Entwicklung im Bildungssystem als Evolutionsprozess

2 Evolution durch Mutation und Rekombination als Lernmodell

Die mehr oder weniger willkürliche Kombination/Rekombination von „Elementen“ als Lernprozess wurde bereits mehrfach thematisiert. Es ist einmal das Modell, das der sexuellen Fortpflanzung in der Darwinschen Selektions- und Evolutionstheorie zugrunde liegt. Grob wird dabei angenommen, dass es bei der Befruchtung der Eizelle zu einer zufälligen Rekombination von Erbinformation kommt – vielleicht nicht unähnlich zu dem, was im Kopf einer Lehrperson geschieht, wenn diese im Rahmen eines Weiterbildungskurses „befruchtet“ wird. Lernen geschieht dabei insofern, als gewisse Kombinationen sich besser bewähren als andere, d.h. eine grössere Chance haben, weitergegeben zu werden.

Dieser Mechanismus wurde dann etwa ab 1960 von Forschern im Bereich des Machine Learning aufgegriffen, unter anderem in Form sogenannter Genetischer Algorithmen. Grob gesagt funktionieren diese so, dass Computerprogramme miteinander „gekreuzt“ werden, indem zufällig ein Teil des einen Programms durch einen Teil des anderen Programms ersetzt wird. Die neu entstandenen Programme haben sich dann bezüglich bestimmter Kriterien zu bewähren. Erfüllen sie diese, werden sie bevorzugt zu weiteren Kreuzungsversuchen beigezogen. Programme, welche die Kriterien weniger gut erfüllen, sterben mit der Zeit ohne Nachkommen aus (Mitchell 1999). Auf diesem Weg gelang es beispielsweise, eine Funktion für den Wärmeaustausch zwischen der Atmosphäre und dem Polareis „heranzuzüchten“, welche offenbar Aspekte berücksichtigt, die bisher von der Forschung vernachlässigt wurden (Stanislawska, Krawiec, & Vihma 2015).

Zwischen der natürlichen bzw. Darwinschen Evolution und dem Einsatz Genetischer Algorithmen bestehen ein paar wesentliche Unterschiede:

  • Sucht man ein optimales Programm mit Hilfe eines Genetischen Algorithmus, kann man den Evolutionsprozess stoppen, sobald ein solches Programm gefunden wurde. Man greift es heraus und setzt es von nun an als Werkzeug ein. Typischerweise hat man allerdings keine Ahnung, wie gut das bestmögliche Programm wäre – also bspw. die bestmögliche Funktion zur Beschreibung des oben erwähnten Wärmeaustausches. Man wird daher abbrechen, wenn man ein zu praktischen Zwecken ausreichend gutes Programm gefunden hat. Die Darwinsche Evolution stoppt aber nicht an dieser Stelle; das erreichte Optimum wird vielmehr gleich wieder verlassen. Auch das optimale Individuum stirbt. Und seine Nachkommen werden sich in einigen Punkten von ihm unterscheiden, also nicht mehr optimal sein. Zudem werden immer gleichzeitig neben einem optimalen Individuum in der Population viele weitere, suboptimale Individuen existieren und sich entsprechend suboptimal verhalten.
  • Mit Hilfe eines Genetischen Algorithmus kann man ganz gezielt auf ein bestimmtes Kriterium hinarbeiten – also bspw. auf eine Funktion, welche die bekannten Daten der letzten Jahre zum oben erwähnten Wärmeaustausch möglichst genau reproduziert. Die Darwinsche Evolution selektioniert nicht auf ein solch klar definiertes Leistungskriterium hin, sondern bringt Individuen hervor, die sich möglichst erfolgreich fortpflanzen. Dieser Fortpflanzungserfolg dürfte in der Regel nicht von einzelnen, gut definierten Kriterien abhängen.
  • Mit dem Einsatz Genetischer Algorithmen arbeitet man typischerweise auf die optimale Anpassung an den aktuellen Zustand einer gegebenen Umwelt hin – man sucht bspw. nach einer Funktion zu Beschreibung des Wärmeaustausches, so wie er jetzt auf dieser Erde stattfindet und sich in den vorhandenen Daten spiegelt. Sollten sich wesentliche Aspekte der Umwelt aus irgendeinem Grund ändern, ist die gefundene Lösung unter Umständen nicht mehr optimal. Die Darwinsche Evolution hingegen kann sich, da sie ja nicht stoppt, grundsätzlich solchen Veränderungen anpassen. Dies dürfte umso besser und schneller gelingen, je weniger uniform die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Population vorhandenen Individuen sind.