Denkwerkzeuge für Unterrichtende

3    Die Struktur von für die Gestaltung von Unterricht relevanten Denkwerkzeugen

Für mich hat Habermas überzeugend herausgearbeitet, dass es unterschiedliche Erkenntnisinteresse gibt, die je zu unterschiedliche Kriterien bezüglich der Form und der Überprüfung des jeweiligen Wissens führen. Er verbindet die drei von ihm behandelten Erkenntnisinteressen mit „den kulturellen Bedingungen unserer Existenz: Arbeit, Sprache und Herrschaft.“ (Habermas 1968, S.347). Dabei definiert er: „Interessen nenne ich die Grundorientierungen, die an bestimmten fundamentalen Bedingungen der möglichen Reproduktion und Selbstkonstituierung der Menschengattung, an Arbeit und Interaktion, haften. Jene Grundorientierungen zielen deshalb nicht auf die Befriedigung unmittelbar empirischer Bedürfnisse, sondern auf die Lösung von Systemproblemen überhaupt. Freilich kann von Problemlösungen hier nur tentativ die Rede sein. Denn erkenntnisleitende Interessen dürfen nicht anhand von Problemstellungen bestimmt werden, die als Probleme erst innerhalb eines von ihnen festgelegten methodologischen Rahmens auftreten könnten. Die erkenntnisleitenden Interessen messen sich allein an jenen objektiv gestellten Problemen der Lebenserhaltung, welche durch die kulturelle Form der Existenz als solche beantwortet worden sind.“ (Habermas 1968, S. 242)

Vielleicht war Habermas damals der Ansicht, mit seiner Analyse erschöpfend alle Interessen behandelt zu haben, welche sich aus der „möglichen Reproduktion und Selbstkonstituierung der Menschengattung“ ergeben. Ich bin zu wenig Habermas-Spezialist, um das beantworten zu können. Aus meiner Sicht gibt es aber keinen Grund, sich auf diese drei Formen zu beschränken. Vielleicht decken sie auf einer Makro-Ebene tatsächlich alle in der menschlichen Gesellschaft vorhandenen Interessen ab. Aber auf einer feiner auflösenden Ebene darunter lassen sie sich mit Sicherheit differenzieren und die damit verbundenen Kriterien genauer präzisieren. Ich versuche das hier für etwas, was ich Unterrichtsmethodisches Erkenntnisinteresse nennen möchte

Forschung zur Gestaltung von Schulunterricht verfolgt grob das Ziel, Unterricht wirksamer zu machen. Auf den ersten Blick könnte man hier technisches Interesse vermuten. Genauer betrachtet sind aber die die Charakteristika des technischen Interesses nicht gegeben. Beim technischen Interesse stehen normierte Situationen im Fokus, die durch entsprechend geschulte Personen beliebig herstellbar sind und für die bekannt ist, welche Reaktion eine bestimmte Aktion auslöst (vgl. Abschnitt 1). Das ist bspw. für den Abschuss einer Kanonenkugel oder für das Schalten eines elektronischen Steuerelements machbar. Darauf gründet sich das Ansehen der Physik, welche angeblich das entsprechende Wissen liefert. (Für eine kritische Sicht auf die Rolle physikalischer Theorien vgl. etwa Baird 2004, Kornwachs 2013).

Man kann versuchen, Unterricht aus dieser Perspektive anzugehen und von den Lehrpersonen erwarten, dass sie normierte Situationen herstellen. Aber ihr „Material“ sind nicht Kanonenkugeln, sondern Menschen. Und diese entziehen sich jeder Normierung, sowohl einzeln wie auch in der Gruppe. Daher sind Lehrpersonen ständig mit Situationen konfrontiert, die zwar in einem gewissen Sinne verwandt sind, die aber doch immer wieder so unterschiedlich ausfallen, dass sie nach ganz spezifischen Reaktionen verlangen. Lehrpersonen improvisieren ständig, was u.a. auch dazu führt, dass man sie nicht in dem Sinne schulen kann, wie man einem Kanonier das Einstellen des Abschusswinkels beibringt. Lehrpersonen werden das, was man ihnen in der Ausbildung oder in einer Weiterbildung mitgibt, nie genau so nutzen, wie es ihnen vermittelt wurde, sondern sie werden pädagogische Theorien und Rezepte höchstens als Grundlage für ihre Improvisationen einsetzen (Bildungsevolution).

Dasselbe gilt eine Ebene vorgelagert. Auch die Dozierende der Lehrerbildung sind Lehrpersonen und werden ihrerseits Theorien und Rezepte, welche die Forschung für die Ausbildung von Lehrpersonen zur Verfügung stellt, ebenfalls höchstens als Grundlage für Improvisationen nutzen (Wirkungskaskade). Die Denkwerkzeuge, welche die pädagogische Forschung schafft, müssen also (durch Improvisationen der Dozierenden angeregte) Improvisationen der Lehrpersonen derart unterstützen, dass die Lernenden qualitativ möglichst gut lernen – was auch immer darunter zu verstehen ist. Technische Regeln entweder für Dozierende oder direkt für Lehrpersonen können dies nicht leisten.

Die Ziele pädagogischer Forschung decken sich auch nicht eins zu eins mit den Zielen des pragmatischen oder des emanzipatorischen Interesses. Natürlich müssen die Lehrpersonen in einem gewissen Sinn die Lernenden verstehen, damit sie mit ihnen interagieren können. Darüber hinaus brauchen sie aber auch Hilfe, um die Lernenden sinnvoll anzuleiten. Und sicher kommt es vor, dass einzelne Lernende ihr Potential nicht abrufen können und so etwas wie eine „Therapie“ brauchen. Aber die Aufgabe der Lehrperson endet hier nicht. Ist der Knopf bei den Lernenden einmal gelöst, brauchen diese immer noch Anleitung, wie sie nun unbehindert lernen sollen. (Die Psychoanalyse wurde nebenbei auch schon dafür kritisiert, dass sie die Klienten, ist einmal die Störung beseitigt, allein lässt und ihnen nicht hilft, die neu gefundene Freiheit zu nutzen.)