Geschichtliches zur Wahrheit

Philosophen und Wissenschaftstheoretiker haben seit Jahrtausenden versucht, Kriterien dafür anzugeben, woran man Wahrheit erkennen kann. Und sie sind alle gescheitert. Ich möchte hier nicht diese ganze Diskussion aufrollen, die irgendwo mit Plato bei den alten Griechen beginnt und im Grunde genommen immer noch andauert.[1] Hier nur ein paar Stichworte zur Entwicklung in neuerer Zeit.[2]

Wenn es früher wissenschaftliche Grundsatzdiskussionen gab, war es bis weit in die Neuzeit die Autorität der Person, die darüber entschied, ob etwas als wahr galt. Lange Zeit waren das vor allem die offiziellen Vertreter der Kirche, später die angesehenen „Wissenschaftler“. Erst im 19. Jahrhundert setzte sich die Haltung durch, dass nicht die Person entscheidend ist, sondern die Methode, mit der sie das Wissen erarbeitet. Hatte jemand sauber zehnmal hintereinander verschieden schwere Kugeln vom Schiefen Turm von Pisa herunterfallen lassen und hatte es immer gleich lange gedauert, bis die Kugeln unten aufschlugen, so war er berechtigt zu sagen, dass die Fallgeschwindigkeit nicht vom Gewicht der Kugeln abhängt. Galileo war also nicht berechtigt, diese Behauptung aufzustellen, weil er ein „grosser Wissenschaftler“ war, sondern weil er ähnliche Experimente gemacht hatte.[3]

Vermutlich ist das die Haltung, mit der noch heute viele Forschenden ans Werk gehen. Aber es war schnell jemand mit der Frage bei der Hand: Ja und woher soll man denn wissen, was beim elften oder beim zweihundertsten Mal passiert? Als warnendes Beispiel wurde die Sache mit den Schwänen angeführt: Jemand, der in Europa lebt, kann in seinem Leben tausend weisse Schwäne sehen und daher felsenfest davon überzeugt sein, dass alle Schwäne weiss sind. Kommen solche Europäer:innen aber nach Australien, werden sie feststellen, dass es auch schwarze Schwäne gibt. Eine einflussreiche Haltung war daher längere Zeit, dass Experimente nie dazu dienen können, etwas zu beweisen (dass alle Schwäne weiss sind), aber sehr wohl geeignet sind, etwas zu widerlegen (nicht alle Schwäne sind weiss). Aus dieser Sicht wäre es die Aufgabe der Wissenschaft nicht, zu beweisen, dass etwas wahr ist, sondern ständig nach Beweisen zu suchen, dass etwas nicht stimmt.[4]

Die meisten Forschenden hat diese Diskussion nicht beeindruckt, denn nur den Auftrag zu haben, etwas zu widerlegen, ist wenig motivierend; spannender ist es, Neues zu entdecken. Aber auch auf der Ebene der philosophischen Diskussion war schnell klar, dass genauso, wie es kein sicheres Experiment geben kann, um zu beweisen, dass wirklich alle Kugeln gleich schnell fallen, es kein sicheres Experiment gibt, um das zu widerlegen. Wenn die elfte Kugel etwas länger braucht, bis sie unten aufschlägt, heisst das nun, dass nicht alle Kugeln gleich schnell fallen? Oder war da vielleicht einfach eine Fliege im Weg, die zwar niemand gesehen hat, aber die die Kugel etwas abbremste? Oder hat derjenige, der die Kugel fallen liess, beim Loslassen etwas gezögert? Oder hat derjenige, der die Zeit stoppen sollte, etwas geschlafen? Wie auch immer: Auch bei einem vermeintlichen Gegenbeispiel kann man nicht mit absoluter Sicherheit sagen, warum es jetzt nicht geklappt hat. Genauso wenig, wie man mit absoluter Sicherheit sagen kann, dass etwas stimmt, kann man kaum je nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass etwas nicht stimmt.

Aktuell geht man davon aus, dass man auf keinen Fall einzelnen Beobachtungen oder einzelnen Forschenden bedingungslos glauben sollte, egal wie sauber ihre Methoden sind. Erst wenn sich unter den Forschenden ein Konsens herausbildet, wenn sich zumindest die grosse Mehrheit der Forschenden einig ist, dass alle Kugeln gleich schnell fallen – und das sind sie – macht es Sinn, dies als wahr zu betrachten. Aber natürlich: Auch wenn sich Tausende von Klimaforschenden einig sind, dass wir auf eine gefährliche Erwärmung zusteuern, können sich im Prinzip immer noch alle zusammen irren.

Newton und Flamsteed[5]

1687 veröffentlichte Isaac Newton sein Hauptwerk und publizierte vier Formeln, mit deren Hilfe man u.a. berechnen kann, wie stark sich Erde und Sonne gegenseitig anziehen und was für eine Bewegung daraus entsteht. Dieselben Berechnungen kann man für alle Planeten machen, und so war es Newton möglich, Prognosen zu machen, wann welcher Planet wo am Himmel zu sehen ist. Er schickte in einem Brief einige solche Prognosen an John Flamsteed, den damaligen obersten Hofastronomen des Königshauses, und bat ihn, diese zu überprüfen. Flamsteed tat dies und schrieb zurück, dass nach seinen Beobachtungen die Prognosen falsch seien. Das beeindruckte Newton aber nicht, sondern er vermutete, dass eher Flamsteeds Beobachtungen nicht korrekt waren.

Nicht dass Newton daran zweifelte, dass Flamsteed und seine Gehilfen sorgfältig gearbeitet hatten, dafür war Flamsteed als viel zu gründlich und gewissenhaft bekannt. Aber man nahm bereits damals an, dass das Licht, wenn es von einem Planeten oder Stern kommen auf die Erdatmosphäre trifft, leicht abgelenkt wird. Das führt dazu, dass die Sterne und Planeten nicht genau dort am Himmel stehen, wo man sie sieht[6] und entsprechend ist eine gewisse Korrektur der Beobachtungsdaten nötig, um die „richtige“ Position der beobachteten Sterne und Planeten zu kennen. Newton vermutete daher, dass nicht seine Berechnungen falsch waren, sondern dass Flamsteed seine Beobachtungen nicht richtig korrigiert hatte. Unterdessen ist allgemein akzeptiert, dass Newton richtig lag.

Das Beispiel illustriert, dass wenn sich Theorie und Beobachtungen widersprechen, nicht zwingend die Theorie falsch sein muss. Denn wenn das Licht bei Eintritt in die Atmosphäre gebrochen wird, muss man das selbstverständlich mit einbeziehen und kann nicht einfach darauf beharren, dass das, was man sieht, „wahrer“ ist als das, was die Theorie vorhersagt.

Ich verwende übrigens hier im Teil „Toleranz“ absichtlich Beispiele aus dem Bereich der Naturwissenschaften. Im Gegensatz zu bspw. der Psychologie, stehen ja die Naturwissenschaften eher im Ruf, dass ihre Gesetze „wahr“ sind. Ich hoffe daher, dass naturwissenschaftliche Beispiele umso eindrücklicher die Probleme mit dem Wahrheitsbegriff illustrieren.

[Nützlichkeit]


[1] Bspw. Wengenroth, U. (Ed.). (2012). Grenzen des Wissens – Wissen um Grenzen. Weilerswist: Velbrück.

[2] vgl. Oreskes, N. (2019). Why Trust Science? Princeton: Princeton University Press.

[3] Allerdings liess er nie etwas vom Turm fallen, sondern Kugeln eine schiefe Ebene hinunterrollen.

[4] Kritischer Rationalismus, bekannter Vertreter: Popper, Karl (1935) Logik der Forschung.

[5] Worall, J. (2003). Normal Science and Dogmatism, Paradigms and Progress: Kuhn ‚versus‘ Popper and Lakatos. In T. Nickles (Ed.), Thomas Kuhn (pp. 65-100). Cambridge: Cambridge University Press.

[6] Dasselbe geschieht, wenn Licht vom Wasser zur Luft überwechselt, sodass bspw. Fische, die wir von aussen im Wasser schwimmen sehen, sich nicht dort befinden, wo sie uns erscheinen. Das macht es nicht ganz einfach, einen Fisch von Hand zu fangen.