Entwicklung im Bildungssystem als Evolutionsprozess

4 Evolution des Lehrerinnen-und Lehrerverhaltens

Einige typische Merkmale sowohl der Darwinschen Evolution wie auch der Genetischen Algorithmen lassen sich bei der Evolution des Verhaltens von Lehrpersonen vermuten:

  • Gene: Als Gen kann alles betrachtet werden, was die Tendenz einer Lehrperson beeinflusst, in einer bestimmten Situation so und nicht anders zu reagieren. Ohne jetzt genau auf den Mechanismus einzugehen, wie diese Gene jeweils wirksam werden, kommen dafür in Frage: (Didaktische) Theorien und Konzepte, (didaktische) Rezepte und Szenarien, Vorgaben und Reglemente sowie anekdotische Erzählungen und persönliche Erfahrungen.
  • Individuum: Als Individuen könnte man die einzelnen Lehrpersonen betrachten. Da Lehrpersonen aber „mutieren“ – bspw. als Folge des Besuchs einer Weiterbildung – dürfte es sinnvoller sein, als Individuen Lehrpersonen während eines Zeitabschnitts zu betrachten, während dem sie ein relativ stabiles Verhalten zeigen.
  • Population: Die Individuen, aus denen sich die Population zusammensetzt, sind in erster Linie einmal die Lehrpersonen. In ihrem Verhalten drücken sich die Gene aus. Aus dem Einsatz Genetischer Algorithmen weiss man, dass die Population im Minimum mehrere hundert Individuen umfassen sollte, damit sich schnell gute Lösungen entwickeln (Gotshall & Rylander 2002). Diese Grössenordnung ist im Falle der Lehrpersonenpopulation im Allgemeinen gegeben. Speziell ist hier aber, dass nicht nur Lehrpersonen durch Rekombination und Mutation neues genetisches Material in das System einspeisen, sondern auch Dozierende im weitesten Sinn (als Dozierende in Aus- und Weiterbildungen, als Autorinnen und Autoren von Büchern und Artikeln etc.) sowie Politikerinnen und Politiker (durch das Setzen von Rahmenbedingungen, durch den Erlass von Verordnungen etc.). Das ganze System ist also komplexer als es typischerweise für den Einsatz Genetischer Algorithmen konzipiert wird.
  • Generationen: Im Evolutionsparadigma tritt eine neue Generation immer dann auf, wenn Gene durch Rekombination zu einem frischen Mix zusammengestellt werden. So wie Gene hier definiert wurden, ist dies jedes Mal der Fall, wenn eine Lehrperson einen Kurs besucht hat, ein Buch gelesen hat, die Erfahrungen einer Kollegin aufgenommen hat etc. und diese neuen Gene mit den in ihrem Repertoire bereits vorhandenen Genen kombiniert. Eine neue Generation ist also nicht eine neue (biologische) Generation von Lehrpersonen, sondern jede Lehrperson kann im Laufe ihres Lebens mehrere Generationen durchlaufen. Dozierende und Politikerinnen und Politiker können sich selbstverständlich auch in diesem Sinn entwickeln. Der Einfachheit halber soll hier ihre Entwicklung einmal ausgeblendet bleiben. Sie werden nur als Lieferanten neuer Gene betrachtet, deren Entstehung nicht thematisiert ist.
  • Rekombination und Mutation: Rekombination geschieht, indem die neu erworbenen Gene (oder auch nur Teile davon) in die vorhandenen Gene eingebaut werden. Dabei verändert sich auch die Beziehung der vorhandenen Gene zueinander und vielleicht wird manchmal auch ein altes Gen über Bord geworfen. Typischerweise wird bspw. eine Dozentin in einem Kurs eine ganze Konstellation von Genen vermitteln, welche sie auf eine ganz bestimmte Art zueinander in Beziehung setzt. Die Rekombination bei der Aufnahme einer solchen Genkonstellation durch eine Lehrperson kann sowohl dazu führen, dass die Gene zueinander in eine andere Beziehung gesetzt werden als auch dazu, dass einzelne oder mehrere Gene einfach weggelassen werden. Darüber hinaus sind auch Mutationen denkbar, wo eines der neuen Gene so verändert wird, dass es überhaupt nicht mehr dem entspricht, was die Dozentin im Sinn hatte.
  • Totgeburten: Erfolgt die Rekombination rein zufällig, besteht die Gefahr von Totgeburten – Genkombinationen, welche zu einem nicht funktionsfähigen Individuum führen. Bei Lehrpersonen dürfe es allerdings selten der Fall sein, dass diese nach dem Besuch eines Kurses oder der Lektüre eines Artikels vollständig handlungsunfähig werden – wenn auch dies nicht ganz auszuschliessen ist und wenn es sicher immer wieder Lehrpersonen gibt, die über Kurse etc. Anstoss erhalten, den Beruf zu wechseln. Wie Schulz (2010b) beobachtet hat, vermeiden Lehrpersonen ein solches Resultat, indem sie immer versuchen, die Handlungsfähigkeit im Unterricht zu erhalten.
  • Selektion: Eine bestimmte Genkombination, welche das Verhalten einer Lehrperson zu einem bestimmten Zeitpunkt beeinflusst, kann aussterben, wenn eine Lehrperson sich weiterentwickelt oder wenn die Lehrperson aufhört, Lehrperson zu sein. Sie kann ohne Zunahme der Verbreitung erhalten bleiben, wenn eine Lehrperson sie beim nächsten Entwicklungsschritt übernimmt. Und sie kann sich weiter verbreiten, wenn sie eine Lehrperson im Gespräch oder als Dozierende an andere Lehrpersonen weitergibt. Es ist zwar zu erwarten, dass die einzelne Lehrperson bei der Entscheidung, welche Genkombination sie erhält oder weitergibt, sich auch davon leiten lässt, ob nach ihrer Meinung ihr eigenes Verhalten im Unterricht dadurch positiv beeinflusst wurde. Es ist aber zu vermuten, dass oft der wichtigste Faktor für die Verbreitung von Genkombinationen die Frage ist, wie gut sich darüber reden lässt. Wie March in einem anderen Zusammenhang beobachtet hat, führt das dazu, dass es für Gene eine „maximal comprehensible complexity“ gibt, und dass diese relativ wenig mit der tatsächlichen Komplexität des Prozesses zu tun hat, der beeinflusst werden soll (March, 2011).