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Emanzipatorisches Interesse

Am intensivsten war ich im emanzipatorischen Bereich beschäftigt, und zwar am längsten und ausführlichsten mit dem Versuch, Berufsschullehrpersonen von ihren Selbstmissverständnissen bezüglich des Fachrechnens zu befreien (Entstehungsgeschichte).

Ausgangspunkt war das Leiden der Berufsschullehrpersonen am Fachrechnen, ihre Klagen darüber, dass es ihnen nicht gelingt, den Lernenden ganz elementare und nicht besonders komplizierte Dinge beizubringen. Sie hatten den Anspruch, dass dies möglich sein sollte, und ich war der Überzeugung, dass es tatsächlich möglich ist. (Zu diesem zweiten Punkt merkt Habermas an, dass eine auf dem Hintergrund des emanzipatorischen Interesses laufende Therapie immer auch eine kulturelle Norm dessen voraussetzt, was möglich und normal ist.)

Um an dieser Störung zu arbeiten besuchten die Berufsschullehrpersonen bei mir Kurse, wo sie sich ohne den üblichen Handlungsdruck im Schulzimmer mit verschiedenen Aspekten ihres Unterrichts auseinandersetzen konnten. Neben dem fehlenden Handlungsdruck war dabei ebenfalls wichtig, dass  Ideen ungehindert ausgetauscht werden konnten.

Als Rahmen, als Erzählfolie diente mir eine verallgemeinerte Geschichte darüber, wie die Lehrpersonen selbst in ihrer Schulzeit den Rechnen/Mathematikunterricht kulturell bedingt erlebt hatten (Drill), welche Vorstellungen sie dadurch von Rechnen/Mathematik entwickelt hatten (disziplinierte Anwendung allgemeingültiger Regeln) und wie sie dann aber später im beruflichen Alltag Rechnen ganz anders eingesetzt hatten (flexibler und kreativer Gebrauch von Zahlen zur Beantwortung praktischer Fragen). Die Hauptbotschaft dieser Geschichte war, dass die eigenen schulischen Erfahrungen der Lehrpersonen ihnen den Blick darauf verstellen, wie sie selbst Zahlen im Alltag gebrauchen. Konkretes Ziel war die Beseitigung des Drucks durch die normative Vorstellung von schulischem Rechnen, so dass die Lehrpersonen frei wurden, mit den Lernenden darüber zu sprechen, wie im beruflichen Alltag Zahlen tatsächlich eingesetzt werden.

Die Teilnehmenden an den Kursen erhielten immer viel Platz, ihre Erfahrungen aus dem Schulunterricht zu erzählen. Das ermöglichte es, die verallgemeinerte Geschichte exemplarisch für einzelne Teilnehmende zu konkretisieren, ihre spezifische Geschichte zu erzählen. Zudem stellte ich ihnen immer ein paar speziell konstruierte Berechnungsaufgaben, bei deren Bearbeitung sie einerseits ihre Ursituation, die Schulsituation in der Rolle der Lernenden, wiedererlebten und andererseits beobachten konnten, dass sie beim Berechnen ganz anders vorgehen, als es ihren normativen Vorstellungen entsprach.

Um wirklich den gewünschten Effekt zu erreichen, musste sich ein Kurs über mindestens ein halbes Jahr erstrecken. Weniger entscheidend war dabei die eigentliche Präsenzzeit, sondern die Zeit, in der sich die Lehrpersonen im Alltag bei der Gestaltung ihres Unterrichts mit der Problematik auseinander setzten. Über diese Versuche berichteten sie in regelmässigen Treffen. Dabei zeigten sich bei den meisten noch nach Monaten Widerstände, sich von ihrer alten normativen Vorstellung des schulischen Rechnens zu lösen. Ich und manchmal auch andere Kursteilnehmenden haben bei diesen Treffen die Berichte von Unterrichtsversuchen immer wieder auf dem Hintergrund der verallgemeinerten Geschichte von schulischem Rechnen und Zahlengebrauch im Alltag nacherzählt.

Bei geschätzt 80% der Teilnehmenden ist die gewünschte Veränderung nach einigen Monaten eingetreten. Sie fühlten sich befreit und hatten wieder mehr Lust und Freude daran, Fachrechnen zu unterrichten. Die restlichen Teilnehmenden hätten vielleicht eine intensivere, individuellere Betreuung gebraucht, als dies in der Kursgruppe möglich war.