Entwicklung im Bildungssystem als Evolutionsprozess

6 Evolutionsprozess optimieren

Zusammengefasst könnte es also Vorteile haben, wenn man die Weiterentwicklung des Kompetenzen von Lehrpersonen nicht als Resultat von Top-Down-Implementation anvisiert, sondern als Evolutionsprozess – einerseits, weil die Top-Down-Implementierung nicht oder schlecht zu funktionieren scheint, und andererseits, weil ein Evolutionsprozess gegenüber einer Top-Down-Implementierung Vorteile im den Bereichen Anpassungsfähigkeit, Robustheit und Kombinierbarkeit hat.

Betrachtet man das Ganze als Evolutionsprozess, heisst das aber nicht, dass man diesen Prozess in allen Details einfach als naturwüchsig gegeben akzeptieren muss. Man kann durchaus versuchen, die zentralen Elementen Gene, Rekombinationsprozess und Bewertungskriterium zu beeinflussen, um zu einem möglichst optimalen Resultat zu gelangen.

6.1 Bewertung/Selektion

Der heikelste Punkt, bei dem aber auch am meisten Eingriffsmöglichkeiten bestehen, dürfte die Bewertung der Individuen/Lehrpersonen bzw. der bei ihnen wirksamen Kombinationen von Genen sein. Einerseits stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien bewertet werden soll, und andererseits muss die Bewertung so geschehen, dass sie einen Einfluss auf die Selektion, d.h. auf die weitere Verbreitung der entsprechenden Gene hat.

In jedem Handbuch zu Genetischen Algorithmen lässt sich nachlesen, dass die Wahl der richtigen Bewertung (fitness function) der entscheidende Punkt für das Funktionieren des Prozesses ist. Dabei besteht die grosse Gefahr, dass man in die Art der Bewertung allzu viele Annahmen darüber hineinpackt, wie eine optimale Lösung aussehen sollte, und damit die wirklich guten, aber unerwarteten Lösungen verpasst (Markov 2014).

Keine Verbote

Da zu keinem Zeitpunkt absolut sicher ist, ob eine bei einer bestimmten Lehrperson aktuell wirksame Kombination nicht in Zukunft wichtig werden könnte oder Bausteine enthält, die in anderer Kombination von Bedeutung sind, sollte auch eine schlechte Bewertung im Normalfall nicht dazu führen, dass der Lehrperson verboten wird, ihr Wissen weiterzugeben. Der Prozess sollte nur dazu führen, dass die Wahrscheinlichkeit für die Weitergabe umso geringer ist, je schlechter die Bewertung ausfällt.

Ein Modell für einen solchen Prozess bilden die verschiedenen Fachforen im Internet, wie bspw. http://stackoverflow.com. In einem solchen Forum kann man als Nutzer oder Nutzerin eine Frage stellen und damit einen neuen Diskussionsstrang starten. Man erhält darauf von anderen Nutzern verschiedenste Antworten. Diese Antworten werden wiederum von weiteren Interessierten, welche in diesem Diskussionsstrang landen, weil sie mehr oder weniger dieselbe Frage hatten, bezüglich ihrer Nützlichkeit bewertet. Typischerweise werden die Antworten im Diskussionsstrang in absteigender Nützlichkeit angeordnet, so dass jemand, der neu auf diesen Strang stösst, zuerst die allgemein als nützlichste eingeschätzte Antwort sieht. Damit ist die Wahrscheinlichkeit am grössten, dass genau diese Antwort sich als Lösung weiterverbreitet. Alle anderen Antworten bleiben aber erhalten und man findet sie, wenn man auf der Seite weiter nach unten geht. Dabei kann es sehr wohl geschehen, dass eine dieser schlechter bewerteten Antworten besser zur ganz konkreten Problem-Konstellation passt, aus der heraus man selbst die Frage gestellt hat.

Selbstverständlich kann es sein, dass das Vorgehen einer Lehrperson den Lernenden so offensichtlich schadet, dass man das Vorgehen unterbinden muss, dass man ein Verbot aussprechen muss. Eine Analogie dazu existiert auch in den Fachforen: Antworten oder Bemerkungen, welche ganz offensichtlich nicht zum Thema passen oder bspw. beleidigend sind, werden von zuständiger Seite gelöscht.

Der Grundsatz, ausser in extremem Fällen keine Verbote auszusprechen, dürfte im heutigen Bildungssystem gelebt werden. Lehrpersonen können zwar wegen disziplinarischen Verfehlungen, sexuellen Übergriffen gegenüber den Lernenden etc. suspendiert werden. Schlechte „didaktische Leistungen“ führen aber kaum zu einem Berufsverbot.

Bewertungsprozess

In den geschilderten Fachforen läuft der Bewertungsprozess so ab, dass die Gemeinschaft der Benutzerinnen und Benutzer die Nützlichkeit der Lösungen auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen beurteilt. Grundsätzlich wäre das auch im Bereich Fragen zur Unterrichtsgestaltung und dazu passenden didaktischen Varianten möglich.

Allerdings besteht dabei eine gewisse Gefahr, dass der Prozess auf einem bescheidenen Niveau verharrt, weil die Beteiligten die Defizite der von ihnen bevorzugten Variante gar nicht sehen. Dem könnte man gegensteuern, indem sich die Forschung solcher Varianten annimmt und mit ihren Mitteln ebenfalls eine Bewertung vornimmt, die dann in die Gesamtbewertung einfliesst.

Dabei könnte man der Forschung mehr Gewicht als einzelnen Lehrpersonen beimessen, indem man die Bewertung aus Forschungssicht mit einem höheren Gewicht in die Gesamtbewertung einrechnet. In Fachforen im Internet existieren vergleichbare Gewichtungsmechanismen. Bspw. kann man vielerorts erst Bewertungen abgeben, wenn man selbst schon erkennbar zu guten Lösungen beigetragen hat. An anderen Orten sind erfahrene Nutzerinnen und Nutzer, die schon oft zu guten Lösungen beigetragen haben, speziell gekennzeichnet. Sprechen sie sich für eine Lösung aus, führt das typischerweise dazu, dass sich zahlreiche andere auch dieser Lösung anschliessen.

Für Lösungen, d.h. Kombinationen von Wissensbausteinen, die von Person zu Person weitergegeben werden, liesse sich solch ein gemeinschaftlicher Bewertungsprozess gut in Fachforen im Internet organisieren. Geschieht die Weitergabe von Lösungen immer auf diesem Weg, dann ist sie auch immer mit einer Bewertung verbunden und die Weiterverbreitung sollte dadurch auch mehr oder weniger wahrscheinlich sein.

Etwas anders liegt der Fall bei der Lösung bzw. Kombination von Wissensbausteinen, welche bei einer bestimmten Lehrperson aktuell aktiv ist und neu mit einer von aussen kommenden Lösung rekombiniert wird. Die entsprechende Lehrperson wird zwar selbst eine Bewertung ihres bisherigen Vorgehens vornehmen. Diese Bewertung ist aber nicht besonders gut abgestützt. Verbessern könnte man die Situation, indem man die Lehrperson verpflichten würde, ihre Variante als mögliche Lösung in einem Forum zu präsentieren und dann abzuwarten, wie sie dort bewertet wird (Das didaktische Szenario der Acht Schritte hat diesen Vorgang in Form der Schritte 3 und 4 explizit eingebunden).

Bewertungskriterien

Würde der Bewertungsprozess so wie beschrieben über die Diskussion in Foren ablaufen, wäre das Kriterium, welches die teilnehmenden Lehrpersonen anwenden würden, gegeben: Die Brauchbarkeit der einzelnen Lösungen auf dem Hintergrund ihrer bisherigen Erfahrungen und der Erfahrungen, welche sie mit dieser für sie vielleicht neuen Lösung machen.

Damit diese Bewertungen nicht systematisch einseitig ausfallen, da die Beteiligten gewisse Aspekte vernachlässigen, wäre es sinnvoll, diesen Bewertungsprozess durch Weiterbildungen zu unterstützen, in denen thematisiert wird, was man bei solch einer Bewertung alles berücksichtigen könnte.

Die Kriterien, welche die Forschung einbringen könnte, wären diejenigen, die im Moment von der wissenschaftlichen Gemeinschaft als relevant anerkannt werden. Grundsätzlich wäre es auch kein Problem, hier konkurrenzierende Paradigmen einfliessen zu lassen, indem sich nicht einfach die Forschung zum Thema meldet, sondern sich verschiedene Forschergruppen mit unterschiedlichen Beiträgen zu Wort melden.

Selektion

Wie oben angesprochen, geht es bei der Selektion nicht darum, eine Variante/Lösung als beste gegenüber allen anderen durchzusetzen. Erreicht werden soll vielmehr, dass sich gut bewertete Varianten mehr und schneller ausbreiten als solche, die schlecht bewertet werden.

Wie typische Fachforen im Internet das erreichen, wurde oben geschildert. Darüber hinaus könnte man die Verbreitung aktuell gut bewerteter Varianten/Lösungen fördern, indem man sie über geeignete Kanäle zusätzlich als Beispiele guter/bester Praxis verbreitet. Und natürlich könnten sie als Grundlage in Aus- und Weiterbildungen genutzt werden.