1 Die Problematik
Wenn man Lehrerinnen und Lehrerbildung betreibt, erlebt man immer wieder Folgendes: Die Lehrpersonen greifen scheinbar willkürlich Teile heraus aus dem, was man ihnen mitgeben möchte. Und sie kombinieren das dann scheinbar genauso willkürlich mit Elementen aus anderen Quellen. Es ist praktisch unmöglich, Konzepte kohärent zu „implementieren“. Dies beobachtet man auf allen Ebenen, egal ob es nur um begrenzte didaktische Szenarien oder gar um umfassende Bildungsreformen geht.
Ein gut dokumentiertes Beispiel zu Implementationsschwierigkeiten im Bereich didaktischer Szenarien sind die Arbeiten von Ann Brown zum „Reciprocal Teaching“. Brown und Champion beklagen, dass Lehrpersonen oft einzelne Werkzeuge aus einem zusammenhängenden didaktischen Systems herauspicken – „following a Chinese menu approach“ (Brown & Campione 1996, S. 292). Dies führt nach ihren Beobachtungen dazu, dass die Werkzeuge in ihrer Form und Funktion mutieren – bis hin zu „letalen“ Mutationen, welche die ursprüngliche Intension des didaktischen Szenarios ad absurdum führen.
Ein Beispiel aus dem Bereich Bildungsreformen ist die Einführung der Ergebnis- und Kompetenzorientierung im Mathematikunterricht der Sekundarstufe I in Luxemburg. Schulz (2010a) dokumentiert ausführlich, wie sich die angestrebte Kompetenzorientierung im Unterricht keineswegs so niedergeschlagen hat, wie die Planer das vorgesehen hatten. „Anstatt ihre Handlungen an Unterrichtseffekten und überprüften Lernleistungen ihrer Schüler auszurichten, stehen für Lehrkräfte bei der Innovation ihres Unterrichts das Streben nach eigener Handlungsfähigkeit im Unterricht und im Kollegium, die Orientierung an persönlicher Betroffenheit und das Anliegen einer kohärenten Sichtweise auf bisherige und neue Konzepte im Vordergrund“. (Schulz 2010b, S. 784).
Man mag diese Unmöglichkeit, im Bildungsbereich Konzepte zu „implementieren“, bedauern. Da es sich aber bei Bildungssystem um ein komplexes und damit nicht direkt steuerbares System handelt (Rucker 2014), dürfte daran kaum etwas zu ändern sein. Akzeptiert man diese Unmöglichkeit, bleiben in letzter Konsequenz nur zwei alternative Reaktionsmöglichkeiten: Entweder man resigniert und überlässt das Bildungssystem seiner Eigendynamik. Oder man versucht das Funktionieren des Systems als spezifischen Lernprozess zu verstehen, der „Implementierungen“ nicht geradlinig und nicht zwingend im Sinne der „Implementierenden“ verarbeitet, der aber trotzdem Lernen und damit Qualitätssicherung und Qualitätsverbesserung ermöglicht.
Ich möchte hier einmal diesen zweiten Weg zu begehen. Die Fragestellung ist dabei eine doppelte:
- Lässt sich das auf allen Ebenen des Bildungssystems beobachtbare Verhalten (Willkürliche Kombination willkürlich herausgegriffener Elemente) als Lernprozess verstehen?
- Wenn ja: Unter welchen Umständen/Randbedingungen verläuft dieser Lernprozess positiv und liessen sich diese Randbedingungen zur Steuerung des Bildungssystems gezielt nutzen?