Irreführende Form des Werkzeugs
Bei den drei Beispielen unter verschleierte Interessen zeigt die Analyse, dass die jeweiligen Autoren der verschiedenen Studien absichtlich ihre Ziele verschleierten. Etwas anders liegt der Fall bei der Flach-Erde-Theorie. Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dahinter stehe dasselbe Interesse wie bei der Rund-Erde-Theorie, ein technisches Interesse im Sinne von Habermas. Es könnte eine Alternative zur Rund-Erde-Theorie sein, die eine vergleichbare oder gar bessere Navigation auf der Erdoberfläche erlaubt.
Schaut man sich aber an, was die Flat Earth Society auf ihrer Website anbietet, wird schnell klar, dass dies nicht das eigentliche Ziel sein kann. Die Theorie wäre zu diesem Zweck viel zu schlecht ausgearbeitet. Was die Flach-Erde-Theorie an technisch nutzbarem Wissen anzubieten hat, ist im Vergleich zur Rund-Erde-Theorie sehr mager. Dass es eine organisierte Bewegung gibt, die sich für das Flach-Erde-Modell einsetzt, ist auch ein relativ neues Phänomen. Seit mehr als 2000 Jahren waren praktisch alle Wissenschaftler und Philosophen – ob mit christlichem oder muslimischem Hintergrund – vom Rund-Erde-Modell überzeugt. Auch als Kolumbus westwärts aufbrach um Indien auf diesem Weg zu erreichen, war das Rund-Erde-Modell das akzeptierte Modell, denn sonst hätte es ja gar keinen Sinn gemacht, „hinten herum“ nach Indien zu fahren. Erst Washington Irving behauptete 1822 etwas anderes, damit er in einem Buch Kolumbus besser als grossen Helden darstellen konnte.
Die moderne Flach-Erde-Bewegung geht auf eine Schrift von Samuel Rowbotham zurück, die er 1849 publizierte. Die Flat Earth Society wurde erst 1956 gegründet.[1]
Ihren Vertretern geht es offensichtlich um etwas anderes, als ein technisch nutzbares Modell zur Verfügung zu stellen. Sie scheinen die Theorie v.a. als Instrument zu nutzen, um sich empören zu können. Sie geben so ihrem Gefühl, dass sie in ihrem Leben ständig betrogen werden, einen konkreten Ankerpunkt. Das wird unter anderem deutlich, wenn man sieht, wie in den entsprechenden Foren Anhänger sich darüber beschweren, dass mit der elektromagnetischen Beschleunigung eine doch so einfache und einleuchtende Idee wie die flache Erde unnötig kompliziert gemacht wird.
Bezogen auf das Ziel, Empörung kanalisieren zu können, ist die Theorie innerhalb der Gruppe ihrer Anhänger wirksam. Sie erlaubt es ihnen zu denken: Ich sehe doch, was ich sehe (die Erde ist flach) und lasse mich nicht dauernd von all diesen Klugscheissern unterdrücken. Um ausserhalb dieser Gruppe einen breiten Aufstand gegen Wissenschaft und Bildungssystem auszulösen, müsste sie hingegen noch verfeinert werden.
Wie das Beispiel zeigt, kann es vorkommen, dass die Form eines Denkwerkzeugs ein bestimmtes Verwendungsinteresse nahelegt, dass dann aber eine nähere Betrachtung zeigt, dass das damit verbundene Interesse ein ganz anderes ist. In diesen Zusammenhang passt auch meine Ausschmückung des Impfverweigerungsbeispiels, dass es nämlich im Falle der Müllers gar nicht so sehr um die Gesundheit der Kinder geht, sondern um eine sektenhafte Abgrenzung von der Allgemeinheit.
Nicht reflektierte Interessen
Nochmals anders ist die Situation in Bezug auf die anerkannte Wissenschaft und Forschung, wo so gut wie alle Beteiligten davon sprechen, dass sie die „Wahrheit“ ergründen wollen. Entsprechend wird aktuell im wissenschaftlichen Betrieb kaum je über konkrete Erkenntnisziele nachgedacht. Viele Forschenden verschleiern nicht böswillig ihre Ziele, sondern sie sind sich ihrer einfach nicht bewusst.
Ich habe als junger Forschungsassistent ein Beispiel nicht reflektierter Ziele erlebt, das prägend geblieben ist. Der Professor, mit dem ich arbeitete, war zum Schluss gekommen, dass Lehrpersonen unmöglich aufgrund von Tests etc. vorhersagen können, was einzelne Lernende jeweils als Hilfe und Informationen brauchen, um erfolgreich zu lernen (technischer Zugang). Als Alternative dazu schwebte ihm vor, dass man die Lernenden aktiver am Unterricht beteiligt, sodass sie anfangen, Fragen zu stellen und so selbst zu erkennen geben, was sie gerade brauchen (praktischer Zugang).
Er begann daher zu erforschen, wie man die Fragen der Lernenden vorhersagen kann (wieder eine technische Frage).[2] Wäre es gelungen, Fragen präzise vorherzusagen, dann hätten die Lernenden die Fragen allerdings nicht mehr stellen müssen und die Lehrperson hätte jederzeit gewusst, was die Lernenden gerade brauchen. Dabei war das Ganze aber von der Annahme ausgegangen, dass dies nicht möglich ist. Ob dieser schlecht reflektierten Zielsetzung ist das Projekt dann auch versandet.
Da die offizielle Wissenschaft im Moment ihre Ziele so schlecht reflektiert, bleibt oft nichts anderes übrig, als selbst zu überlegen, welche Ziele in welchem Zusammenhang verfolgt werden. Die Kosmologie, die Wissenschaft von der Entstehung und Entwicklung des Universums, wird von gewissen Kreisen manchmal als „Pseudowissenschaft“ bezeichnet. Wenn man ihr ein technisches Interesse unterstellt, dann ist dieser Vorwurf begründet. Kommt die Kosmologie zum Schluss, dass das Universum ungefähr 14 Milliarden Jahre alt ist, dann lassen sich daraus keine Regeln im Sinne von „Wenn ich das mache, dann geschieht jenes“ ableiten. Die Kosmologie scheitert an diesem Prüfstein technischen Wissens. Aber das Ziel der Kosmologie muss man nicht zwingend technisch verstehen. Ihr Ziel ist wohl eher, erklärende Theorien zu generieren, die mit möglichst vielen am Sternenhimmel machbaren Beobachtungen übereinstimmt. Und bezüglich dieses Ziels ist sie erfolgreich und kann gut am Kriterium gemessen werden, wie gut sie alle kosmischen Phänomene abdeckt.
Es zeigt sich also, dass leider nicht immer bekannt ist, im Hinblick auf welche Ziele bestimmte Denkwerkzeuge erarbeitet wurden, sodass wir sie an diesen Zielen messen könnten. Oft braucht es einiges an Gedankenarbeit und Recherche, bis man einen geeigneten Ankerpunkt findet. Dieser Aufwand lohnt sich aber immer, denn nur wenn die Ziele bekannt sind, denen ein Denkwerkzeug dienen soll, kann das Werkzeug auch bewertet werden.
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[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Flat_Earth_Society
[2] Flammer, A., Kaiser, H., & Müller-Bouquet, P. (1981). Predicting what questions people ask. Psychological Research, 43, 407-420.