Eintrittstest und situiertes Lernen

Zusammen mit René Wüthrich pdf

1 Die Fragestellung

Viele Berufsfachschulen führen mit ihren Lernenden in den ersten Tagen der Ausbildung Eintrittstests im Bereich Rechnen/Mathematik durch. Die Absicht dahinter ist es, allfällige lernhemmende Lücken in den Kompetenzen der Lernenden frühzeitig zu erkennen, so dass sie gezielt und rasch mit Stütz- und Fördermassnahmen geschlossen werden können.

An anderen Stellen wurde schon argumentiert, dass es äusserst fraglich ist, ob dieses Vorgehen zum angestrebten Ziel führt (vgl. Eintrittstests und Unterricht, Diagnose und Förderung). Rechnerisch/mathematische Kompetenzen sind wie alle Kompetenzen stark situationsgebunden. Die Lernenden haben aber zu Beginn der Ausbildung noch gar kein Bezug zu den Situationen ihres zukünftigen beruflichen Alltags. Entsprechend kann ein Eingangstest nur ihre Kompetenzen in irgendwelchen anderen Situationen erheben. Und darauf aufbauend lässt sich nur schlecht vorhersagen, wie sie mit den zukünftigen beruflichen Berechnungssituationen umgehen werden.

Stimmen diese Überlegungen, dann ist zu erwarten, dass zwischen den Resultaten im Eingangstest und den Lernleistungen später im Unterricht kaum Zusammenhänge bestehen. Zumindest im folgenden Beispiel bestätigt sich diese Vermutung.

Die hier beschriebene Untersuchung wurde an einer Berufsfachschule im Bereich Gesundheit-Soziales durchgeführt. Beteiligt waren 35 Lernende am Beginn ihrer Ausbildung zur Assistentin/zum Assistenten Gesundheit und Soziales (eine zweijährige Ausbildung). Die Lernenden hatten verteilt auf drei Klassen alle gleichzeitig ein paar Monate zuvor ihre Ausbildung begonnen und besuchten in diesem Rahmen auch den sogenannten Allgemeinbildenden Unterricht. Alle drei Klassen wurden von René Wüthrich betreut, der auch die hier geschilderte Untersuchung als Projekt im eignen Unterricht durchgeführt hat. Wir nennen ihn im Folgenden „die Lehrperson“.

(René Wüthrich befand sich zu dieser Zeit im Abschluss eines Studienganges mit dem Schwerpunkt „Psychologie kindlicher Lern- und Entwicklungsauffälligkeiten“ und verfasste im Rahmen dieses Projekts seine Masterarbeit.)

Die Untersuchung folgte im wesentlichem dem typischen Ablauf, wie man ihn bei Schulen findet, die mit Eingangstests arbeiten: Kurz nach Beginn der Ausbildung wurden die Kompetenzen aller beteiligten Lernenden im Bereich Rechnen/Mathematik überprüft (Eingangstest). Im Rahmen des normalen Allgemeinbildenden Unterrichts fand dann etwas später eine Unterrichtssequenz zum Thema „Lohnabrechnungen“ statt (Lernsequenz). Und anschliessend wurde der Lernerfolg dieses Unterrichts mit einer kleinen Prüfung kontrolliert (Schlusstest). Allerdings wurde während dieser Zeit auf begleitende Stütz- und Fördermassnahmen verzichtet. Alle Lernenden, ob sie nun den Test bestanden hatten oder nicht, nahmen am Unterricht teil, als hätte kein Eingangstest stattgefunden.

2 Der Eingangstest

Ein Eingangstest ist nur nützlich, wenn er sehr gut differenziert zwischen Lernenden, die tatsächlich Schwierigkeiten haben werden, und Lernenden, welche dem Unterricht ohne grössere Schwierigkeiten folgen können. Selbstverständlich kann man von keimen Test erwarten, dass er diese Unterscheidung perfekt trifft. Aber um von praktischem Nutzen zu sein, sollte die Rate der „falschen Alarme“ nicht grösser als 20% sein. Wenn beispielsweise in einer Klasse von zwanzig Lernenden vier schwache sind, dann sollte der Test diese vier entdecken helfen und dazu maximal noch einen fünften „Verdächtigen“ hinzufügen. Alles andere überlastet die Kapazität einer Lehrperson, welche ja auch Zeit und Energie in diese fünfte Person investieren muss.

Wie schon unter Eintrittstests dargestellt, ist es sehr schwierig, eine solche tiefe Rate von „falschen Alarmen“ zu erreichen. Mit an der Schule selbst entworfen Tests dürfte es unmöglich sein. Wenn überhaupt lassen sich solche Werte vielleicht noch mit auf wissenschaftlicher Basis entwickelten Testverfahren erreichen. Deshalb kam in diesem Versuch ein solcher Test zum Einsatz, der BASIS-MATH 4-8 (Moser Opitz 2010). Im Prospekt zu diesem Test steht:

„BASIS-MATH 4–8 ist ein Individualtest und kann ab dem 4. Schuljahr (letztes Quartal) bis zum 8. Schuljahr eingesetzt werden. Mit Hilfe des Verfahrens kann überprüft werden, ob und inwieweit Schülerinnen und Schüler mit schwachen Mathematikleistungen über zentrale Kenntnisse der Grundschulmathematik (mathematischer Basisstoff) verfügen. Anhand von 48 Aufgaben werden neben den Grundoperationen auch die Rechenwege bzw. Vorgehensweisen beim Rechnen, das Verständnis des dezimalen Stellenwertsystems, die Zählkompetenz, das Operationsverständnis und die Mathematisierungsfähigkeit überprüft.“

Der Test wird einzelnen durchgeführt und eine Durchführung dauert zwischen 20 und maximal 45 Minuten. Die Testdurchführung erfolgte in diesem Fall durch die Lehrperson. Für diese war das ein Teil ihrer Masterarbeit im Rahmen des Studienganges „Psychologie kindlicher Lern- und Entwicklungsauffälligkeiten“. Dank dieses Studiengangs war sie mit dem Aufbau und der Durchführung solcher Tests vertraut. In den ersten Wochen nach Ausbildungsbeginn wurden alle 35 Lernenden aus den drei am Versuch beteiligten Klassen getestet. D.h. die Lehrperson wandte gegen zwanzig Stunden auf, um ein differenziertes Bild der vorhandenen Kompetenzen zu gewinnen. Dabei wurde entsprechend der Anlage des Tests nicht nur die Lösung der Aufgaben, sondern auch die gewählte Vorgehensweise dokumentiert und bewertet.

Das Resultat der Testdurchführung war ernüchternd. Nur 6 der 35 Lernenden erreichten die im BASIS-MATH Handbuch angegebene kritische Grenze von 67 Punkten (vgl. Abbildung 1). D.h. nur bei 17% der Lernenden kam der Test zum Resultat, dass diese über die mathematischen Basiskompetenzen verfügen, wie sie auf Ende des achten Schuljahrs angestrebt werden. Rene_EingangstestAbbildung 1: Verteilung der Punkte beim Eingangstest; kritische Grenze 67 Punkte

3 Die Lernsequenz

3.1 Die Berechnungssituation

Die Lernsequenz fand im Rahmen des Allgemeinbildenden Unterrichts (ABU) statt. Themenbereiche, welche dort vor allem am Anfang der Ausbildung behandelt werden, sind „Einstieg ins Berufsleben“ und „eigenes Geld verdienen“. Ein Thema, das beide Bereiche berührt, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Lohnabrechnung. Die Lernenden erhalten mit Beginn der Ausbildung zum ersten Mal in ihrem Leben monatlich einen Lohn ausbezahlt und dazu monatlich eine Lohnabrechnung. (Dies gilt zumindest für die Lernenden, welche mit etwa 16 Jahren gleich nach der obligatorischen Schulzeit eine berufliche Grundbildung beginnen.)

Bei Lernenden in Ausbildung zur Assistentin/zum Assistenten Gesundheit und Soziales kann der Lohn von Monat zu Monat beträchtlich schwanken, dies auf Grund von Wochenendarbeit und Nachtschichten und den damit verbundenen Zulagen (vgl. Abbildung 2). Es lohnt sich daher für die Lernenden jeden Monat die Abrechnung kurz zu kontrollieren um festzustellen, ob alles richtig verrechnet wurde. Kritisch sind dabei nicht nur Fälle, bei denen etwas vergessen gegangen ist, sondern auch solche, bei denen zu viel ausbezahlt wurde. Bei den eher kleinen Löhnen, welche die Lernenden erhalten, kann es ärgerlich sein, wenn man Monate später Geld, das man schon ausgegeben hat, zurückzahlen sollte.

Für diese Kontrolle ist es nicht notwendig, jedes Mal die Lohnabrechnung Position um Position durchzurechnen. Hilfreicher ist ein direkter Vergleich mit dem Vormonat. Findet man Unterschiede, kann man für jeden dieser Unterschiede separat überlegen, ob er plausibel ist und ob er allfälligen eigenen Aufzeichnungen zur Arbeitszeit entspricht. Sind alle Unterschiede auf diesem Weg einzelnen geklärt, macht es typischerweise wenig Sinn, die Konsequenzen daraus rechnerisch bis zum Auszahlungsbetrag zu verfolgen. Normalerweise kann man sich darauf verlassen, dass der Computer die Summen und Abzüge korrekt berechnet hat.

So gesehen kann jemand mit dieser Berechnungssituation kompetent umgehen, wenn er oder sie in der Lage ist, zwei Lohnabrechnungen Position um Position zu vergleichen und allfällige Unterschiede auf ihre Plausibilität zu überprüfen. Schwerpunktmässig wird es dabei vor allem um die Positionen unter der Rubrik „Bruttolohn“ gehen (vgl. Abbildung 2). Darüber hinaus könnte eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Berechnungssituation die Sozialabzüge mit einbeziehen. Die entsprechenden Prozentsätze bleiben zwar typischerweise jahrelang unverändert, werden aber auf Grund politischer Entscheidungen von Zeit zu Zeit erhöht oder gesenkt.

Rene_Lohnabrechnung

Abbildung 2: Beispiel eines (fiktiven) Lohnausweises

3.2 Der didaktische Ablauf

Als didaktisches Modell wurden die Acht Schritte eingesetzt. Ziel war es, die Lernenden zu befähigen, kompetent mit ihren Lohnabrechnungen umzugehen.

Für eine etwas ausführlichere Darstellung der Lernsequenz, vgl. Lohnabrechnung.

Schritt 1

Die Unterrichtssequenz fand ca. vier Monate nach Ausbildungsbeginn statt. Die Lernenden hatten also alle schon mehrmals eine Lohnabrechnung erhalten und diese vermutlich auch zur Kenntnis genommen. Sie wurden gebeten, die letzten beiden in den Unterricht mitzubringen.

Schritt 2

Im Unterricht fand dann als Einstieg während etwa 10 Minuten ein offener Erfahrungsaustausch zum Thema Lohnabrechnungen statt. Die Lehrperson fokussierte diese Diskussion mit Hilfe folgender drei Fragen: Wer hat eine Lohnabrechnung erhalten? Wofür ist diese gut? Sieht sie jeden Monat gleich aus?

Dieser Austausch erwies sich für die Lehrperson als sehr informativ, da diese selbst noch nie in einer Funktion mit Nacht- und Sonntagsarbeit tätig gewesen war. Sie realisierte, dass sie in ihrer Vorbereitung die Bedeutung der Wochenenddienste nicht richtig eingeschätzt hatte und passte darauf hin entsprechend ihr Vorgehen in Schritt 5 an. Die meisten Lernenden brachten ein Beiblatt zu ihrer Lohnabrechnung mit, auf welchem die Zeiterfassung dokumentiert war. Die Lehrperson liess sich dieses von den Lernenden erklären, um es dann auch als Material in Schritt 5 mit einzubeziehen.

Schritt 3

Als erste Aufgabe verglichen die Lernenden dann in selbst gebildeten 3-er Gruppen zwei fiktive Lohnabrechnungen für zwei aufeinanderfolgende Monate. Die erste dieser Lohnabrechnungen entsprach der Abbildung 2 (Oktober). Die zweite Abrechnung für den November unterschied sich vom Oktober nur bei den Stundenzahlen für den Nachtdienst (8 Stunden an Stelle von 11 Stunden) und den Sonntagsdienst (6 Stunden an Stelle von 7 Stunden). Der Auszahlungsbetrag war also bei der zweiten Abrechnung etwas geringer (868.15 Fr. an Stelle von 890.40 Fr.)

Die Gruppen erhielten folgenden Auftrag:

1. Kontrollieren Sie in der Gruppe, ob die 
   Lohnabrechnungen so korrekt sind! 
2. Halten Sie Ihre Meinung/Vorgehen und eventuelle 
   Schwierigkeiten auf einem Flipchart fest.
3. Präsentieren Sie ihr Vorgehen der Klasse.

Zeit: 15 Minuten

Die Aufgabe stiess auf grosses Interesse und es wurde rege daran gearbeitet. Die Lernenden unterstützten sich gegenseitig hervorragend.

Schritt 4

Anschliessend präsentierte jede Gruppe ihre Ergebnisse auf einem Flipchart. Für jede Variante wurden in der Klasse die Stärken und Schwächen des jeweiligen Vorgehens beurteilt. Die Ergebnisse der Diskussionen wurden in Stichworten festhalten. Das Ganze nahm etwa 20 Minuten in Anspruch.

Schritt 5

Die Lehrperson analysierte darauf modellhaft die Unterschiede zweier weiterer fiktiver Lohnabrechnungen. Sie führte dazu folgende Schritte durch und kommentierte ihr Vorgehen fortlaufend laut denkend. Dieser Schritt nahm etwa 10 Minuten in Anspruch.

1. Auszahlungsbeträge der beiden Monate vergleichen. 
   Wenn sie nicht identisch sind, dann fortfahren.
2. Bruttolöhne der beiden Abrechnungen vergleichen. 
   Sie sollten verschieden sein.
3. Weshalb sind sie verschieden? Wo finden sich 
   Unterschiede? Oft finden sich die Unterschiede 
   bei den Zuschlägen für den Nachtdienst und den 
   Sonntagsdienst.
4. Sind die Stunden für den Nachtdienst und den 
   Sonntagsdienst richtig erfasst?
5. Schätzen: Sind die Beträge für den Nachtdienst 
   und den Sonntagsdienst in etwa korrekt?
6. Sozialabzüge der Monate vergleichen: Je höher 
   der Bruttolohn, desto höher die Sozialabzüge.
7. Schätzen: Ist der Auszahlungsbetrag in etwa korrekt? 
   Dazu Bruttolohn und Auszahlungsbetrag vergleichen. 
   Steigt der Bruttolohn so steigt auch der Auszahlungs-
   betrag, allerdings etwas weniger.

Schritt 6

Zu Übungszwecken verglichen dann die Lernenden gruppenweise ihre eignen Lohnabrechnungen der letzten beiden Monate. Die Gruppen arbeiteten weitgehend selbstständig und die Lehrperson musste nur geringfügig eingreifen.

Für diesen Schritt standen 20 Minuten zur Verfügung. Gruppen oder einzelne Lernende, welche dabei eher unterfordert waren, wurden aufgefordert, für die einzelnen Lohnabrechnungen exakt nachzuprüfen, ob die Sozialabzüge korrekt berechnet waren.

Schritt 7

Abschliessend erarbeiten die Lernenden je für sich einen Spickzettel. Dieser sollte ihnen helfen, kommende Lohnabrechnung zu verarbeiten. Die Lernenden waren frei, wie sie diesen Spickzettel gestalten wollten. Die Lehrperson regte einfach an, dass sie in irgendeiner Form die Schritte des modellhaften Vorgehens aufnehmen sollten. Es standen dafür etwa 15 Minuten zu Verfügung.

Schritt 8

Als Hausaufgabe erhielten die Lernenden den Auftrag, ihre nächste Lohnabrechnung (welche kurz nach der bisher geschilderten Unterrichtsequenz fällig war) entsprechend zu überprüfen und sie zu diesem Zweck mit den beiden vorangegangenen zu vergleichen.

Eine Woche später brachten sie wieder ihre neuen und alten Abrechnungen in den Unterricht mit. Sie diskutierten in 3-er Gruppen ihre Erfahrungen, die sie zuhause mit der neunen Lohnabrechnung gemacht hatten, und stellten dann ihre Ergebnisse der Klasse vor.

4 Der Schlusstest

Anschliessend an die Lernsequenz fand als Schlusstest eine typische schulische Prüfung in der darauffolgenden Schulwoche statt. Die Lernenden erhielten zwei weitere fiktive Lohnabrechnungen und dazu folgende Aufgaben. Bei der Bearbeitung konnten sie den in Schritt 7 der Lernsequenz erarbeiteten Spickzettel verwenden.

Ihnen wird in zwei Monaten je ein etwas anderer Lohn 
ausbezahlt. Überprüfen Sie anhand der beiden Lohnab-
rechnungen, ob das korrekt ist oder ob ein Fehler gemacht 
wurde.
1. Woher kommt der Unterschied zwischen den beiden 
   Lohnabrechnungen? (4)
2. Ist die Grösse des Unterschieds (ungefähr) korrekt? (4)
3. Halten Sie schriftlich fest, wie Sie die Aufgabe 
   gelöst haben! (6)
4. Sind beim Lösen der Aufgabe Schwierigkeiten 
   aufgetreten? Wenn ja, welche?

Für ihre Lösungen konnten sie nach folgendem Schema Punkte sammeln:

Auftrag 1
Unterschied lokalisiert:           2 Punkte
Unterschied richtig beschrieben:   2 Punkte
Auftrag 2
Korrekte Antwort, ob Lohnabrechnungen 
   korrekt sind oder nicht:        2 Punkte
Ergebnisse aussagekräftig:         2 Punkte
Auftrag 3
Aufgabe gemäss Spick gelöst:       4 Punkte
Antworten sind plausibel:          2 Punkte

 Im Schlusstest konnte man also maximal 14 Punkte sammeln. Ab 8.5 Punkten wurde der Test als bestanden, d.h. die Leistung als genügend bewertet. Dies entspricht der an dieser Schule üblichen Regelung, dass 60% der maximal möglichen Punktzahl für eine genügende Note benötigt werden.

Der Schlusstest fiel positiv aus. 31 der 35 Lernenden erreichten eine genügende Leistung. Viele übertrafen das geforderte Minimum sogar deutlich (vgl. Abbildung 3).

Rene_Schlusstest

Abbildung 3: Verteilung der Punkte im Schlusstest; genügende Punktzahl: 8.5

5 Der Zusammenhang zwischen Eingangstest und Schlusstest

Der Eingangstest ist genau dann nützlich, wenn ihn diejenigen Lernenden nicht bestehen, welche dann mit der Lernsequenz und somit mit dem Schlusstest Schwierigkeiten tatsächlich haben. Denn dann kann man die durch den Eingangstest identifizierten Lernenden noch vor der Lernsequenz gezielt fördern und so hoffentlich ihre Schwierigkeiten mindern.

In Abbildung 4 sind die Resultate aus den beiden Tests zusammengefasst. Jeder Punkt entspricht einer Lernenden/einem Lernenden. In horizontaler Richtung kann man die im Eingangstest erreichte Punktzahl ablesen, in vertikaler Richtung das im Schlusstest erreichte Resultat. Eingezeichnet sind auch die beiden Grenzwerte: 67 Punkte für den Eingangstest und 8.5 Punkte als Minimum für einen bestandenen Schlusstest.

Entsprechend den bereits erwähnten Resultaten liegt die Mehrheit der Punkte über der horizontalen Linie von 8.5 Punkten, d.h. die Mehrheit der Lernenden hat den Schlusstest bestanden. Und umgekehrt liegt die Mehrheit der Punkte links von der 67-Punkte-Linie, d.h. die Mehrheit der Lernenden hat laut BASIS-MATH Test grosse Defizite im Bereich Mathematik/Rechnen. Rene_2D_Graphik

Abbildung 4: Die Resultate im Eingangstest (BASIS-MATH) und im Schlusstest

Wie man sieht, hat der Eingangstest eine gewisse Aussagekraft. Immerhin alle sechs Lernenden, denen der Eingangstest ausreichende Kompetenzen im Bereich Rechnen/Mathematik zuspricht (grün in Abbildung 4), haben auch den Schlusstest bestanden.

Allerdings bewältigte auch die grosse Mehrheit (86%) der Lernenden mit schwachen bis sehr schwachen Leistungen im Eingangstest den Schlusstest ohne grosse Probleme (blau und orange in Abbildung 4), ja sie erreichen zum Teil sogar die maximale Punktzahl. Besonders krass ist der Fall einer Lernenden (orange in Abbildung 4) mit nur 21 von geforderten 67 Punkten im Eingangstest und mit doch 12 von 14 möglichen Punkten im Schlusstest.

Tabelle 1: Verteilung der Lernenden, wenn die Grenzen 67 und 9 Punkte verwendet werden

    Genügend: 67 Punkte
    Eingangstest
+
Eingangstest
Genügend: 9 Punkte Schlusstest + 6 25 31
Schlusstest – 0 4 4
    6 29 35

Hätte die Lehrperson also präventiv bei den Lernenden mit Leistungen unter der kritischen Grenze von 67 Punkten im Eingangstest Fördermassnahmen ergriffen, dann wären hier bei 25 von 29 Lernenden diese Massnahmen überflüssig gewesen (vgl. Tabelle 1). Kurz zusammengefasst heisst das: Der BASIS-MATH als Eingangstest ist in diesem Fall völlig nutzlos.

Natürlich kann man sich überlegen, ob dies auch daran liegen könnte, dass die Grenze beim BASIS-MATH zu hoch angesetzt ist. Wenn man sie tiefer legen würde (bspw. bei 50 Punkten), dann würden vielleicht eher die richtigen Lernenden erfasst. Und andererseits kann man auch argumentieren, dass der Schlusstest zu wenig streng ist. Es bestehen ihn ja fast alle. Also ist es auch kein Wunder, dass es schwierig ist vorherzusagen, wer durchfällt. Würde man strenger bewerten (bspw. mindestens 11 Punkte verlangen), dann liesse sich auch einfacher vorhersagen, wer bestehen wird.

Ein Blick auf Abbildung 4 lässt allerdings vermuten, dass dies nicht der Fall ist. Damit tatsächlich eine Prognose ausgehend vom Eingangstest möglich ist, müsste die Punktewolke in der Abbildung von links nach rechts ansteigen. Wie die Werte in Tabelle 2 zeigen, verschlimmert sich die Situation sogar, wenn wir die Grenzen entsprechend verschieben. Von denen Lernenden, die im BASIS-MATH unterhalb der neuen, abgesenkten Grenze von 50 Punkten liegen, bestehen 73% den Schlusstest. Das sind prozentual deutlich mehr, als bei denjenigen Lernenden, die über der neunen Grenze liegen. Von denen bestehen nur 55% den Schlusstest.

Tabelle 2: Verteilung der Lernenden, wenn die Grenzen 50 und 11 Punkte verwendet werden

    Genügend: 50 Punkte
    Eingangstest
+
Eingangstest
Genügend: 11 Punkte Schlusstest + 11 11 22
Schlusstest – 9 4 13
    20 15 35

Man könnte nun versuchen, ob es vielleicht mit anderen Grenzziehungen gelingt, die Spreu vom Weizen zu trennen. Es wird aber keine Grenzziehung zu einem wesentlich besseren Resultat führen. Es besteht einfach kein erkennbarer Zusammenhang zwischen den beiden Tests. Lässt man den einen Ausreisser mit nur 2 Punkten im BASIS-MATH weg, dann beträgt die Korrelation zwischen den Daten 0.05, liegt also praktisch bei null. (Bezieht man den Ausreisser mit ein, beträgt die Korrelation 0.19). Der Eingangstest eignet sich also überhaupt nicht, um vorhersagen zu können, welche Lernenden Schwierigkeiten haben werden.

6 Versuch einer Erklärung

Aufgrund der eingangs kurz zusammengefassten Überlegungen (vgl. Abschnitt 1) überrascht das Resultat nicht wirklich. Allerdings ist es viel deutlicher ausgefallen als erwartet.

Dass praktisch alle Lernenden den Schlusstest bestanden haben, entspricht den Grundannahmen, die hinter dem Konzept „Fachrechnen vom Kopf auf die Füsse gestellt“ stehen: Nach neun Jahren obligatorischer Schulzeit bringen die allermeisten Lernenden genügend Wissen und Können im Bereich Rechnen/Mathematik mit. Man muss ihnen einfach helfen, dieses Wissen in den für sie neuen Situationen zu gebrauchen. Die Acht Schritte als didaktisches Modell haben sich in dieser Hinsicht hier bewährt.

Auf den ersten Blick dramatisch sind die Resultate beim BAIS-MATH Test. Er soll die mathematischen Grundkompetenzen am Ende des achten Schuljahres messen. 83% der Lernenden erreichen das von den Testautoren festgelegte Kriterium nicht. Auf den zweiten Blick gibt es aber wenig Grund zu Besorgnis, denn die Lernenden können offenbar trotzdem erfolgreich am Unterricht teilnehmen. Diese Diskrepanz könnte eine Folge der eingangs erwähnten Situationsgebundenheit von Kompetenzen sein. Der BAIS-MATH bezieht sich auf eine ganz bestimmte Situation: Manipulation von Zahlen in einem schulischen Kontext ohne Bezug auf eine praktische Anwendung. Beim Aufwand, welche die Autoren zur Entwicklung dieses Tests betrieben haben (Moser Opitz et al. 2010, Moser Opitz & Ramseier 2012), ist anzunehmen, dass er die entsprechende Kompetenz zuverlässig misst. Nur eignet sich offenbar die in einer Situation („anwendungsfreies, schulisches Rechen“) beobachtete Kompetenz schlecht, um die Kompetenzentwicklung in einer anderen Berechnungssituation („vergleichende Kontrolle von Lohnabrechnungen“) vorherzusagen. Dies entspricht ebenfalls den Grundannahmen von „Fachrechnen vom Kopf auf die Füsse gestellt“ und überrascht entsprechend auch nicht wirklich.

Aber es ist nicht nur so, dass sich der BASIS-MATH schlecht für die Vorhersage der weiteren Lernentwicklung eignet, sondern es ist überhaupt kein Zusammenhang zwischen der Leistung beim BAIS-MATH und der Leistung beim Schlusstest festzustellen. Wenn man die eine Lernende mit nur 2 Punkten im BASIS-MATH aus der Stichprobe ausschliesst (mehr zu dieser Person im folgenden Abschnitt), dann beträgt die Korrelation zwischen den beiden Messwerten 0.05, also praktisch null. Und dies nicht nur bei einer einmaligen Durchführung, sondern gleich über drei Parallelklassen.

Das überrascht dann doch. Denn selbstverständlich wird in beiden Situationen „gerechnet“. Und es wäre naheliegend, dass diejenigen, welche in der einen Situation damit etwas besser zurechtkommen, auch in der anderen Situation zumindest einen leichten einen Vorteil haben. Warum dies hier nicht Fall ist, bleibt vorläufig ein Rätsel.

7 Die Lernenden, welchen den Schlusstest nicht bestehen

Von den vier Lernenden, welche den Schlusstest nicht bestanden hatten, konnten drei differenzierter weiterverfolgt werden. Bei allen drei zeigte sich, dass ihre Schwierigkeiten nicht auf Probleme zurückzuführen sind, die im engeren Sinn mit Mathematik/Rechnen zu tun haben.

Die eine Lernende, welche im BASIS-MATH nur zwei Punkte erreichte (in Abbildung 4 ganz links), gab interessanterweise an, keinerlei Probleme mit Mathematik oder Rechnen zu haben. Während der Testdurchführung rechnete sie zielsicher und war sich ihrer Ergebnisse sicher, obwohl sie keine der Aufgaben korrekt lösen konnte. Als sie mit dem Resultat des Tests konfrontiert wurde, fiel ihr keine Erklärung dazu ein. In einem anschliessenden Gespräch mit dem Ausbildungsbetrieb kamen massive Schwierigkeiten zu Tage. In einer weiterführenden Abklärung durch eine Fachperson wurde eine Lernbehinderung diagnostiziert. Die Lernende stieg kurze Zeit später aus der Ausbildung aus.

Die beiden anderen Lernenden wurden im Anschluss an den Schlusstest individuell gefördert (vgl. Stützkurse). Die eine hatte im BAIS-MATH mit 27 Punkten die zweitschlechteste Leistung erzielt. Im Schlusstest kam sie auf 8 Punkte. Sie hat einen Migrationshintergrund und spricht im familiären Umfeld italienisch. Beim Lösen von Aufgaben im Förderunterricht zeigte sich, dass sie ständig zwischen Italienisch und Deutsch übersetzt. Die Berechnungen werden immer auf Italienisch durchgeführt. Dieser Übersetzungsvorgang bereitete ihr Mühe und behinderte sie beim Arbeiten. Während der Förderung wurde deshalb das Hauptaugenmerk auf diesen Übersetzungsvorgang gelegt und dieser gezielt trainiert. In einer Wiederholung des Schlusstests erreichte sie dann 10 Punkte, zeigte also eine genügende Leistung.

Und auch beim dritten der Lernenden (61 Punkte im BASIS-MATH und 8 Punkte beim Schlusstest) konnte eine Verbesserung der Leistung erreicht werden. Bei ihm wurde im Verlauf des Förderunterrichts deutlich, dass seine Schwierigkeiten auf eine ungenügende Strategie beim Lesen der Aufgabestellungen zurückzuführen sind. Er las die Aufträge entweder gar nicht oder nur ansatzweise. In der Förderung wurde mit ihm das sorgfältige Lesen von Aufträgen trainiert. Im erneuten Schlusstest erreichte er dann 12 Punkte.

8 Erwähnte Literatur

Moser Opitz, E., Reusser, L., Müller, M. M., Anliker, B., Wittich, C., Freesemann, O., & Ramseier, E. (2010). BASIS-MATH 4–8. Basisdiagnostik Mathematik für die Klassen 4–8. Bern: Huber.

Moser Opitz, E., & Ramseier, E. (2012). Rechenschwach oder nicht rechenschwach? Eine kritische Auseinandersetzung mit Diagnosekonzepten, Klassifikationssystemen und Diagnoseinstrumenten unter besonderer Berücksichtigung von älteren Schülerinnen und Schülern. Lernen und Lernstörungen, 1(2), 99-117.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert