Köchinnen und Köche

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Das Projekt

In den Jahren 2007 bis 2009 wurden die Verordnung und der Bildungsplan zur beruflichen Grundbildung „Koch/Köchin mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis“ überarbeitet. Im Zuge dieser Reform wurde beschlossen, die bisher fächerorientierte Ausbildung fächerübergreifend zu gestalten. Im Zentrum steht der gesamte Prozess vom Einkauf bis zum fertigen Gericht auf dem Teller des Gastes. Didaktisch bedeutet dies eine Abkehr von der Vermittlung einzelner Wissensbestandteilen, hin zu einer ganzheitlicheren Auseinandersetzung mit typischen beruflichen Handlungssituationen.

Als Konsequenz daraus finden sich im Bildungsplan nur sehr allgemeine Angaben zum „Fachrechnen“ bzw. zur „Kalkulation“. Als Ergänzung dazu wurde für den Schulunterricht von einer Arbeitsgruppe ein Rahmenlehrplan geschaffen. Dabei wurde beschlossen, das bisher recht umfangreiche Thema „Fachrechnen“ von 120 oder mehr Lektionen auf 40 Lektionen (verteilt auf drei Jahre) zu reduzieren. Um die Grundlagen dafür zu legen wurde eine kleine Projektgruppe bestehend aus drei Köchen und mir gebildet.

In einer ersten Projektsitzung zeigte sich, dass die drei Fachlehrer sehr an neuen – auch radikalen – didaktischen Ideen interessiert waren. Sie hatten alle vor noch nicht allzu langer Zeit aus der beruflichen Praxis an eine Berufsfachschule gewechselt und erfüllten die Anforderungen an Mitglieder einer solchen Projektgruppe ideal.


Die Situationen

Als erstes machte sich die Projektgruppe daran, zusammenzustellen, in welchen Situationen im beruflichen Alltag eines Kochs/einer Köchin überhaupt „gerechnet“ wird. Dies geschah in Form eines kleinen Brainstormings am runden Tisch. In einem ersten Anlauf ergaben sich folgende fünf Situationen:

Rezeptangaben umrechnen ist wohl die Situation, die auch einem Laien als erstes einfällt. (Interessanterweise wurde sie aber im damals aktuellen Lehrmittel nicht explizit behandelt.) Die beiden nächsten Situationen entsprechen zwei traditionellen Themen, wie sie schon bisher im Fach Kalkulation genau unter diesen Titeln zu finden waren. Entsprechend dauerte es nicht lange, bis diese drei Situationen genannt waren.

Gefässe wählen wurde dann von einem der drei beteiligten Kochfachlehrern eingebracht, offenbar eine Situation, die er mit seinen Lernenden regelmässig behandelt, obwohl diese auch im aktuellen Lehrmittel nicht abgedeckt war. Und Zeitmanagement wurde von mir als Laie eingebracht, basierend auf meiner Erfahrung, dass mich als Familienkoch die damit verbundenen Überlegungen am meisten beanspruchen.

Was bei diesem ersten Brainstorming geschah, ist typisch.

  • Die bisherige Unterrichtspraxis bzw. die die bisher verwendeten Lehrmittel beeinflussen zu Beginn das Sammeln von Situationen deutlich (Verlustrechnung und Preiskalkulation). Das kann hilfreich sein, um einen Anfang zu machen oder um eine spontane Sammlung von Situationen darauf hin zu überprüfen, ob sie vollständig ist. Wichtig ist dabei einfach, dass diese alten Inhalte nicht unkritisch übernommen werden. Interessant war in diesem Fall, dass die Bezeichnung Kalkulation offenbar Programm war: Kalkulation scheint mehr als einfaches Rechnen zu sein. Entsprechend wurden dort so simple Vorgänge wie Rezeptangaben umrechnen nicht abgehandelt.
  • Wenn sich die Teilnehmenden aber von diesen traditionellen Themen lösen und beginnen, sich typische Szenen aus dem Berufsalltag vorzustellen, kommen schnell weitere Situationen dazu. Da verschiedene Tätigkeiten in der professionellen Küche auch im ähnlich normalen Haushalt vorkommen, können hier sogar aussenstehende Laien Ideen einbringen (Rezeptangaben umrechnen), die dann aber selbstverständlich von professioneller Seite kritisch betrachtet werden müssen.
  • Oftmals ist es so, dass einzelne Teilnehmende aus ihrer persönlichen Erfahrung Situationen einbringen, die ihnen aus irgendwelchen Gründen wichtig erscheinen. In diesem Fall war es das Gefässe wählen, eingebracht durch einen Kochfachlehrer, und das Zeitmanagement, eingebracht durch mich. Hier muss natürlich überprüft werden, ob diese Situationen für die Arbeit bedeutungsvoll genug sind und somit tatsächlich in die Liste aufgenommen werden sollten.
  • Typischerweise ist bei den Teilnehmenden der Arbeitsgruppe die Vorstellung, was alles noch unter das Thema Rechnen Alltagsmathematik fallen könnte, etwas eingeschränkt, sei es durch die bisherige Ausrichtung des Unterrichts (hier Kalkulation), sei es dadurch, dass damit Zahlen verrechnen im engeren Sinn verstanden wird. Wichtig ist deshalb, dass der Blickwinkel geöffnet wird, sei es dadurch, dass man ein geeignetes Suchraster einsetzt, oder sei es, dass ein Experte an der Runde teilnimmt und entsprechende Fragen stellt. In diesem Fall konnte ich die Rolle des Experten übernehmen und helfen, die Situation Zeitmanagement der Liste hinzuzufügen.

In meiner Rolle als Experte/Moderator liess ich mir alle Situationen genau schildern, stellte immer wieder die Frage, wie denn in der Praxis tatsächlich in den entsprechenden Situationen genau vorgegangen wird, und fragte bei jeder Situation nach, ob denn tatsächlich von ausgebildeten Köchinnen und Köchen erwartet wird, dass sie diese Berechnungen ausführen.

Dabei machten die drei beteiligten Fachlehrer glaubwürdig, dass ausser in der Situation Preiskalkulation in allen anderen vier Situationen tatsächlich im beruflichen Alltag gerechnet wird. Die Situation Zeitmanagement wurde von ihnen sogar als eine besonders kritische Situation hervorgehoben, denn wenn Lernenden an der praktischen Abschlussprüfung scheitern, dann offenbar fast ausschliesslich wegen diesem Punkt.

Die Diskussion ergab, dass das Thema Preiskalkulation hingegen ein Thema für die höhere Fachbildung ist und von Köchinnen/Köchen EFZ nicht erwartet wird, dass sie hier selbstständig Berechnungen durchführen können. Die Gruppe einigte sich aber darauf, dass es trotzdem nützlich ist, die Situation zu behandeln, allerdings nur mit dem Ziel, dass die Lernenden nachvollziehen können, welche Grössen dabei berücksichtigt werden müssen.

Im weiteren Verlauf der Arbeit kamen dann noch zwei weitere Situationen hinzu:

Diese letzte Situation wurde ganz an Schluss, nachdem die Arbeit praktisch abgeschlossen war, noch aufgenommen. Sie entspricht einem Thema aus dem bisherigen Fachrechnen und wurde traditionell als Prüfungsaufgabe in den schriftlichen Abschlussprüfungen eingesetzt. Interessanterweise war sie während den mehr als ein Jahr dauernden Arbeiten an den anderen Situationen nie zum Thema geworden. Als dann aber eine andere Arbeitsgruppe daran ging, auf Grund der neuen Unterlagen eine Abschlussprüfung zu erarbeiten, zeigte sich, dass es schwierig sein dürfte, dort auf diese traditionelle Aufgaben zu verzichten . Die Arbeitsgruppe entschied sich daher, die Situation auch noch aufzunehmen und sie als eine Art Scharniersituation zu behandeln, in der Informationen aus vielen anderen Situationen zusammenfliessen. Auch diese Entwicklung ist nicht untypisch: Manchmal sind Traditionen einfach zu stark, als dass sie einfach so überwunden werden könnten.


Situationen beschreiben und Lernumgebungen gestalten

Die Beschreibung der Situationen spielte sich etwas anders ab, als im Leitfaden vorgeschlagen. Im Wesentlichen geschah sie direkt über die Erstellung der Lernumgebungen, d.h. es wurden keine Beschreibungen im der Form Konkreter Kompetenzen erstellt.

Die Lernumgebungen, die im Laufe dieses Prozesses entstanden sind, halten sich im Wesentlichen an den im Leitfaden vorgeschlagenen Aufbau. Sie können alle von der Website von Hotel & Gastro formation heruntergeladen werden. Dort findet man auch zu jeder Lernumgebung eine didaktische Kurzanleitung.

Der Ablauf war so, dass ich mir jede Situation genau schildern liess und kritisch immer wieder nachfragte, ob denn nun wirklich in der alltäglichen Praxis so vorgegangen wird. Aufgrund dieser Schilderungen, die ich mir stichwortartig notierte, erstelle ich Entwürfe für Lernumgebungen zu den einzelnen Situationen. Diese Entwürfe dienten dann als Grundlage, um die einzelnen Situationen, die notwendigen Ressourcen, die angestrebte Kompetenz etc. im Detail zu diskutieren und zu klären.

Parallel zu dieser Arbeit erstellte ich zu jeder Situation eine didaktische Kurzanleitung, die jeweils auch eine Beschreibung der Situation und der damit verbundenen zentralen mathematischen Herausforderungen und Werkzeuge enthält.

Dieses Vorgehen ergab sich, da von Anfang an geplant war, zu jeder Situation eine Lernumgebung zu entwickeln. Dies erwies sich als äusserst fruchtbar, d.h. die Situationen konnten anhand der Entwürfe zu den Lernumgebungen sehr anschauliche und zielgerichtet diskutiert werden. Jeder Entwurf durchlief drei bis vier Revisionszyklen, in deren Verlauf sich immer klarer herausbildete, was in der jeweiligen Situation im beruflichen Alltag tatsächlich geschieht und wie dieses Geschehen mathematisch/rechnerisch unterstützt werden kann.

Meine Rolle im ganzen Prozess war die eines informierten Laien, welcher nie etwas als gegeben hinnimmt, sondern immer wieder kritisch nachfragt, ob solche Situationen im beruflichen Alltag überhaupt vorkommen, ob im beruflichen Alltag wirklich so gerechnet wird und ob sich gewisse traditionellen Berechnungsvorgänge nicht vereinfachen lassen.

Dies hatte an verschiedenen Stellen zur Folge, dass die traditionell in den Lehrbüchern verwendeten Verfahren durch praxisnähere Vorgehensweisen ersetzt wurden. Beispielsweise wurde das Umrechnen der Angaben eines Rezeptes von 10 Personen auf 25 Personen bisher traditionell mit Hilfe eines der vielen Rechenverfahren angegangen, die für solche Umrechnungen erfunden wurden („Bruchstrich-Verfahren“, „T-Balken“, „Rechenkreuz“ etc.) Rechenverfahren dieser Art sind aber sehr fehleranfällig. Im praktischen Alltag sind oft Proportionalitätstabellen handlicher. Als Werkzeug wird den Lernenden in dieser Situation deshalb vorgeschlagen, mit solchen Tabellen zu arbeiten und wenn möglich und sinnvoll die Resultate durch einfaches Verdoppeln und Halbieren abzuleiten.


Abschlussprüfungen

Innovationen dieser Art haben nur eine Chance, wenn die Abschlussprüfungen darauf abgestimmt werden. Wie der ebenfalls auf der Website von Hotel & Gastro formation abrufbaren Nullserie von Prüfungsaufgaben zu entnehmen ist, ist dies weitgehend geschehen.

Die Prüfung wird in „Situationen“ eingeteilt:

  1. Als Mitarbeitender auf dem Entremetier-Posten müssen Sie über besondere Kenntnisse im Bereich der pflanzlichen Produkte, von deren Warenannahme bis zum fertigen Gericht, verfügen.
  2. Für ein Bankett muss das Gericht „Seezungenfilet und Meeresfrüchte in Fisch-Safranrahmsauce auf Kräuternudeln“ zubereitet werden. Die Hauptzutaten dafür sind ganze Seezungen, Riesenkrevetten ohne Kopf und Miesmuscheln in der Schale.
  3. An einem Lunch-Buffet soll im Fleischbereich „Kalbs-Piccata“, „Lammkoteletts“, „Ungarisches Rindsgulasch“, „Gebratene Masthähnchen“ und eine Auswahl von Salaten angeboten werden.
  4. Das Tagesdessert für den morgigen Tag lautet „Hausgemachtes Vanilleeis mit saisonalen Früchten“. Als Alternative zur Süssspeise können die Gäste auch einen Käseteller bestellen.

Zu jeder dieser Situationen wird eine Abfolge von Fragen gestellt, darunter zwei Berechnungsaufgaben. Für die zweite Situation (Seezungenfilet auf Kräuternudeln) ist darunter beispielsweise folgende Frage:

Berechnen / Rezeptmengen und Warenkosten: Rechnen Sie das Nudeln-Rezept von 10 auf 55 Personen um und bestimmen Sie die Warenkosten.

Bis es allerdings so weit war, wurden mehrere Varianten von Prüfungen produziert und es waren intensive Diskussionen nötig. Eine Hauptschwierigkeit war, dass im Rahmen der Umsetzung des neuen Bildungsplanes zwei verschiedene  Gruppen für das Fachrechnen und für die Prüfungen zuständig waren. Nachdem sich die Gruppe „Fachrechen“ gefunden hatte, musste also als nächstes auch die Gruppe „Prüfungen“ überzeugt werden.


Bisherige Erfahrungen

Erste Reaktionen

Die Reaktionen waren an der Kickoff-Veranstaltung ausserordentlich positiv. Viele der Teilnehmenden begrüssten die Neuerungen ausdrücklich, da sie das bisherige Fachrechnen als unbefriedigend erlebt hatten. Offene Kritik wurde kaum geäussert.

Interessanterweise stiess die Situation „Zeitmanagement“ auf ein gewisses Unverständnis. Zwar bestritt niemand, dass es sich dabei um eine relevante Situation handelt. Nur entspricht sie offensichtlich nicht der prototypischen Vorstellung von „Rechnen“. Zudem war sie bisher nicht Thema des Fachrechnens.

Early Adopter

Verschiedene Lehrende, darunter die drei Mittglieder der Projektgruppe, machten sich sofort an die Umsetzung und sind nach wie vor mit Begeisterung dabei. Es existiert noch keine systematische Auswertung der Erfahrungen, aber einige interessante Punkte haben diese ersten Unterrichteinsätze bereits zu Tage gebracht.

Lernende selbst Beispiele kreieren lassen

In verschiedenen Lernumgebungen werden die Lernenden aufgefordert, für erste Übungen eigene Beispiele auszudenken, oft mit der Aufforderung „Stellen Sie eine nützliche Tabelle zusammen!“ Offenbar ist das für die Lernenden zumindest zu Beginn so ungewohnt, dass sie Mühe haben, Beispiele zu finden oder zu erfinden. Besser scheint es zu gehen, wenn man ihnen zuerst ein paar Aufgaben vorgibt und sie erst dann bittet, weitere Beispiele selbst zu entwerfen. Vielleicht wäre es sinnvoll, jede Lernumgebung noch mit einem kleinen Aufgabenblatt zu ergänzen. Allerdings besteht die Gefahr, dass nur noch diese Aufgabenblätter bearbeitet werden.

Erfolge „schwacher“ Lernender

Zumindest bei den Lehrpersonen, welche den Neuerungen positiv gegenüber stehen, scheint sich die Stimmung in der Klasse beim „Fachrechnen“ entspannt zu haben. Die Lehrpersonen erzählen von guten Erfahrungen vor allem mit Lernenden, welche mit einer eher negativen Mathematikbiographie in die Berufsbildung kommen. Eine Lernende schreibt: „Dank dem Vielfachen habe sogar ich das Berechnen gelernt. In der Oberstufe konnte ich mit dem Dreisatz … nicht viel anfangen … Ich kann es allen empfehlen, die Mühe mit Berechnen haben.“

Methodenfreiheit

Für die Lehrenden sind die Vielfachen bei der Verlustrechnung ein neues „Verfahren“ gegenüber dem alten „Dreisatz“. Verschiedene Lehrende haben nun konsequent entschieden, dass sich nicht den bisher oft üblichen Methodenzwang („alle rechnen mit dem T-Balken“) durch einen neuen Zwang ersetzen möchten. Sie lassen den Lernenden die Freiheit, die Aufgaben so anzugehen, wie es ihnen am besten entspricht.

Lernende, die bisher „den Dreisatz nie begriffen haben“ versuchen es in dieser Situation verständlicherweise auf die „neue Art“, d.h. mit dem Vielfachen und haben, wie das Beispiel oben zeigt, dabei auch Erfolgserlebnisse. Lernende, die eine positivere Mathematikbiographie mitbringen, bleiben eher beim „Dreisatz“ oder wenden dann flexibel, je nach Aufgabenstellung, unterschiedliche Verfahren an. Beispielsweise bevorzugen die meisten bei verketteten Verlusten das Vielfache. Dies kann dann mit der Zeit zu einer Konversion führen, wie bei der folgenden Lernenden: „Ich wollte eigentlich von Anfang an Dreisatz rechnen. Da wir aber in der Schule zuerst Vielfaches lernen mussten, fiel mir dies plötzlich viel leichter. … Und ich rechne seither nur noch mit dem Vielfachen, weil es übersichtlicher und einfacher ist. Darum empfehle auch ich als ehemals überzeugte Dreisatzrechnerin das Vielfache.“


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