Gender

LGBT*Q

1968, als ich ein Teenager war, haben wir die Menschen in zwei Kategorien eingeteilt: Frauen und Männer. Es gab schwule Männer, das wussten wir, denn schliesslich lernten wir am Gymnasium, dass es in der Antike in gewissen Kreisen von Männern zum guten Ton gehörte, sich einen Lustknaben zu leisten. Aber schwule Männer waren trotz allem Männer.

Dieses Denkwerkzeug, mit dem die Menschheit in zwei Kategorien eingeteilt wird, hat evolutionsgeschichtliche Wurzeln. Will man sich auf traditionellem Weg fortpflanzen, funktioniert das nur mit einem Partner bzw. Partnerin der anderen Kategorie. In einer Menschheit, die über kein Denkwerkzeug zur Unterscheidung zwischen passenden und unpassenden Reproduktionspartnern verfügt hätte, wäre die Reproduktion zumindest ineffizient gewesen, da auf Versuch und Irrtum angewiesen. Entsprechend können bereits Kinder im Alter von 4 Monaten weibliche und männliche Gesichter unterscheiden (und scheinen weibliche zu bevorzugen!?!).[1]

Dieses Denkwerkzeug wurde dann ausgebaut und jahrhundertelang dafür verwendet, einer der beiden Gruppen die Vorherrschaft zu sichern, den (alten, weissen) Männern. Ich bin auch einer davon und ich bin mir verschiedener Momente in meinem Leben bewusst, wo ich davon profitiert habe. (Bspw. als meine Eltern mir ein interessantes Studium finanzierten, meiner Schwester aber nicht.) Das Denkwerkzeug ist deshalb zu Recht in Misskredit geraten und muss ersetzt werden.

Das ist auch möglich geworden. Vor knapp fünfzig Jahren war ich noch in ernsthafte Diskussionen darüber verwickelt, ob in einer Gesellschaft, die keinen Platz für Schwule vorsieht, es nicht einfacher wäre zu versuchen, heterosexuell zu leben, als all die Heimlichkeiten etc. auf sich zu nehmen, die mit einem schwulen Leben verbunden waren. Jetzt, wo im Prinzip ein offenes schwules Leben möglich wird, gibt es deutlich weniger Bedarf für solche Überlegungen. Und ich hoffe, dass sie bald für alle, also bspw. auch für Fussballer, überflüssig werden.

Sogar das ursprüngliche Denkwerkzeug zur Reproduktionssicherung hat mit der Möglichkeit der Samen- und der Eispende und den nun vorhandenen laborbasierten Reproduktionstechniken an Bedeutung verloren. Wir können die Einteilung also auch zu Gunsten derer, für die sie schon rein biologisch nicht passt, fallen lassen.

Die Frage ist nur, mit welchen Denkwerkzeugen wir in Zukunft arbeiten wollen. LGBT*Q ist eine nützliche Erinnerung daran, dass das alte Denkwerkzeug vieles unter den Tisch gekehrt hat und ersetzt werden muss. Und auch der Genderstern ist in dieser Hinsicht sehr nützlich, jedenfalls für mich. Wenn da bspw. „Arzt“ steht, dann sehe ich automatisch ein männliches Wesen vor mir, obwohl ich verschiedenste Ärztinnen kenne. Meine Sozialisation sitzt so tief, dass ich wohl noch einige Zeit auf die typographische Hilfe von „Ärzt*innen“ oder ähnlichem angewiesen sein werde, um nicht immer wieder in ein männerdominiertes Weltbild zurückzufallen.

LGBT*Q und Genderstern sind Denkwerkzeuge, die uns helfen sollen, die alten Einteilungen los zu werden. Aber im sozialen Alltag sind wir auf griffige Einteilungen angewiesen. Vom Servicepersonal in einem Restaurant erwarte ich, dass es eine Bestellung aufnimmt und dann nach einiger Zeit das Bestellte serviert. Andere Erwartungen leiten meine Interaktion an der Supermarkkasse etc. Wenn ich mich auf all diese Einteilungen – Servicepersonal, Kassenpersonal, Ärzt*innen – nicht verlassen kann, ist mein Alltagsleben nicht mehr handhabbar.

Die alte Einteilung in Frauen und Männer war griffig und klar. Männer durften ein Bankkonto eröffnen, verheiratete Frauen nicht (in der Schweiz bis 1976). Ich denke, im Genderbereich benötigen wir mittelfristig wieder ein Denkwerkzeug, das zwar besser allen vorhandenen Bedürfnissen gerecht wird, aber nicht viel komplexer ist, als es die alte Einteilung war. Momentan ist ein solches Denkwerkzeug allerdings noch nirgends zu erkennen und wir müssen daher mit den höheren Kosten leben, welche die Flexibilisierung der Genderkategorien mit sich bringt.

[Kosten]


[1] Quinn PC, Yahr J, Kuhn A, Slater AM, Pascalils O. Representation of the gender of human faces by infants: a preference for female. Perception. 2002;31(9):1109-21.