einleuchten, dass man am besten dann sagt „Es ist jetzt 12 Uhr mittags“, wenn alle anderen in der Umgebung das auch tun. Aber sich in allen Fragen immer den Menschen in der Umgebung anschliessen, mit denen man kooperieren muss und will? Gibt es keine anderen Kriterien?

Wie ich zu zeigen versucht habe, ist „Wahrheit“ ein problematisches Kriterium. Es gibt vermutlich keine Möglichkeit mit absoluter Sicherheit zu sagen, dass die Rund-Erde-Theorie „wahr“ ist, die Flach-Erde-Theorie dagegen nicht – oder umgekehrt. Wir können aber sehr wohl sagen, dass die unterdessen gut ausgearbeitete Rund-Erde-Theorie mit der zugehörigen Physik sich als sehr nützlich erwiesen hat. Sie erlaubt es uns, die Jahreszeiten und die damit verbundene Ab- und Zunahme der Tageslänge zu verstehen. Sie erlaubt es uns, optimale Flug- und Schiffsrouten zu planen. Sie erlaubt es uns, Satelliten kreisen zu lassen, die bessere Wetterprognosen ermöglichen oder die unserem Navi dabei helfen zu entscheiden, welche Ausfahrt wir beim nächsten Verkehrskreisel nehmen müssen … und vieles mehr.[1]

Die Frage nach der Nützlichkeit ist meist viel weniger problematisch als die Suche nach der „Wahrheit“ (vgl. Geschichtliches zur Wahrheit). Denn wenn wir eine Theorie wie bspw. die Rund-Erde-Theorie benutzen wollen, um bestimmte Ziele zu erreichen, dann erleben wir direkt, ob das funktioniert. Setzen wir sie ein, um ein Navigationssystem zu bauen, dann erweist sie sich als nützlich, wenn uns unsere Navis zuverlässig ans Ziel führen. Wir müssen nicht lange darüber diskutieren, woran wir in diesem Fall die Nützlichkeit erkennen wollen. Wenn wir meistens am gewünschten Ziel ankommen, ist die eingesetzte Theorie nützlich; wenn wir ständig woanders landen, als wir eigentlich geplant haben, dann nicht.

Ich schlage deshalb vor, Nützlichkeit als zentrales Kriterium zu verwenden. Ob es mir hilft, mit meiner Umwelt zu kooperieren, ist dabei ein Aspekt dieser Nützlichkeit, aber nicht der einzige.

Begnügen wir uns mit der Frage, ob etwas für uns nützlich ist, wenn wir daran glauben. Vergessen wir die Frage nach der Wahrheit.

Diese Frage stellt sich mir auch bei der Behauptung meiner neuen Bekannten, sie sei wiedergeboren: Was bringt es ihr, daran zu glauben? Was bringt es mir, daran zu glauben? Ob es „wahr“ ist, darüber kann man in diesem Fall nur spekulieren. Aber aus der Frage: „Was bringt dir dieses Wissen/dieser Glaube“ kann ein interessantes Gespräch entstehen, sofern mein Gegenüber überhaupt ein solches zulässt. Dasselbe gilt für die Impffrage: Was haben die Eltern davon, wenn sie glauben, dass es für ihre Kinder wichtig ist, Kinderkrankheiten durchzumachen? Was haben ich und meine Kinder davon, wenn wir sie impfen und sie daher die entsprechenden Kinderkrankheiten nicht durchmachen?

Ich werde im Folgenden versuchen herauszuarbeiten, wie man diese Frage nach der Nützlichkeit von Wissen, Informationen, Theorien, Modellen etc. beurteilen kann. Dabei werde ich ganz allgemein von Denkwerkzeugen sprechen. Alle Theorien, also auch der Glaube an eine Wiedergeburt oder die Impfskepsis oder das Rund-Erde-Modell sind Denkwerkzeuge, die uns helfen, gewisse Ziele zu erreichen. Und entsprechend macht es Sinn, sie bezüglich ihrer Tauglichkeit zu vergleichen.

Die philosophische Schule, die diese Haltung vertritt, wird Pragmatismus genannt[2]. Eine der Grundüberzeugungen des Pragmatismus ist die folgende: Wenn wir nur dasitzen und die Welt betrachten, können wir nie sicher sein, ob das, was wir sehen, nicht eine Illusion ist. Im Moment, wo wir hingegen handelnd in die Welt eingreifen, erhalten wir eine viel direktere Rückmeldung – zumindest darüber, ob die allfällige Illusion eine nützliche ist.
Mein Vater war lange Zeit Anhänger der Vorstellung, dass wir uns die ganze Welt nur einbilden, dass Berge, Wälder und Flüsse nur Illusionen sind. Mit 40 hatte er etwas Gewicht zugelegt. Als er versuchte, zusammen mit uns Kindern einen rund 3‘000 Meter hohen Gipfel zu besteigen, schaffte er das nur mit grösster Mühe und tropfend vor Schweiss. Da wechselte er das Denkwerkzeug und betrachtete von da an steile Bergflanken als mehr als nur reine Illusionen.

 

Weiter lesen >> Verwendungszweck


[1] Vielleicht könnte eine gut ausgebaute Flach-Erde-Theorie genauso nützlich sein. Aber dazu bräuchte es auf jeden Fall noch sehr viel Arbeit.

[2] Bspw. Dewey, J. (1929). The Quest for Certainty: A Study of the Relation of Knowledge and Action. New York: Minton, Balch and Co. (deutsch: Dewey, J. (1998). Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.)