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Praktisches Interesse

Habermas geht es in seiner Beschreibung des praktischen Interesses immer darum, Erkenntnisse für eine ganz bestimmte konkrete Interaktion ganz bestimmter Personen zu generieren. Er sieht keine über den Einzelfall hinausgehende Wissensentwicklung vor. Eine solche scheint mir aber notwendig. Äusserungen von Mitmenschen sind so vielfältig und nicht eindeutig, dass die Menge möglicher Interpretationen, mit denen man den Verstehensprozess starten kann, oft schier unbegrenzt ist und daher die Chance klein, dass man einen Ausgangspunkt erwischt, von wo aus sich eine brauchbare Interpretation entwickeln kann. Wie Habermas beim emanzipatorischen Interesse in Form „der verallgemeinerten Geschichten“ vorschlägt, braucht man auch hier „Folien“, Beobachtungs- und Interpretationsraster, welche die Aufmerksamkeit in eine günstige Richtung lenken. Welches dieser Raster in welchem Kontext nützlich ist, ist kulturell geprägt. Interagiere ich mit einem Schweizer, gibt es andere günstige Ausgangspunkte für eine verständnisvolle Interpretation als wenn ich mit einer Japanerin zusammenzuarbeiten möchte. Typischerweise nehmen diese Raster die Form von Ratgebern an, welche etwa betonen, dass für Japaner das Thema Vermeidung von Gesichtsverlust sehr zentral ist, wogegen bei Schweizerinnen eher die Pünktlichkeit grosse Bedeutung hat. Ein hübsches historisches Beispiel ist der „Leitfaden für britische Soldaten in Frankreich“ (British War Office 1944).

Ich habe nie systematisch an der Entwicklung solcher Raster mitgearbeitet. Für mich selbst musste ich aber mehrfach für den Eigengebrauch neue Raster entwickeln, wenn ich jeweils begann mit einer neuen Gruppe von Leuten zusammenzuarbeiten. Eine solche Gruppe waren Fachkunde-Lehrpersonen in der Berufsbildung in der Schweiz. Über 15 Jahre hinweg hat sich hier im Laufe zahlreicher Interaktionen ein Raster herausgebildet, welches mir ermöglichte, Lehrpersonen immer schneller zu verstehen.

Leider habe ich dieses Raster nie wirklich reflektiert, so dass ich es bewusst anderen Personen zur Verfügung stellen könnte. Es wäre interessant, jemand würd einmal so etwas versuchen. Dabei wäre es nützlich, als Ergänzung zu Habermas auch eine Methodik zur Ausarbeitung solcher Raster zu erarbeiten.