Eine situationsbezogene Didaktik des Fachrechnens in acht Schritten

pdf Stellt man das Fachrechnen konsequent „vom Kopf auf die Füsse“, dann steht die Auseinandersetzung mit den verschiedenen beruflichen Berechnungssituationen im Zentrum. Ziel des Unterrichts ist es dabei, den Lernenden für jede dieser Situationen die notwendigen Werkzeuge zur Verfügung zu stellen. Themen sind die Auseinandersetzung mit den Berechnungssituationen, das Arbeiten an den mathematischen Werkzeugen sowie das Zusammenspiel von Situation und Werkzeug. Der folgende Ablauf in acht Schritten ist ein Vorschlag, wie sich dies didaktisch inszenieren lässt.

Die acht Schritte
1. Warten, bis die Lernenden schon Erfahrungen gemacht
   haben
2. Die Lernenden schildern ihre Erfahrungen
3. Die Lernenden lösen eine mittelschwere Aufgabe
4. Gemeinsam die Lösungen der Lernenden kritisch 
   besprechen
5. Das Werkzeug an realistischem Beispiel modellhaft 
   demonstrieren
6. Die Lernenden üben mit selbst erfunden Beispielen
7. Die Lernenden erarbeiten einen Spickzettel
8. Gemeinsam die Anwendung im Betrieb diskutieren

1 Die Schritte und einige Anregungen dazu

Im Folgenden ein kurzer Abriss der einzelnen Schritte und ein paar praktische Anregungen dazu. Im zweiten Teil finden sich dann einige theoretische Hintergrundüberlegungen zu den einzelnen Schritten und ihrer Ausgestaltung (vgl. auch Die Lernenden als Quelle von Aufgaben).

1.1 Warten, bis Lernende dazu schon Erfahrungen gemacht haben

Der erste „Schritt“ ist eigentlich kein Schritt, sondern eine Regel, welche die notwendigen Voraussetzungen für das Folgende sicherstellen soll: Mit der Behandlung einer bestimmten Berechnungssituation zu warten, bis möglichst viele der Lernenden schon Erfahrungen mit der entsprechenden Situation gemacht haben.

Der Grund dafür ist einerseits, dass Lehren und Lernen gleichgültig zu welchem Thema viel einfacher ist, wenn die Lernenden das Behandelte mit eigenen Erfahrungen verknüpfen können. Es gibt nichts Schwierigeres, als Lernenden etwas zu beibringen zu wollen, zu dem sie keine Vorstellungen mobilisieren können. Darüber hinaus sind aber die meisten der folgenden Schritte ohne diese Erfahrungen gar nicht möglich.

Ist diese Voraussetzung im gewünschten Moment nicht bereits erfüllt, kann man etwas nachhelfen, indem man den Lernenden entsprechende Beobachtungsaufträge gibt. Oft ist es so, dass die entsprechende Berechnungssituation im Betrieb sehr wohl vorkommt, die Lernenden aber noch nicht damit in Kontakt gekommen sind. In diesen Fällen können die Lernenden mit solchen Situationen im Betrieb zumindest als Beobachter Erfahrungen sammeln – sei es selbstständig, sei es im Gespräch mit ihrem Berufsbildnern bzw. ihrer Berufsbildnerin.

1.2 Erfahrungen schildern lassen – nicht nur „rechnerische“ Aspekte, anderes ist genauso wichtig

Im ersten eigentlichen Schritt des Ablaufs geht es dann darum, die entsprechende Berechnungssituation im schulischen Unterricht lebendig werden zu lassen. Dazu umreist man kurz die Situation, die besprochen werden soll und lässt dann die Lernenden von ihren Erfahrungen erzählen. Dabei wird es manchmal notwendig sein, nach den ersten paar Erzählungen zu kommentieren, inwiefern die gewünschte Situation getroffen wurde, so dass allmählich bei allen ein klares Bild entsteht, wovon man spricht.

Da es um Berechnungssituationen geht, müssen selbstverständlich die „rechnerischen“ Aspekte der Situation zur Sprache kommen. Damit die Situation aber wirklich im Schulzimmer präsent wird, sind andere Aspekte genau so wichtig. Vieles davon wird eine Rolle spielen, um zu verstehen, warum eine bestimmte Form von Berechnung sinnvoller ist als andere, alternative Möglichkeiten.

Man kann die Erzählungen der Lernenden einfach nebeneinander stehen lassen. Man kann aber auch an der Tafel versuchen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu dokumentieren, so dass bereits eine gewisse Struktur der Situation erkennbar wird.

Lässt man die Lernenden ohne grosse Vorbereitungen erzählen, ist man auf das beschränkt, woran sie sich erinnern können und was ihnen aus ihrer Perspektive als Anfänger aufgefallen ist. Dies braucht für den Einstieg kein Nachteil zu sein, gibt es doch einen interessanten Einblick in ihren aktuellen Ausbildungsstand. Mehr Material steht typischerweise zur Verfügung, wenn ein Beobachtungsauftrag vorangegangen ist.

1.3 Mittelschwere Aufgabe stellen und die Lernenden diese in Gruppen erarbeiten lassen, wie sie diese mit ihrem bereits vorhandenen Wissen angehen würden

Als nächstes geht es darum, das vorhandene Vorwissen der Lernenden aufzugreifen. Das kann man, indem man ihnen ohne weitere Instruktion eine entsprechende Berechnungsaufgabe stellt und diese in Gruppen lösen lässt. Die Aufgabe sollte nicht so schwer sein, dass die Lernenden keine Chance haben, auch nur annähernd zu einer Lösung zu gelangen. Es sollte aber eine echte Aufgabe sein, welche die reale Komplexität der Situation einfängt und die Lernenden herausfordert. Die Aufgabe in Gruppen bearbeiten lassen.

Entscheidend ist hier einerseits, dass der vorangegangene Schritt erfolgreich abgeschlossen wurde, d.h. dass alle Lernenden eine konkrete, möglichst in ihren Erfahrungen verankerte Vorstellung der behandelten Berechnungssituation haben. Andererseits ist zentral, dass man jeder Versuchung einer kleinen einführenden Anleitung widersteht und die Lernenden einfach einmal machen lässt. Dies hat verschiedene Effekte, wie die, dass ihr Selbstvertrauen gestärkt wird, dass sie wirklich ihr Vorwissen mobilisieren und mit dem neu zu Lernenden verknüpfen etc.

1.4 Die Lösungen der Lernenden gemeinsam kritisch besprechen

Die einzelnen Gruppen stellen reihum ihre Lösungen vor. Diese werden verglichen und die jeweiligen Stärken und Schwächen diskutiert. Am besten geht das, wenn jede Gruppe ihre Lösung auf einem Flipchart darstellt. Diese können dann zum Vergleich nebeneinander aufgehängt werden.

Wichtig ist dabei, dass die Diskussion nicht nur Schwächen hervorhebt, sondern dass auch Stärken festgehalten werden. Es kann sein, dass eine Variante zwar keine exakte Lösung produziert, aber doch eine gute Näherung, die im aktuellen Fall sogar für praktische Zwecke genügend gut wäre. Es kann sein, dass eine Variante nur im aktuellen Fall funktioniert, aber in anderen Fällen versagen würde etc.

Wichtig ist, all diese Stärken und Schwächen, all die Ideen und Schwierigkeiten der einzelnen Gruppen festzuhalten und zu würdigen. Im Idealfall steht am Ende dieses Schrittes eine kleine Liste von Anforderungen an ein professionelles Vorgehen und daneben die Fragen, welche die Lösungsversuche der Gruppen offen gelassen haben.

1.5 Werkzeuge einführen, Benutzung an realistischem Beispiel modellhaft vormachen

Beim fünften Schritt steht die Lehrperson am deutlichsten im Zentrum. Hier geht es darum, an einem Beispiel modellhaft vorzumachen, wie eine professionelle Bearbeitung der Berechnungssituation aussieht. Das, was die Lernenden aufgrund ihres Vorwissens schon tun können, soll auf ein neues, professionelleres Niveau gehoben werden.

Mit „modellhaft vormachen“ ist nicht die perfekte Vorführung eines gut vorbereiteten Beispiels gemeint. Eine solche einstudierte Vorführung weckt gerade bei schwächeren Lernenden die falsche Vorstellung, dass eigentlich alles ganz einfach sein sollte. Wichtig ist, dass die Lernenden ein realistisches Bild davon bekommen, was es auch für eine erfahrene Person bedeutet, solch eine Aufgabe anzugehen.

Dazu gehört unter anderem, dass man durch lautes Denken sichtbar macht, was man sich alles Schritt für Schritt überlegen muss. Am besten gelingt das, wenn man nicht eine vorbereitete Aufgabe verwendet, sondern sich von den Lernenden eine geben lässt. Dadurch wird man gezwungen, selbst all die Überlegungsschritte zu machen, die es zur vollständigen Bearbeitung einer entsprechenden Aufgabe braucht.

1.6 Lernende eigene Beispiele erfinden lassen, bis sie sich sicher fühlen

Natürlich müssen die Lernenden anschliessend anhand von möglichst vielen Beispielen selbst durchspielen, was sie am Modell beobachten konnten. An Stelle von vorgegebenen Übungsserien empfiehlt es sich in diesem Schritt, die Lernenden die Aufgaben, welche sie bearbeiten, selbst erfinden zu lassen. Das hat verschiedene Vorteile (vgl. unten 2.5). Unter anderem führt es dazu, dass die Lernenden die Übungen nicht einfach abarbeiten, sondern sich weiter aktiv mit der entsprechenden Berechnungssituation auseinandersetzen.

Eventuell macht es Sinn, zuerst ein, zwei Beispiele im Plenum zu erfinden und zu bearbeiten. Dann sollten die Lernenden in Gruppen üben, bis sie sich sicher fühlen. Eventuell braucht es für die Gruppenphase nochmals ein bereits formuliertes Beispiel, das hilft, die Aufgabenproduktion in Schwung zu bringen. Beim Arbeiten in den Gruppen benötigen die Lernenden zu Beginn meist noch mehr oder weniger Unterstützung (sowohl beim Erfinden der Beispiele wie beim Lösen). Mit der Zeit kann und muss diese aber wegfallen. Gegen Schluss kann man sogar dazu übergehen, spontan zusätzliche Schwierigkeiten in die Beispiele der Lernenden einzubauen.

1.7 Lernende Spickzettel für die Arbeit im Betrieb erarbeiten lassen

Mit diesem Schritt wird der Übergang zurück in den beruflichen Alltag eingeleitet. Die Lernenden erhalten den Auftrag, persönliche Spickzettel zu schreiben, welche sie während der Arbeit auf sich tragen und konsultieren könnten. Führt man diesen Schritt ein erstes Mal durch, braucht es sicher Beratung und gemeinsame Diskussionen, bis ein gutes Format gefunden ist.

Auf einen derartigen Spickzettel gehören einmal zentrale Grössen und Daten, die man einfach kennen muss, um den Arbeitsablauf durch Nachschlagen bzw. Nachrechnen nicht zu behindern. Oft ist es sinnvoll, dafür Fachbücher beizuziehen. In Fachbüchern findet man vielleicht auch Darstellungen der für den Berechnungsablauf relevanten Zusammenhänge. Wichtig ist allerdings, dass die Lernenden nicht einfach Material kopieren, sondern eine Darstellungsform finden, die für sie nützlich und hilfreich ist, die ihnen genau die Unterstützung bietet, die sich noch brauchen, bis die Berechnungsvorgänge für sie zur Routine geworden sind.

1.8 Die Anwendung im Betrieb diskutieren

Als letzter, aber zentraler Schritt geht es dann darum, das, was in der Schule funktioniert, auf die Bearbeitung realer Berechnungssituationen im Betrieb zu übertragen. Die Bedeutung dieses Schrittes darf man nicht unterschätzen. Wird dieser Schritt ernst genommen, kann er schnell einmal mehr Zeit beanspruchen als alle anderen Schritte zusammen! Etwas, das man im Prinzip verstanden hat, unter Alltagsbedingungen situationsangemessen zu nutzen, ist keineswegs trivial.

Man kann diesen Übergang in die betriebliche Anwendung vorbereiten, indem man miteinander vorausschauend diskutiert, was geschehen wird bzw. geschehen könnte, wenn die Lernenden morgen oder nächste Woche eine entsprechende Situation in ihrem Betrieb anpacken.

Die Möglichkeiten einer solchen Vorausschau sind aber begrenzt. Welche Schwierigkeiten die einzelnen Lernenden haben werden, lässt sich kaum vorhersehen. Wichtiger ist deshalb, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt die im Betrieb gesammelten Anwendungserfahrungen in die Schule zurückbringen und dass man diese dort gemeinsam diskutiert.

2 Etwas Hintergrund zu den einzelnen Schritten

Verschiedene Aspekte der acht Schritte lassen sich mit Hilfe von Theorien, didaktischen Modellen etc. begründen. Hier ein kurzer Abriss:

2.1 Situiertes Wissen

Es lassen sich verschiedene Arten von Wissen unterschieden. Im Zentrum steht aber das situative Wissen, bestehend aus Erinnerungen an eine Vielzahl selbst erlebter Situationen. Dieses Wissen steuert im Wesentlichen, was wir tun. Werden wir mit einer neuen Aufgabe/Situation konfrontiert, dann machen wir, was sich in ähnlichen Situationen schon bewährt hat. Wirksam werden dabei selbstverständlich nur die Situationen aus unserem Erfahrungsschatz, an die wir uns im entsprechenden Moment tatsächlich erinnern. Und das ist der Kern des Transferproblems Schule/Praxis. Die Situation im Betrieb und die Situation in der Schule haben oft so wenige Ähnlichkeiten, dass kein Erinnern stattfindet. Im ungünstigsten Fall bilden sich dann im Kopf der Lernenden zwei Welten heraus – Schule und Betrieb – die rein gar nichts miteinander zu tun haben.

Dass im Laufe der acht Schritte ständig mit Situationen, mit Beispielen gearbeitet wird, welche die Lernenden aus ihren Betrieben mitbringen, ist ein Versuch, diese Spaltung zu verhindern (vgl. dazu auch Die Lernenden als Quelle von Aufgaben). Beispiele, welche die Lernenden in den Unterricht einbringen, werden von ihnen selbst und den anderen Lernenden in der Klasse eher als Praxissituationen abgelegt und auch erinnert, als dies bei Beispielen der Fall ist, welche die Lehrperson vorstellt. Dies auch wenn diese Lehrerbeispiele noch so „authentisch“ sind.

2.2 Reflexion statt Planung

Theorien, Regeln, Definitionen etc. stellen eine andere Art von Wissen dar, das sogenannt deklarative Wissen. Dieses Wissen ist nicht direkt handlungsleitend. Regeln, die man vermittelt bekommt und auch verstanden hat, werden nicht direkt handlungswirksam. Man muss zuerst mehrfach versuchen, im Sinne dieser Regeln Aufgaben anzugehen, bis sich Erfahrungen, bis sich situatives Wissen darüber einstellt, wie man die Regeln erfolgreich gebrauchen kann.

Es folgen daher im Ablauf der acht Schritte nach den Schritten 5 (Instruktion) und 6 (Üben) noch zwei weitere Schritte, welche diesen Aufbau des situativen Wissens unterstützen sollen. Der siebte Schritt, das Erstellen von Spickzetteln, soll den Lernenden helfen, beim Sammeln von Erfahrungen das relevante deklarative Wissen aus dem Unterricht präsent zu halten. Der achte Schritt trägt dann dem Umstand Rechnung, dass die „Anwendung“ dieses deklarativen Wissens keineswegs trivial ist. Keine Regel wendet sich von selbst an! Erst die Erfahrung zeigt, wie sie anzuwenden ist. Und beim Sammeln dieser Erfahrungen stellen sich manche Fragen, die durch die Regel nicht beantwortet wird. Oft braucht deshalb der achte Schritt am meisten Zeit von allen.

In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass viele Regeln, Richtlinien, theoretischen Modell etc. viel zu wenig konkret sind, als dass sich daraus auch nur im entferntesten ableiten liesse, wie in einer konkreten Situation ganz genau vorzugehen ist (vgl. Funktionen des deklarativen Wissens). All das, was man an Erfahrungen sammeln muss, bis man solche Stücke deklarativen Wissens „anwenden“ kann, ist beträchtlich und muss über Versuch und Irrtum erworben werden. Das führt dazu, dass bei Schritt 8 das in der Schule erarbeitete Wissen meist nicht so genutzt werden kann, dass die Lernenden darauf aufbauend ihr Vorgehen in den realen betrieblichen Situationen planen. Realistischer ist, dass sie einfach einmal etwas versuchen, was ihnen erfolgsversprechend scheint, und anschliessend das Gelernte nutzen, um das, was geschehen ist, darauf hin zu reflektieren, ob es einem professionellen Vorgehen entspricht. Diese Reflexion kann und sollte man in Schritt 8 fördern. So eignen sich die Lernenden über mehrere Versuche eine reflektierte situative Erfahrungsbasis an, die dann ihr Handeln in Zukunft leiten kann.

2.3 Vom Singulären zum Regulären

Lernende bringen immer schon Vorwissen mit. Auch eine für die Lernenden neue Berechnungssituation wird deshalb immer schon Reaktionen auf Grund ihres vorhandenen (situativen) Wissens auslösen. In der Mathematikdidaktik spricht man in diesem Zusammenhang von der singulären d.h. für jede Lernende und jeden Lernenden einzigartige Vorerfahrung und Sicht auf die Situation.

Ignoriert man diese und versucht man, den Lernenden neues Wissen zu vermitteln, welches keinen Bezug auf diese Vorerfahrungen nimmt, riskiert man, dass im situativen Wissen zwei unverbundene Inseln entstehen: Eine Gruppe von Erinnerungen, welche diese Vorerfahrungen bilden, und eine Gruppe von Erinnerung, welche die Erfahrungen während der Arbeit im Unterricht enthalten. Müssen die Lernenden dann im Betrieb eine reale Aufgabe lösen, ist die Chance gross, dass sie sich an die erste Gruppe von Erfahrungen erinnern, sich also auf Grund ihrer singulären Vorerfahrung verhalten. Diese Vorerfahrungen sind älter als die neuen Schulerfahrungen und haben die Tendenz, sich gegenüber diesen durchzusetzen.

Schritt 3 und 4 gehen deshalb von diesen Vorerfahrungen aus und nehmen sie explizit auf. In Schritt 3 müssen die Lernenden auf Grund dieser Vorerfahrungen handeln. Und in Schritt 4 wird diskutiert, was dabei herauskommt. Im Idealfall sind sich die Lernenden danach bewusst, wozu ihre Vorerfahrungen gut sind und an welchen Punkten sie ihr Wissen weiterentwickeln müssen. Dann sind sie bereit, die Erklärungen der Lehrperson, wie man die Situation professionell angeht – die sogenannte reguläre Perspektive – in ihr Wissen zu integrieren. Das Lernen wird dadurch wesentlich effektiver, wie auch eine schöne Studie unter dem Titel Produktives Scheitern zeigt.

2.4 Cognitive Apprenticeship

Zwischen 1980 und 1990 wurde die sogenannte Cognitive Apprenticeship entwickelt, um das aus der handwerklichen Instruktion bekannte Vormachen-Nachmachen für kognitive Inhalte (Denken, Problemlösen etc.) zu nutzen (vgl. Wissen aufbauen). Es handelt sich dabei um einen didaktischen Ablauf über 5 Schritte:

a) Modellieren: Die Lehrperson demonstriert ein 
   professionelles Vorgehen.
b) Coachen: Die Lernenden üben, die Lehrperson unterstützt.
c) Artikulieren: Die Lernenden fassen ihr Vorgehen in 
   eigene Worte.
d) Reflektieren: Kritisches Durchdenken des erlernten 
   Vorgehens.
e) Explorieren: Das gelernte Vorgehen wird auf andere 
   Gebiete angewendet.

Die ersten beiden Schritte entsprechen dem Vormachen-Nachmachen. Die weiteren Schritte tragen dem Umstand Rechnung, dass es darüber hinaus noch einiges braucht, bis beispielsweise ein Berechnungsverfahren nicht nur im Prinzip verstanden wird, sondern auch als flexibles Werkzeug angewendet werden kann.

Die zweite Hälfte der acht Schritte folgt in etwa diesen fünf Punkten. Die Schritte 5 und 6 entsprechen den Punkten a) und b). Schritt 7 hat zwar noch andere Funktionen als Punkt c) (s.o. unter 2.2). Aber auch im Schritt 7 müssen die Lernenden das für sie Wesentliche in eigene Worte fassen.

Schritt 8 kann man als eine Form des Explorierens betrachten, indem versucht wird, das, was in der Schule beim Üben (Schritt 6) funktioniert hat, in realen Situationen im Betrieb einzusetzen. Beim Punkt e) der Cognitive Apprenticeship ist aber auch vorgesehen, dass die Lernenden diskutieren sollen, ob das Gelernte auch in anderen Situationen nützlich sein könnte – also beispielsweise, ob die Art, das Volumen eines Aushubs zu berechnen, auch an einem anderen Ort, etwa beim Bestellen von Beton , nützlich sein könnte. Explizit ist das im Ablauf der acht Schritte nicht vorgesehen. Mit interessierten Lernenden wäre dies aber sicher eine gute Übung.

Punkt d) sollte ebenfalls im Laufe von Schritt 8 zur Sprache kommen. Hier geht es darum, sich bewusst zu machen, warum und in welchen Punkten das neue gelernte professionelle Vorgehen (die reguläre Perspektive) gegenüber dem spontanen Vorgehen, wie es sich in Schritt 3 zeigte (die singuläre Perspektive), tatsächlich überlegen ist. Hierher gehören auch Diskussionen und Überlegungen dazu, wann allenfalls einfachere, nicht so hochprofessionelle Varianten des Vorgehens vertretbar sind.

2.5 Intelligentes Ãœben

Im traditionellen Rechenunterricht spielt sich Üben meist so ab, dass die Lernenden den Auftrag erhalten „Löst Aufgaben 1 bis 10!“. Diese Art von Üben ist nicht besonders effizient – unter anderem darum, weil die wenigsten Lernenden einen solchen Auftrag mit Freude und Schwung anpacken.

Die Mathematikdidaktik stellt diesem Vorgehen das Konzept des Intelligenten Übens gegenüber. Die Grundidee des Intelligenten Übens ist es, dass die Lernenden Aufgaben bearbeiten, bei denen das zu Übende nur als Hilfsfunktion auftritt und gegenüber anderen, spannenden Aufgabestellungen in der Aufmerksamkeit der Lernenden in den Hintergrund tritt. Die Lernenden üben, ohne dass ihnen das auffällt, und lernen dabei noch einiges anderes dazu (vgl. etwa Leuders, 2009).

Aufgaben selbst erfinden ist eine Form des Intelligenten Übens. Die Lernenden beschäftigen sich dabei mit mehr, als nur dem Abarbeiten eines Lösungsverfahrens. Sie müssen sich konkrete Berechnungssituationen vorstellen, sie müssen sich überlegen, welche Fragen sich in diesen Situationen stellen, sie müssen sich überlegen, welche Daten für eine Berechnung relevant sind, sie müssen für diese Daten realistische (oder auch unrealistische) Werte einsetzen, sie müssen sich Musterlösungen überlegen (wenn sie die Aufgaben an andere Lernende weitergeben) etc.

All das bewirkt, dass sie sich viel intensiver mit den entsprechenden Berechnungssituationen auseinandersetzen, als dies beim konventionellen Üben der Fall ist. Um dies noch zu verstärken, kann man sie auffordern, gezielt mit ihren Beispielen bestimmte Zusammenhänge zu erkunden. Was geschieht, wenn man eine bestimmte Grösse systematisch von ganz klein bis ganz gross verändert? Kann man den Effekt, den die Veränderung einer Grösse hat, durch die Veränderung einer anderen kompensieren? Wie? Etc.

3 Literatur

  • Leuders, T. (2009). Intelligent üben und Mathematik erleben. In L. Hefendehl-Hebeker, T. Leuders & H.-G. Weigand (Eds.), Mathemagische Momente (pp. 130-143). Berlin: Cornelsen.
  • Kaiser, H. (2005) Wirksames Wissen aufbauen – ein integrierendes Modell des Lernens. Bern: h.e.p. Verlag.
  • Kapur, M., & Bielaczyc, K. (2012 ). Designing for Productive Failure. Journal of the Learning Sciences, 21(1), 45-83. doi: 10.1080/10508406.2011.591717
  • Masingila, J. O., Davidenko, S., & Prus-Wisniowska, E. (1996). Mathematics learning and practice in and out of school: A framework for connecting these experiences. Educational Studies in Mathematics, 31(1-2), 175-200.

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