Alles in allem scheint es mir gerechtfertigt, ein abgegrenztes Unterrichtsmethodisches Erkenntnisinteresse nach dem gleichen Muster wie die drei von Habermas herausgearbeiteten Interessen zu formulieren. Der folgende Versuch spiegelt allerdings kaum das Selbstverständnis der pädagogischen Forschergemeinschaft, sondern systematisiert einfach meine Erfahrungen.
Zweck
Unterrichtsmethodisches Erkenntnisinteresse will dazu beitragen, dass gesellschaftlich organisiertes Lernen möglichst effizient und zielführend abläuft. (Beispiel Fachrechnen: Die Lernenden sollen die im beruflichen Alltag notwendigen Berechnungen ausführen können, ohne dass man sie dazu jahrelang in Förderkurse etc. stecken muss.)
Form
Benötigt werden Denkwerkzeuge in verschiedensten Formen:
- Didaktische Rezepte: Ziel ist es, bei Lehrpersonen Improvisationen zu fördern, welche zielführender sind als die bisher eingesetzten. Dazu benötigen sie als Ausgangspunkt Improvisationsvorlagen, aus denen sie ganze Handlungsblöcke und mögliche Reihenfolgen dieser Blöcke entnehmen können. (Beispiel Fachrechnen: Die acht Schritte; weitere Beispiele in Kaiser 2019, Teil A)
- Exemplarische Umsetzungen: Rezepte sind Improvisationsvorlagen und müssen der jeweiligen Situation angepasst werden. Als Hilfe eigenen sich kommentierte Erzählungen von mehr oder weniger gelungenen Improvisationen, anhand derer deutlich wird, was bei der Umsetzung der Rezepte zu bedenken ist und was dabei alles schief gehen kann. (Beispiel Fachrechnen: Beispiele zu den acht Schritten ; weitere Beispiele in Kaiser 2019, Teil B)
- Theoretische Grundlagen: Durch den improvisierenden Einsatz der Rezepte, werden Elemente daraus verändert. Dabei besteht die Gefahr, dass das Ziel des Rezepts nicht mehr erreicht werden kann. Um solche „letalen Mutationen“ (Brown & Campoine 1996) der Rezepte zu vermeiden, benötigen die Lehrpersonen Hintergrundtheorien als Leitplanken, die beim Verändern nicht überschritten werden sollten. (Beispiel Fachrechnen: Wissensaufbau von den Füssen her ; weitere Beispiele in Kaiser 2019, Teil C)
- Emanzipatorische Hilfestellungen: Um das Ziel zu erreichen, müssen typischerweise die Lehrpersonen, aber manchmal auch andere Akteure, ihr bisheriges Vorgehen ändern. Im Bildungsbereich sind aber Vorgehensweisen meist mit tief verwurzelten Ansichten verbunden und lassen sich nicht so einfach verändern. Benötigt wird in diesem Fall auch unter emanzipatorischem Interesse generierte Wissen, um Veränderungen überhaupt möglich zu machen (Beispiel Fachrechnen: s. Abschnitt 2, Praktisches Interesse).
Interessierte
Interessierte sind in erster Linie Lehrpersonen, die die Denkwerkzeuge zur Gestaltung ihres Unterrichts einsetzen möchten. In zweiter Linie sind es Dozierende, welche Kurse für Lehrpersonen anbieten. Die Dozierenden sind in doppelter Form an den Denkwerkzeugen interessiert: Einmal als Instrument, um den Unterricht in ihren Kursen zu gestalten, und zum zweiten als Inhalt, den sie den Lehrpersonen vermitteln.
Kriterien
Pädagogische Denkwerkzeuge sind genau dann brauchbar, wenn es über die Kette Forschung/Dozierende/Lehrpersonen/Lernende dazu führt, dass die Lernenden die gesellschaftlich definierten Lernziele effizient und effektiv erreichen. (Beispiel Fachrechnen: Vgl. das unter Zweck formulierte Ziel.)
Entstehungs- und Überprüfungsprozess
Ausgangspunkt ist typischerweise eine Art „Störung“ im Unterricht, unter der mehrere im entsprechenden Bildungsbereich engagierte Personen leiden und von der sie annehmen, dass sie behebbar ist. (Beispiel Fachrechnen: U.a. der grosse Bedarf an Stütz- und Förderkursen in diesem Bereich.)
Ausgehend von ersten Ideen, welche Rezepte, Beispiele etc. dienlich sein könnten, werden in einem iterativen Prozess so lange neue Versionen des Paketes an unterrichtsmethodischen Werkzeugen entwickelt (vgl. oben unter Form), bis eine befriedigende Variante erreicht wird.
Ausgangspunkt können verschiedenste Quellen sein, insbesondere:
- Gespräche und Beobachtungen mit und bei Lehrpersonen, welche unter der „Störung“ leiden. (Beispiel Fachrechnen: Ausgangspunkt waren Kurse zu pädagogischen Fördermassnahmen an Berufsfachschulen, die nicht spezifisch auf das Fachrechnen ausgerichtet waren, bei denen aber entsprechende Probleme immer wieder zur Sprache kamen.)
- Gespräche und Beobachtungen mit und bei Lehrpersonen, die bei sich diese „Störung“ nicht wahrnehmen. (Beispiel Fachrechnen: In denselben Kursen wie oben Lehrpersonen, die weniger oder kaum vom Problem betroffen waren.)
- Dokumentierte Beobachtungen aus der Literatur zur „Störung“ oder zu verwandten Problemen. (Beispiel Fachrechnen: U.a. die weltweit durchgeführten Studien, in denen immer wieder beobachtet wird, dass die Lernenden am Ende der obligatorischen Schulzeit „nicht rechnen können“.)
- Bestehende Unterrichtsrezepte und dazu passende Umsetzungsbeispiele, die transferiert werden könnten. (Beispiel Fachrechnen: U.a. das für einen völlig anderen Kontext entwickelte Rezept des „Lernstopps“ (Kaiser 2002), dazu viele andere Anregungen aus der Literatur.)
- Bestehende theoretische Konzepte, welche die „Störung“ erklären können und/oder Anregungen für wirksame Rezepte liefern. (Beispiel Fachrechnen: Situiertes Wissen, situiertes Lernen, situierte Abstraktion, Alltagsmathematik, Unterschiede zwischen schulischer Mathematik und Mathematik am Arbeitsplatz etc.)
- Auffällige Widersprüche als Basis für den emanzipatorischen Teil des Wissenspaketes. (Beispiel Fachrechnen: Der auffällig Unterschied zwischen den Klagen darüber, dass die Schulabgänger in der Schweiz und Deutschland nicht rechnen können, und den guten Resultaten derselben Schulabgängern in den PISA Vergleichsstudien.)
Der iterative Prozess verläuft grundsätzlich so, dass Lehrpersonen ermuntert werden, immer wieder neue Versionen der Rezepte auszuprobieren und von ihren Erfahrungen zu berichten. Aufbauend kann es Sinn machen, zuerst mit einzelnen Lehrpersonen in einer individuellen Beratungssituation zusammenzuarbeiten, später den Kreis auszuweiten und als Dozent/Dozentin mit ganzen Gruppen in einem Kurssetting oder einem schulinternen Projekt zu arbeiten und dann schliesslich andere Dozentinnen und Dozenten bei solchen Versuchen zu begleiten. Dabei entstehen parallel zueinander Rezepte, exemplarische Umsetzungsbeispiele, nützliche theoretische Grundlagen und das notwendige emanzipatorische Wissen, um mit Widerständen umgehen zu können (Beispiel Fachrechnen: Entstehungsgeschichte).
Das Ziel ist erreicht, wenn bei einem Grossteil der Lehrpersonen, die bspw. einen Kurs zu den neuen „Rezepten“ besuchen, die Störung verschwindet bzw. gar nie auftritt.