Vor vielen Jahren war ich mit meiner Partnerin in Queensland, Australien unterwegs. Wir fuhren mit einem Auto und einem Zweipersonenzelt von Campingplatz zu Campingplatz. Eines Morgens nach einer eher kalten Nacht waren wir früh aufgebrochen, das noch feuchte Zelt im Kofferraum verstaut. Als die Sonne anfing zu wärmen und unsere Mägen, die ohne Frühstück geblieben waren, sich deutlich meldeten, verliessen wir die Hauptstrasse und machten einen Stopp in Miriam Vale. Wenn man von Süden kommt macht der Bruce Highway dort eine scharfe Kurve nach rechts unten und in dieser Kurve führte eine kleine Strasse in den Ortskern, der damals nur aus ein paar wenigen Häusern und einem Café bestand, wo wir ein reichhaltiges Frühstück erhielten. Das Auto war vor dem Café geparkt. Das Zelt breiteten wir über einen Zaun zum Trocknen – so jedenfalls meine lebhafte Erinnerung.
Meine Erinnerung
Von diesem Stopp gibt es ein Foto, das das Café, die Strasse und unser Auto am anderen Strassenrand zeigt. Als wir wieder in der Schweiz waren und ich einen Abzug des Fotos vor mir hatte (alles noch analog), war ich verwirrt. Denn in meiner Erinnerung hatten wir das Auto gleich in Fahrtrichtung geparkt. Auf dem Foto schaut es aber gegen die Fahrrichtung, so als ob wir es zuerst gewendet hätten – absolut unwahrscheinlich bei dem Drang nach Kaffee, den wir hatten. Ich konnte mir das nicht erklären und war ein bisschen irritiert.
Fünf Jahre später waren wir wieder in der Gegend und fuhren in einem Bus auf dem Highway südwärts an Miriam Vale vorbei. Als wir die kleine Steigung hinauffuhren, freute ich mich darauf, die Gegend wiederzuerkennen. Ich erwartete rechts von der Strasse die Ortschaft und eine Linkskurve, die daran vorbeiführt. Zu meiner grössten Überraschung lag die Ortschaft aber links vom Highway und dieser machte bei der Ortseinfahrt eine Rechtskurve. Alles war verglichen mit meiner Erinnerung seitenverkehrt.
Fünf Jahre später
Da wurde mir bewusst, dass mir mein Gedächtnis einen Streich gespielt hatte. Ich fahre selbst nicht Auto, das übernimmt immer meine Partnerin, all meine Erinnerungen sind also aus der Beifahrerperspektive. Und in vielen dieser Erinnerungen sitze ich rechts von meiner Partnerin und wir fahren auf der rechten Strassenseite, wie hier in der Schweiz. So auch in dieser Erinnerung an die Einfahrt nach Miriam Vale. Da man in Australien aber auf der linken Strassenseite fährt, ist das falsch und in diesen Erinnerungen alles seitenverkehrt. In der Erinnerung macht der Highway dort eine Rechtskurve, obwohl er nach links abdreht. In meiner Erinnerung mussten wir in der Kurve über die Gegenfahrbahn nach links/gerade abbiegen, obwohl wir über die Gegenfahrbahn nach rechts/gerade fahren mussten. In meiner Erinnerung haben wir den Wagen am rechten Strassenrand geparkt und war das Café auf der linken Seite, obwohl dies, wie auf meinem alten Foto zu sehen, genau umgekehrt war.
Erinnerungen sind, wie die direkte Wahrnehmung, kontrollierte Halluzinationen. Wir produzieren sie kontrolliert durch einige Gedächtnisinhalte. Diese Inhalte sind aber lückenhaft und keineswegs vollständige „Fotos“ oder gar „Videoaufnahmen“, wie unsere Halluzinationen es uns manchmal vormachen. Wie das Fallbeispiel zeigt, kann dabei einiges durcheinander geraten. Meine Erinnerung, die ich immer noch abrufen kann, kombiniert offenbar meine schweizerischen Erfahrungen als rechts sitzender Beifahrer mit einigen Fetzen australischer Landschaft zu einem überzeugenden, aber seitenverkehrten Bild.
Wie genau unsere Erinnerungen sind, wurde unter anderem im Zusammenhang mit der Verlässlichkeit von Zeugenaussagen vor Gericht untersucht. Dabei zeigte sich, dass es durch Suggestivfragen relativ einfach ist, falsche Erinnerungen zu produzieren.[1] In einer berühmten Untersuchung aus dem Jahr 1974 wurde den Versuchspersonen ein Film eines Autounfalls gezeigt. Eine Gruppe von Versuchspersonen frage man anschliessend, wie schnell die Autos gefahren waren, als sie sich berührten („contacted“). Einer anderen Gruppe stellte man die Frage, wie schnell die Autos waren, als sie ineinander knallten („smashed into“). Die Personen der zweiten Gruppe schätzten die Geschwindigkeit deutlich höher ein als die Personen in der ersten Gruppe. Eine Woche später wurden dann alle Versuchspersonen gefragt, ob sie im Film zerbrochenes Glas gesehen hätten, und in allen Gruppen gab es einige Personen, die sich an Glasscherben erinnerten, obwohl im Film keine Glasscherben zu sehen waren. Allerdings waren dies in der zweiten Gruppe doppelt so viele Personen wie in der ersten.[2] Ähnliche Untersuchungen haben seither immer wieder bestätigt, dass man beim Befragen von Augenzeugen sehr vorsichtig vorgehen muss, damit man nicht durch die Art der Frage falsche Erinnerungen produziert.
Nicht dass unser Gedächtnis absolut unzuverlässig wäre, denn sonst könnten wir gar nie etwas dazulernen. Im Fallbeispiel oben ist abgesehen von der Spiegelung vieles richtig erinnert, wie man auf Google Maps nachprüfen kann: Der Highway macht dort eine markante Kurve, die Ausfahrt in die Ortschaft liegt in dieser Kurve und auch das Café liegt auf der richtigen Seite der Strasse durch den Ort, wenn man die Spiegelung rückgängig macht. Nur welche Details unserer Erlebnisse wir korrekt erinnern, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Entsprechend stehen Schlussfolgerungen, die wir auf Erinnerungen abstützen, auf wackeligen Füssen.
Das gilt selbstverständlich auch für meine wiedergeborene Bekannte, die sich vielleicht lebhaft an Fetzen aus ihrem früheren Leben erinnert. Wenn es keine Möglichkeit gibt, solche Erinnerungen auf anderen Wegen zu überprüfen, ist grosse Vorsicht geboten.
Weiter lesen >> Nebeneffekte
[1] Loftus, E. F. (1997). Creating false memories. Scientific American, 277(3), 50-55.
[2] Loftus, E. F. (1975). Leading questions and the eyewitness report. Cognitive Psychology, 7, 560-572.