Ich bin reformiert erzogen und wurde so ungefragt Mitglied der Reformierten Kirche der Schweiz – mit Kirchensteuer, monatlichem Informationsblatt etc. Viele Jahre lang habe ich die Kirchensteuer ohne grosse Gedanken bezahlt. Ich hatte zwar schon lange keinen Bezug zur organisierten Religiosität mehr, besuchte nie einen Gottesdienst und fühlte mich bei den wenigen Taufen und Hochzeiten, die ich nicht vermeiden konnte, nicht wirklich wohl in der Kirche. Aber einerseits war mir aus der Forschung bekannt, dass ein religiöser Glaube für viele Menschen eine positive Wirkung haben kann, dass also für mache der Glaube an einen Gott nützlich ist.[1] Und andererseits war mir bewusst, dass die Kirche in ihrer Gemeindearbeit mit meinem Geld auch Funktionen der Sozialarbeit übernimmt, die ich unterstützenswert finde. Ich sah keinen Grund, hier nicht meinen Beitrag zu leisten.
Mit der Zeit änderte sich das aber. Mir wurde immer mehr bewusst, dass die organisierte Religiosität in vielen grossen Religionen – Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus – dazu benutzt worden war, um einer Gruppe von Insidern – den Gläubigen – das Gefühl zu geben, dass sie besser sind als der Rest der Menschheit und dass sie daher das Recht haben, die anderen zu dominieren. Das Christentum, zu dem ich ja über meine Kirchenmitgliedschaft gehörte, hatte sich hier unrühmlich hervorgetan, in dem bspw. in der Schweiz Fahrenden im Rahmen des Projekts „Kinder der Landstrasse“ ihre Kinder weggenommen wurden.[2] Ähnliche Programme gab es in vielen Ländern, oft auch im Rahmen der Missionsarbeit, so in Australien[3] oder Kanada[4]. Noch radikaler war der Einsatz religiöser Überzeugungen zur Unterdrückung von „Heiden“, als die Eroberer in Mittel- und Südamerika diese mit der Rettung derer Seelen rechtfertigte.
Unterdessen bin ich überzeugt, dass die Bildung einer Ingroup, welche sich Aussenstehenden überlegen fühlt und deren Gefühl zur Unterdrückung dieser Aussenstehenden genutzt werden kann, eine unvermeidliche Folge organisierter Religiosität ist. Ich trat deshalb aus der Kirche aus. Ich wollte solche „Nebeneffekte“ des Glaubens an einen Gott auf keinen Fall unterstützen. Der Betrag, den ich bisher für die Kirchensteuer bezahlt habe, landet nun bei einer gemeinnützigen Organisation, welche ähnliche Aufgaben der Sozialarbeit übernimmt.
Indem wir ein bestimmtes Denkwerkzeug verwenden, tragen wir dazu bei, dass der Gebrauch dieses Werkzeugs im Allgemeinen gefördert wird. Wenn wir uns für die Flach-Erde-Theorie einsetzen, unterstützen wir ihre Verbreitung. Und wenn wir an einen christlichen Gott und an den Himmel glauben, der auf uns wartet, wenn wir gewisse Gebote einhalten und auch die Kirchensteuer bezahlen, ermöglichen wir es, dass Strukturen erhalten bleiben, die unter anderem dazu geführt haben, dass unzählige Kinder ihren Eltern entrissen und in Heimen versorgt wurden.
Nebeneffekte organisierter Religiosität lassen sich auch in anderen Bereichen finden. So führt bspw. die Aufforderung in der Bibel „Macht euch die Erde untertan und herrscht über die Tiere“ nach wie vor dazu, dass sich die christlichen Kirchen mit dem Tierwohl schwer tun.[5] Und im Hinduismus halfen die Vorstellung der Wiedergeburt und die damit verbundene Idee des Karmas sicherlich mit, über lange Zeit die Kastenstruktur zu zementieren und lieferten den höheren Kasten einen Vorwand, die niedrigeren kleinzuhalten. Aus diesem Grund würde ich meine neue Bekannte gerne fragen, was denn bei ihr alles mit der Idee der Wiedergeburt verbunden ist.
Dass wir durch den Gebrauch von bestimmten Denkwerkzeugen auch Nebeneffekte verursachen, ist unvermeidlich und nicht zwingend ein Problem. Dazu wird es nur, wenn diese Nebeneffekte problematisch sind, so wie bspw. die Nebeneffekte organisierter Religiosität. In diesen Nebeneffekten liegt auch das Problem jeder Verschwörungstheorie. Bisher wurde zwar der von QAnon behauptete Kinderhändler-Ring in einer Pizzeria in Washington nirgendwo entdeckt.[6] Daraus kann man sowohl ableiten, dass es ihn nicht gibt als auch, dass er eben sehr gut versteckt und von höchsten amtlichen Stellen geschützt ist – ein typisches Beispiel dafür, dass die Frage nach der Wahrheit häufig nicht entscheidbar ist. Für die Republikaner und vor allem für Donald Trump war die Theorie vom Kinderhändler-Ring hingegen sehr nützlich. Sie hat mit dazu beigetragen, Hillary Clinton, seine Gegnerin im Präsidentschaftswahlkampf, in Misskredit zu bringen. Darüber kann man sich freuen oder nicht, je nachdem, ob man Anhänger der Republikaner oder der Demokraten ist. Unabhängig davon ist aber verheerend, dass die Theorie, wie die meisten Verschwörungstheorien, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen untergräbt und so eine wichtige Basis der für menschliches Leben notwendigen Kooperation zerstört.
Anhänger jeglicher Verschwörungstheorie, und seien sie noch so „harmlos“ wie der Glaube, dass die Mondlandungen im Studio gefilmt wurden[7], sollten sich dieses Nebeneffekts bewusst sein. Das gilt selbstverständlich auch für Impfverweigerer, die die Meinung verbreiten, dass es damit um einen Versuch von Bill Gates geht, die Menschheit unter Gedankenkontrolle zu bekommen, indem bei jeder Impfung ein Mikrochip implantiert wird.[8]
Weiter lesen >> Verschleierte Interessen
[1] Bspw. https://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/religion-hat-der-glaube-eine-gesundheitsfoerdernde-wirkung-a-939684.html
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kinder_der_Landstrasse
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Gestohlene_Generationen
[4] https://www.deutschlandfunk.de/ethnozid-und-seine-nachwirkungen-kanadas-entwurzelte-100.html
[5]https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/wesen-ohne-wuerde-warum-sich-die-religion-mit-dem-tierwohl-schwertut
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/QAnon
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Verschwörungstheorien_zur_Mondlandung
[8] Bspw. https://www.derstandard.de/story/2000127360773/mikrochips-in-covid-impfungen-wie-die-absurde-verschwoerungserzaehlung-entstand