Während ich das geschrieben habe, steckten wir in der ungefähr dritten Welle der COVID-19 Pandemie. In den Medien fanden sich täglich Angaben zu Neuinfektionen, Todesfällen, 14-Tage-Inzidenzen, Bettenbelegungen etc. Indien bspw. meldet an einem Tag 323‘144 Neuinfektionen, die Schweiz nur 2‘135. Ist das nun eine nützliche Information? Können sich die Schweizerinnen und Schweizer beruhigt zurücklehnen, wogegen Inder und Inderinnen um ihr Leben fürchten müssen?
Wenn es darum geht, Angst und Schrecken zu verbreiten und fragwürdige Rekorde aufzustellen („weltweit höchste Anzahl“), dann erfüllt die nackte Zahl der Neuinfektionen ihren Zweck bestens. Will man aber wissen, ob nun Indien im Gegensatz zur Schweiz dringend Hilfe benötigt, dann macht es Sinn, sich einmal die Grösse der beiden Länder anzuschauen: Indien 1‘366 Millionen Einwohner, die Schweiz 8.5 Millionen. Pro 1 Million Menschen in Indien haben sich heute 236 neu angesteckt, in der Schweiz sind es 285 Neuansteckungen auf 1 Million Menschen.
Tendenziell ist die Lage in der Schweiz also eher etwas beunruhigender als in Indien. Aus Indien erreichen uns aber alarmierende Berichte, dass die Kranken keinen Platz mehr in den Spitälern finden, aus der Schweiz hört man nichts Vergleichbares. Wenn es darum geht, wie stark das Gesundheitssystem belastet ist, wäre daher eine nützlichere Angabe, wie stark die Spitalbetten für die Intensivpflege ausgelastet sind. Für die Schweiz sind die Betten aktuell zu etwa einem Fünftel mit COVID Erkrankten ausgelastet. Für Indien habe ich auf die Schnelle keine direkt vergleichbaren Zahlen gefunden. Aber auf www.indexmundi.com gibt es eine Tabelle mit Krankenhausbetten pro 100 Einwohner: Indien 0.5, Schweiz 4.7. Krankenhausbetten sind nicht alle Intensivpflege-Betten, aber grob können wir vermutlich annehmen, dass in Indien proportional rund neunmal weniger Betten zur Verfügung stehen. Und wenn wir weiter annehmen, dass die Neuansteckungen in Indien genau gleich häufig zu schweren Verläufen führen wie in der Schweiz, dann sind die Betten in Indien offensichtlich hoffnungslos überlastet.
Auf diesem Hintergrund kann man sich fragen, warum überhaupt die Anzahl Neuansteckungen berichtet wird und nicht nur die viel informativere Auslastung der Intensiv-Betten. Ein Grund dafür ist, dass die Anzahl Neuansteckungen ein Frühwarnsignal für die Auslastung der Spitalbetten ist. Bis nach einer Ansteckung jemand im ungünstigsten Fall auf der Intensivpflege landet, geht es bis zu zwei Wochen. Wenn also die Betten alarmierend voll werden, ist es etwas spät, Massnahmen zur Reduktion der Ansteckungen zu ergreifen. Es gibt in diesem Moment schon viele Angesteckte, von denen einige noch ein Spitalbett benötigen werden.
Um vorausschauend planen zu können, müsste man also wissen, wie viele der 2‘135 Neuangesteckten von heute vermutlich in ein bis zwei Wochen ins Spital kommen. Es scheinen irgendwo um 1 % zu sein, also ca. 20 Personen. Wie viele Betten gebraucht werden, um 20 Neueintritte pro Tag bewältigen zu können, hängt davon ab, wie lange diese Patienten ein Bett belegen. Es scheinen etwa 14 Tage zu sein, also werden bei rund 2‘000 Neuansteckungen pro Tag ca. 280 Betten benötigt. Da es 875 solche Betten gibt, ist die Schweiz im Moment auf der sicheren Seite. Allerdings gilt es dabei noch zu beachten, dass auch andere Patienten wie Opfer von Verkehrsunfällen etc. Intensivbetten benötigen, sodass man sicher nicht alle mit COVID Patienten belegen sollte.
Die Anzahl Neuansteckungen ist also eine nützliche Information, wenn es darum geht, vorausschauend zu erkennen, ob bald einmal die Intensivbetten überlastet sein werden. Damit sie aber nützlich ist, braucht es eine Vorstellung, eine Theorie dazu, wie viele Neuinfizierte Intensivpflege brauchen und wie lange sie ein Intensivpflege-Bett belegen werden. Um die Erarbeitung dieser Vorstellung bemühen sich Epidemiolog:innen. Ihre Arbeit wird dadurch erschwert, dass diese Zusammenhänge sich ständig etwas verändern, etwa weil eine neue Variante des Virus auftaucht oder weil sich andere Altersgruppen anstecken.
Das Fallbeispiel zeigt, die Anzahl Neuansteckungen in der Schweiz kann nützlich sein, um zu erkennen, ob bald einmal die Spitäler in der Schweiz überlastet sein werden. Sie eignet sich aber nicht, um die Situation in der Schweiz (nur 2‘135 Neuansteckungen) mit der in Indien (323‘144 Neuinfektionen!) in dieser Hinsicht zu vergleichen.
Ein Denkwerkzeug, das im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel nützlich ist, ist nicht zwingend auch für andere Zwecke brauchbar.
Ein Hammer ist ein wunderbares Werkzeug, um Nägel einzuschlagen. Aber als Schraubenzieher taugt er einfach nicht. Genauso sind die Denkwerkzeuge, die Habermas dem praktischen Interesse zuordnet, seit Tausenden von Jahren bewährte Instrumente, um sich mit anderen Menschen zu koordinieren. Wenn ich aber den Tisch, an dem ich gerade sitze, woanders hinstellen möchte, damit ich beim Schreiben besseres Licht habe, bringt es nicht viel, wenn ich mir über die Gefühle und Motive des Tisches Gedanken mache. Es war die grosse Revolution der modernen Naturwissenschaften, dass sie von jedem Versuch in diese Richtung Abstand nahmen und konsequent auf technische Denkwerkzeuge im Sinne Habermas setzten. Dadurch wurde die rasante Technologieentwicklung möglich, an dessen Ende u.a. der Laptop steht, auf dem ich gerade schreibe.
Dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt. Daraus, dass sich die technischen Denkwerkzeuge in den letzten Jahrhunderten so erfolgreich entwickelt haben, folgt noch lange nicht, dass sich dieser Zugang auch eignet, wenn man sich mit Menschen koordinieren möchte. Selbstverständlich kann man versuchen, ein Werkzeug zu einem anderen Zweck einzusetzen, als den, wofür es entwickelt wurde. Eine Beisszange eignet sich ja auch ganz passabel als Hammer. Aber wie gesagt, der Hammer versagt als Schraubenzieher. Und daher ist es nicht gesagt, dass man in der Zusammenarbeit mit Mitmenschen sehr weit kommt, wenn man sie unter einem technischen Gesichtspunkt als Objekte behandelt. Man kann zwar versuchen, in technischer Tradition Eigenschaften wie Intelligenz mit Hilfe von Tests zu messen. Aber dass dabei etwas Nützliches herauskommt, ist nicht garantiert.
Wichtig ist daher, immer darauf zu achten, wofür ein bestimmtes Wissen entwickelt wurde. Wendet man es dann in einem anderen Kontext an, dann ist das erst einmal ein Versuch – vielleicht ein interessanter – aber ein Erfolg ist nicht garantiert. Nehmen wir an, die Idee der Wiedergeburt sei wirklich entwickelt worden, um ein gutes Gefühl kosmischer Vernetztheit zu vermitteln. Wenn ich dann beginne, historisch nach meinen früheren Inkarnationen zu suchen, dann brauche ich das Denkwerkzeug zu einem anderen Zweck, als dem ursprünglich intendierten. Sollte ich also bei meiner Suche nicht fündig werden, darf ich das dem ursprünglichen Werkzeug nicht übel nehmen, denn wie angenommen, war es nicht in erster Linie dafür gedacht, eine solche Suche zu leiten.
Lernt man ein neues Denkwerkzeug kennen, ist es wichtig, in Erfahrung zu bringen, im Hinblick auf welches Ziel es entwickelt wurde und sich bewährt hat.
Dies ist allerdings nicht immer ganz einfach, denn meistens wird diese Information nicht unaufgefordert mitgeliefert.
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