Anstatt uns auf Expert:innen abzustützen, könnten wir versucht sein, uns auf das zu verlassen, was wir selbst sehen.
In bestimmten Situationen ist das eine gute Idee. Wenn ich sehe, dass da ein Stuhl steht, kann ich mich typischerweise getrost darauf setzen. Und wenn ich dabei sehe, dass auf dem Stuhl eine Tafel Schokolade liegt, dann räume ich sie besser vorher weg, damit sie nicht zerdrückt wird. Und wenn ich dabei Lust auf Schokolade habe, kann ich ein Stück abbeissen, es sei denn, ein Witzbold hat mir eine Scherztafel aus Holz untergejubelt.
Es gibt Bereiche, da funktioniert unsere Wahrnehmung wirklich gut und verlässlich, da haben wir keinen Bedarf an Experten. Das ist aber nicht überall so. Nehmen wir das Beispiel der Flach- bzw. Rund-Erde und stellen uns vor, dass durch einen magischen Eingriff die Erde immer wieder zwischen flach und rund hin und her wechselt: An Werktagen ist sie rund und am Wochenende flach. Könnten wir entscheiden, ob Werktag ist oder Wochenende, wenn wir morgens aus dem Fenster schauen? Nein! Vor unserem Fenster würde Tag für Tag alles genau gleich aussehen. Die Erdkrümmung ist im Rund-Erde-Modell so gering, dass wir sie unter normalen Umständen mit blossen Augen nicht erkennen können.
Um uns über die Grenzen der Bereiche klar zu werden, innerhalb derer wir uns auf unsere Wahrnehmung verlassen können, lohnt es sich, sich kurz zu vergegenwärtigen, wie unsere Wahrnehmung funktioniert und warum sie funktioniert. Unser Gehirn, wo viele „Inputs“ aus unseren Sinnesorganen zusammenlaufen und wo viele „Outputs“ – das was wir tun oder reden – ausgelöst werden, sitzt buchstäblich im Dunkeln. Es bekommt nie einen Stuhl, eine Tafel Schokolade oder einen Sonnenuntergang zu Gesicht. Das einzige, was beim Gehirn ankommt, sind Nervenimpulse.
Das dreidimensionale Bild des Stuhls, das wir ganz lebhaft vor uns sehen, ist eine Erfindung des Gehirns, wobei diese Erfindung mit dem abgeglichen wird, was das Gehirn den ständig eintreffenden Nervenimpulsen entnehmen kann. Einige Forscher bezeichnen das als „kontrollierte Halluzination“. [1] Manchmal halluziniert das Gehirn auch ohne auf irgendwelche Nervenimpulse Rücksicht zu nehmen, etwa wenn wir träumen oder unter dem Einfluss von Drogen wie LSD oder bei krankhaften Störungen.
Aber im Allgemeinen sind diese kontrollierten Halluzinationen nützliche Denkwerkzeuge, die ihren Zweck sehr gut erfüllen. Wenn wir einen Stuhl „kontrolliert halluzinieren“, dann können wir uns typischerweise an der Stelle der Welt, an der uns der Stuhl erscheint, auf etwas draufsetzen. Und auch das, was dabei die Nerven melden, die durch die entstehende Berührung gereizt werden, steht nicht im Widerspruch zu dem, was die Sehnerven gemeldet haben und was das Gehirn veranlasst hat, den Stuhl zu halluzinieren.
Dass die kontrollierten Halluzinationen, welche unser Gehirn produziert, so nützlich sind, ist eine Folge davon, dass wir nicht überleben würden, wenn sie es nicht wären. Von unseren Vorfahren haben nur die überlebt und Kinder gehabt, die bspw. eine giftige Spinne an der richtigen Stelle kontrolliert halluziniert haben. Alle, die dort eine essbare Banane sahen, sind typischerweise umgekommen, noch bevor sie alt genug waren, ihre unbrauchbaren Halluzinationen, ihre schlechten Denkwerkzeuge an Nachkommen weiterzugeben. Auf diese Art hat über viele Millionen Jahre hinweg das Denkwerkzeug, das wir Wahrnehmung nennen, immer nützlichere Formen angenommen, bis es so gut funktionierte, dass wir nun mit offenen Augen eine äusserst verlässliche Vorstellung der Welt um uns herum „halluzinieren“.
Aber perfekt ist dieses Werkzeug nicht. Es gibt offensichtliche Grenzen, wie etwa die, dass wir nicht wie die Fledermäuse die Nervenimpulse, die vom Ohr her kommen, nutzen können, um im Dunkeln eine dreidimensionale kontrollierte Halluzination unserer Umgebung zu produzieren. Oder wir können nicht wie bspw. Meisen oder Amseln ultraviolette Lichtanteile dazu nutzen, um kontrolliert ein differenzierteres Bild eines grünen Blätterwirrwarrs zu halluzinieren.
Neben diesen offensichtlichen Grenzen, die „hardwarebedingt“ sind – wir haben einfach keine Rezeptoren, die auf ultraviolettes Licht reagieren – gibt es aber auch noch andere Grenzen, die weniger offensichtlich sind. Unsere Wahrnehmung hat sich entwickelt, um in einer bestimmten Umgebung überleben zu können. Nur Halluzinationen, welche genau in diesem Zusammenhang gefährlich waren, sind mit der Zeit ausgestorben. Andere konnten unbehelligt weiter bestehen, so lange sie keinen Schaden anrichteten. Wenn wir bspw. einen Gegenstand zuerst an einer bestimmten Stelle der Welt sehen und etwas später an einer anderen Stelle, dann halluzinieren wir, dass sich der Gegenstand bewegt hat. Das kann man gut demonstrieren, wenn wir in einem vollständig dunklen Raum kurz nacheinander zwei Lampen aufleuchten lassen. Sind die Lampen nicht allzu weit auseinander, sehen wir nicht zwei nacheinander aufleuchtende Lampen, sondern eine Lampe, die sich bewegt. Dasselbe geschieht, wenn in einem Trickfilm in zwei aufeinander folgenden Bildern ein Gegenstand leicht verschoben ist. Auch hier sehen wir nicht zwei gegeneinander verschobene Gegenstände, sondern eine Bewegung.
Diese kontrollierte Halluzination von Bewegung ist sehr nützlich. So können wir bspw. einer herabfallenden Kokosnuss ausweichen oder wir merken, wenn unser zweijähriges Enkelkind wieder einmal versucht, pfeilschnell seinen Grosseltern zu entwischen. Ist der Gegenstand die Sonne, dann halluzinieren wir auch da eine Bewegung, wenn sie zuerst von einem Punkt des Himmels herunterscheint und später von einem anderen. Wir können gar nicht anders, denn so funktioniert die kontrollierte Halluzination, die wir Wahrnehmung nennen. Und da es für das Überleben im Alltag keine Rolle spielt, ob wir eine bewegte Sonne halluzinieren, gab es auch keinen Druck, der dazu geführt hätte, dass diese – nach dem Rund-Erde-Modell falsche – Halluzination ausstarb. Anders ist es, wenn wir auf einem sich drehenden Karussell stehen und unsere Bewegung spüren. Dann halluzinieren wir nicht, dass die Sonne sich blitzschnell um uns dreht, sondern dass sie mehr oder weniger am Ort bleibt und wir immer wieder von ihr weg und zu ihr hin schauen.
Unsere direkte Wahrnehmung ist sehr brauchbar, wenn es um Dinge geht, die wir in die Hand nehmen können und die sich ähnlich schnell bewegen, wie wir selbst. Diese Dinge bilden die Umwelt, in der unsere Vorfahren überleben mussten. Unterdessen hat sich die für uns relevante Umwelt aber gewaltig erweitert. Sie umfasst Dinge, die zu klein sind (bspw. Atome) oder zu gross (bspw. Autobahnbrücken), als dass wir sie in die Hand nehmen könnten. Im atomaren Bereich sind die kontrollierten Halluzinationen, welche unser Hirn zur Verfügung stellt, völlig unbrauchbar, was jeder Physikstudent und jede Physikstudentin zuerst lernen muss. Und den Bau einer Autobahnbrücke können wir nicht mehr von blossem Auge, sondern nur noch mit Hilfe geeigneter Instrumente überwachen.
Ausserhalb eines bestimmten Alltagsbereichs, für den die Evolution brauchbare Denkwerkzeuge hervorgebracht hat, ist deshalb auf unsere direkte Wahrnehmung nicht wirklich Verlass. Dort benötigen wir zusätzliche Werkzeuge wie Messgeräte und mathematische Modelle, um die damit verbundenen Anforderungen zu bewältigen. Und in der Regel setzt die Beherrschung solcher nicht angeborenen Denkwerkzeuge einen längeren Lernprozess voraus, so dass nur entsprechend geschulte Experten sie einsetzen können.
Ausserhalb eines bestimmten Alltagsbereichs können wir unseren eigenen Augen nicht trauen. Wir brauchen dort erweiterte Denkwerkzeuge. Entweder erlernen wir deren Beherrschung selbst oder wir verlassen uns auf entsprechende Experten.
Von den Beispielen, die uns bisher begleitet haben, ist hier vor allem die Entscheidung zwischen dem Flach-Erde-Modell und dem Rund-Erde-Modell betroffen. Unsere Wahrnehmung ist einfach nicht dafür gemacht, zu sehen, ob sich die Sonne tatsächlich bewegt oder ob die Erde in unserer Umgebung ganz flach oder ein klein wenig gekrümmt ist. Ob unsere Kinder hohes Fieber haben, können wir hingegen gut und verlässlich wahrnehmen. Schwieriger wird es hingegen bei der Frage, ob sie eine Entwicklungsstörung haben (weil sie geimpft wurden).
Zu Beginn der COVID-19 Pandemie erklärten die schweizerischen Behörden etwas überraschend, dass das Tragen von Schutzmasken nutzlos, ja vielleicht sogar gefährlich sei: „Schutzmasken sind sehr wenig wirksam, wenn sie von der allgemeinen Bevölkerung getragen werden.“[2] Es bestehe die Gefahr, dass sich die Leute in falscher Sicherheit wiegen.[3] Die WHO selbst vertrat auch diese Haltung.[4]
Diese Aussagen verwirrten mich etwas. Mir schien es offensichtlich, dass ich mit Maske meinen Mitmenschen weniger Viren ins Gesicht blase als ohne. Wenn also die Lage so ernst war, dass man einen Lockdown verordnete, dann sollte man doch jede Massnahme ergreifen, die auch nur ein bisschen die Ãœbertragungsrate senken konnte.
Ich sagte mir dann aber, dass das Ganze wahrscheinlich wieder einmal komplizierter ist, als es auf den ersten Blick erscheint. Vielleicht werden die Masken falsch eingesetzt eher zu Virenfängern als Virenblocker. Und so entschied ich mich, den Expert:innen zu vertrauen, und hielt mich an das „Maskenverbot“.
Im diesem Fall hätte es viel zu viel Zeit gekostet, mich in all die notwendigen Überlegungen einzuarbeiten, um mir selbst eine Meinung zu bilden (vgl. Kosten). Nachträglich erwies sich diese Warnung vor den Masken als falsch und die Empfehlung wurde dann auch drei Monate später korrigiert. Aber ich denke, es wäre falsch zu sagen: „Ich hatte es mir ja gedacht.“ Aufgrund alltäglicher Beobachtungen und Überlegungen konnte ich einfach nicht wissen, welche Überlegungen sinnvoll waren.
Weiter lesen >> Triangulation
[1] Seth, A. (2021). Being You: A New Science of Consciousness (Kindle ed.). London: Faber & Faber.
[2] https://www.srf.ch/news/schweiz/corona-pandemie-von-der-mangelware-zum-pflicht-accessoire-die-maske
[3] https://www.srf.ch/news/schweiz/von-der-empfehlung-zur-pflicht-wie-der-bundesrat-zur-maskenpflicht-fand
[4] https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/331693/WHO-2019-nCov-IPC_Masks-2020.3-eng.pdf