Milchtechnologinnen und Milchtechnologen

Das Projekt

pdf Milchtechnologinnen bzw. Milchtechnologen stellen Milchprodukte her, wie etwa Käse, Joghurt, Speiseeis, Milchgetränke und anderes mehr. Ähnlich wie bei den Köchinnen und Köchen war auch hier der Anlass die Überarbeitung der Verordnung und des Bildungsplans der beruflichen Grundbildung EFZ. Auch hier fand eine Abkehr von einer eher fächerorientierten Ausbildung zu einem fächerübergreifenden Konzept statt.

Im Zuge dieser Neuorientierung wurde beschlossen, ein breit abgestütztes neues Lehrmittel für die Fachkunde zu entwickeln. Zu diesem Zweck wurde unter anderem auch eine Gruppe aus drei erfahrenen Lehrpersonen gebildet, die sich dem Fachrechnen annehmen sollten. Die Kickoff-Veranstaltung für die Lehrmittelentwicklung fand am EHB statt und in diesem Zusammenhang war es naheliegend, dass ich mit dieser Gruppe das Gespräch suchte.

Dank der bereits vorliegenden Lernumgebungen der Köche stand gutes Anschauungsmaterial zur Verfügung. Daher fanden wir uns relativ schnell und es wurde beschlossen, zumindest einmal versuchsweise zwei, drei solche Lernumgebungen zu entwerfen. Bei diesem Versuch blieb es dann nicht und mittlerweile existieren Lernumgebungen zu allen Situationen, in denen Rechnen/Mathematik eine Rolle spielt.

Die Arbeitsgruppe bestand auch hier aus drei engagierten Lehrpersonen, die alle ebenfalls praktisch tätig sind und damit gut die Anforderungen an eine solche Gruppe erfüllen. Die drei Lehrpersonen decken gleichzeitig die drei wichtigsten Ausbildungszentren für Milchtechnologie in der Schweiz ab, so dass damit auch günstige Voraussetzungen für die Einführung der Lernumgebungen an den Berufsfachschulen gegeben sind. Ursprünglich gehört der Gruppe auch noch eine Lehrperson aus der französischsprachigen Schweiz an, die dann aber leider bald nicht mehr aktiv an der Entwicklung mitarbeitete, sondern nur noch als Übersetzer wirken wollte.

Situationen sammeln

Für das Fachkundelehrmittel, das erarbeitet werden sollte, lag bereits eine Kapitelstruktur vor:

1 Allgemeine Milchverarbeitungsprozesse durchführen
1.1 Rohstoffe annehmen, fördern und lagern
1.2 Rohstoffe mit Zentrifugalseparator trennen und standardisieren
1.3 Rohstoffe mit Membrantrennanlagen aufkonzentrieren
1.4 Rohstoffe mit Wärme behandeln
1.5 Homogenisieren
1.6 Zutaten und Zusatzstoffe beimischen
1.7 Technische Einrichtungen bedienen, überwachen und in Stand halten
1.8 Kulturen zubereiten und einsetzen
2 Betriebsspezifische Milchprodukte herstellen
2.1 Extrahart- und Hartkäse herstellen
2.2 Halbhartkäse herstellen
2.3 Weichkäse herstellen
2.4 Mozzarella- und Salat-Käse herstellen
2.5 Quark und Hüttenkäse herstellen
2.6 Konsummilch und -rahm herstellen
2.7 Sauermilchprodukte herstellen
2.8 Speiseeis herstellen
2.9 Dessertprodukte herstellen
2.10 Butter herstellen
2.11 Milchpulver herstellen

Zudem bestand auch eine Zusammenstellung der Themen, welche bisher im Rahmen der jeweiligen Kapitel typischerweise behandelt wurden; beispielsweise zu „Rohstoffe annehmen, fördern und lagern“ waren dies „Proportionen, Körper, Flächen“.

Diese Kapitelstruktur diente der Arbeitsgruppe als Ausgangspunkt. Die Sammlung der Situationen verlief so, dass zu jedem Kapitel diskutiert wurde, welche Berechnungssituationen in diesem Zusammenhang auftreten. Da auch schon klar war, welche Kapitel in welchem Lehrjahr behandelt werden, konzentrierte sich unsere Arbeit zuerst auf die Kapitel des ersten Lehrjahres. Die Liste der Situationen entwickelte sich so erst nach und nach und es dauerte mehrere Jahre, bis die ganze Liste zusammengestellt war. Aktuell sind folgende Situationen fertig ausgearbeitet, einige weitere werden noch folgen:

  1. Milch – in Liter geliefert und Kilogramm abgerechnet
  2. In welchem Tank hat die Milch heute noch Platz?
  3. Was erhalte ich, wenn ich Vollmilch und Magermilch mische?
  4. Wie erreiche ich den richtigen Fettgehalt für meine Produkte?
  5. Eine Kulturmenge beschaffen, herstellen und einsetzen
  6. Wie viel Lab brauche ich?
  7. Wie viel Salz braucht es für ein Salzbad?
  8. Wie viel Kilogramm reifen Käse können Sie aus 100 kg Vollmilch herstellen?
  9. Welchen Quark haben wir im Angebot?
  10. Nach Rezept mischen
  11. Milch zu Butter: Mengenverhältnisse
  12. Was mache ich mit dem Rahm?
  13. Was mache ich mit der Magermilch?
  14. Wie erreiche ich das gewünschte Stückgewicht beim Käse?

Bei der Zusammenstellung der Situationen geschah, was zu erwarten war. Durch die Vorgabe der Kapitelstruktur und der traditionell zugeordneten Themen machte sich das bisher gewohnte „Fachrechnen“ stark bemerkbar und es gab immer wieder Diskussionen darüber, ob hier nun wirklich eine relevante Situation vorliegt oder ob einfach alte Gewohnheiten tradiert werden.

Beispielsweise wurden, wie oben erwähnt, traditionell unter „Rohstoffe annehmen, fördern und lagern“ Körpervolumen behandelt. Es wurden bei dieser Gelegenheit Volumina von mehr oder weniger realistisch geformten Milchtanks berechnet. Die Diskussion ergab aber schnell, dass das Fassungsvermögen der vorhandenen Milchtanks so gut wie immer bekannt und meist sogar angeschrieben ist, so dass kein Bedarf besteht, das entsprechende Volumen zu berechnen. Realistischer ist die Situation, dass man in einen bestimmten Tank bereits mehrere Lieferungen Milch abgefüllt hat und abschätzen möchte, ob eine neue Lieferung noch Platz hat. So entstand „In welchem Tank hat die Milch heute noch Platz?“ und auf Volumenberechnungen wurde verzichtet.

Eine andere rege diskutierte Situation war „Wie viel Salz braucht es für ein neues Salzbad?“. In der Diskussion ergab sich, dass es erstens nur selten vorkommt, dass ein komplett neues Salzbad angesetzt werden muss, und dass man zweitens im praktischen Alltag kaum je die benötigte Salzmenge berechnet. Üblicher ist viel mehr, dass man ein entsprechendes Messgerät (Aräometer) ins Wasser setzt und dann Salz hinzufügt, bis der erwünschte Wert erreicht ist. Die Situation wurde dann aber trotzdem aufgenommen.

Die Beispiele zeigen, dass im Gegensatz zu den Köchen, wo es möglich war, praktisch ohne Vorgaben zu beginnen, hier die bereits vorhandenen Strukturen die Diskussion stark geprägt haben und radikale Lösungen zum Teil verhinderten.

Situationen beschreiben und Lernumgebungen gestalten

Da die Lernumgebungen der Köche bereits als Beispiele vorlagen, hätte man erwarten können, dass es für die Mitglieder des Projektteams ein Einfaches sein würde, anhand dieser Modelle eigene Lernumgebungen zu entwerfen. Interessanterweise war dies aber nicht der Fall. Sie mussten denselben Prozess durchmachen wie ihre Kollegen zuvor.

Masse und Volumen

Die ersten Entwürfe enthielten meist mehr oder weniger unverändert Material aus bisherigen Lehrmitteln etwas anders angeordnet. Für die Situation In Liter geliefert, in Kilogramm abgerechnet war das beispielsweise folgende Anleitung.


Welche Dichte hat welcher Stoff?

Tabelle_Dichte_Milch

Die Dichte wird in kg/dm3 oder in kg/m3 angegeben.

Begriffe, Formeln und Hilfen

p (roh) = Dichte, m = Masse, V = Volumen

Hilfestellung mit dem Daumen…

Daumenregel_Dichte

Wenn Sie mit dem Daumen im Dreieck den Buchstaben der gesuchten Grösse abdecken, so sehen Sie den Lösungsweg.


Über verschiedene aufeinander aufbauenden Entwürfen und im Rahmen intensiver Diskussionen kamen wir dann zum Schluss, dass eigentlich kein Bedarf besteht, flexibel aus zwei beliebigen der drei Grössen die dritte zu berechnen, sondern dass es im Wesentlichen um die Situation geht, die dann auch später den Titel für die Lernumgebung lieferte: Typischerweise wird im Betrieb bei den Anlieferung die Milchmenge in Liter abgemessen. Abgerechnet wird dann aber später in Kilogramm, d.h. irgendwann muss aus Volumen in Liter das Gewicht (die Masse) in Kilogramm errechnet werden.

In der Endfassung wurde das Ganze dann in zwei Situationen aufgeteilt, wobei die Teilsituation Vom Volumen zur Masse die eigentlich relevante ist. Lernende, die mit dieser Situation umgehen können, sind im Wesentlichen für den Berufsalltag gerüstet. Die zweite Teilsituation kann nach Interesse behandelt werden. Für beide Situationen wird eine Tabelle als mathematisches Werkzeug vorgeschlagen.


Vom Volumen zur Masse

Weiss man, wie schwer ein Liter einer Flüssigkeit ist, kann man leicht aus dem Volumen die Masse berechnen.

Tabelle_Volumen_Masse_Milch

Stellen Sie eine nützliche Tabelle zusammen, so dass Sie im Alltag immer schnell nachschauen können, wenn sie etwas umrechnen müssen.

Von der Masse zum Volumen

In diesem Fall muss man wissen, wie viel Platz ein Kilogramm einer Flüssigkeit braucht.

Tabelle_Masse_Volumen_Milch

Stellen Sie auch für diesen Fall eine nützliche Tabelle zusammen.


Die Dichte erhält eine kontextbezogene konkrete Interpretation: Das Gewicht eines Liters Vollmilch. Dass diese Angabe in der Physik Dichte genannt wird, ist in diesem Kontext irrelevant. Im Hinblick auf allgemeinbildende Ziele und für Lernende, die später einmal eine Weiterbildung besuchen, ist das Thema Dichte aber trotzdem auf der Lernumgebung präsent, und zwar in Form eines weiterführenden Kastens:


Dichte

Dem Verhältnis zwischen Masse und Volumen hat man den Namen Dichte gegeben.

  • Damit man die Dichte angeben kann, muss man wissen, in welchen Einheiten jeweils die Masse und das Volumen gemessen werden.
  • Warum? Normalerweise wird die Dichte in kg/dm3 angegeben. Das entspricht der Angabe, wie schwer ein Liter ist. Warum?
  • Manchmal wir die Dichte auch in kg/m3 angegeben. Das entspricht dann dem Gewicht von 1’000 Liter. Warum?

Fetteinheiten

Auch der erste Entwurf zu Was erhalte ich, wenn ich Vollmilch und Magermilch mische? sah in vielen Teilen wie ein typisches Arbeitsblatt zum Fachrechnen aus, wie etwa im folgenden Ausschnitt.


Praxisbeispiel

Sie zentrifugieren 1‘000 kg Vollmilch. Aus dieser Vollmilch erhalten Sie 890 kg Magermilch und 110 kg Rahm. Mit dem Rahm wird im Betrieb Butter hergestellt. Die Magermilch wird für die Käseherstellung zu 15‘000 kg Vollmilch hinzugegeben.

Angaben Ausgangsprodukte:

  • Fettgehalt Vollmilch               4.00%
  • Fettgehalt Magermilch           0.05%

Fragestellung

  • Wie viele Fetteinheiten sind in der Vollmilch?
  • Wie viele Fetteinheiten sind in der Magermilch?
  • Wie hoch ist der Fettgehalt in der Verkäsungsmilch?

Fetteinheiten(FE) = Ausgangsprodukt ? Fettgehalt

Lösung
15‘000 kg ? 4.00% Fettgehalt = ___________ FE
890 kg ? 0.05% Fettgehalt     = ___________ FE
Total Fetteinheiten (FE)         = ___________

Diese Fetteinheiten befinden sich in der Verarbeitungsmilch. Wenn Sie die Fetteinheiten durch die Verarbeitungsmilchmenge dividieren, so erhalten Sie den Fettgehalt der Verarbeitungsmilch.

Fettgehalt Verarbeitungsmilch =  _____________%


Wie die Erfahrung auch mit anderen Berufen zeigt, scheint dies eine notwendige Durchgangsphase von den alten Arbeitsblättern zu den neuen Lernumgebungen zu sein. Interessant ist an diesem Beispiel ein Detail: In diesem ersten Entwurf wurde die Fettmenge in Fetteinheiten angegeben. Eine Fetteinheit entspricht 10 g Milchfett. Beträgt der Fettgehalt der Milch 4% enthält 1 kg Milch also 4 FE oder 40 g Milchfett.

Als Fachfremder wunderte ich mich, warum hier der Begriff Fetteinheiten auftaucht. Denn für die Berechnung kann man den Fettgehalt genauso gut in kg oder g angeben. Die Diskussion ergab dann auch, dass die Lernenden oft durch die Fetteinheiten als neue Masseinheit verwirrt werden und so wurde beschlossen, für diese Lernumgebung darauf zu verzichten und das Milchfett in kg anzugeben. Da ich den Eindruck hatte, dass die Fetteinheiten wohl ursprünglich die Funktion hatten, das Rechnen zu erleichtern, da 1% Fettgehalt bei 1 kg Milch 1 FE entspricht, schlug ich vor, man könnte doch den Fettgehalt in Promille angeben, denn dann wäre 1‰ Fettgehalt bei 1 kg Milch gleich 1 g Milchfett. Diese Idee wurde dann aber nicht weiter verfolgt.

Das Mischkreuz als harter Brocken

Eine etwas andere Diskussion fand bei der Situation Wie erreiche ich den richtigen Fettgehalt in meinen Produkten? statt. Die Situation an sich ist eine zentrale Situation bei der Arbeit der Milchtechnologen. Viele Produkte sollen einen genau definierten Prozentsatz Fett enthalten. Und um diesen zu erreichen muss typischerweise fettreiche Milch mit fettarmer (entrahmter) Milch gemischt werden, um die erwünschte Fettkonzentration zu erreichen.

Traditionell werden die dazu notwendigen Berechnungen mit Hilfe des sogenannten Mischkreuzes durchgeführt. Warum das Mischkreuz funktioniert ist aber intuitiv nur schwer nachzuvollziehen und für die allermeisten Lernenden bleibt das Mischkreuz eine Blackbox. Mein Einwand war deshalb, dass man im Zeitalter von Taschenrechner, Computer und Smartphone dieses Instrument aus dem 19. Jahrhundert doch sicher durch eine etwas praktischere Blackbox in Form eines Computerprogramms ersetzen könnte. Damit hatte ich aber keinen Erfolg. Das Mischkreuz scheint so zur Identität eines Milchtechnologens zu gehören, dass eine Abkehr davon undenkbar war.

Bisherige Erfahrungen

Die Mitglieder der Arbeitsgruppe setzen die Lernumgebungen unterdessen regelmässig im Unterricht ein. Die Erfahrungen sind grundsätzlich positiv. Interessant ist zu beobachten, wie unterschiedlich sich damit umgehen.

Armin beispielsweise berichtet, dass sein Unterricht früher typischerweise nach dem Muster „Löst die Aufgaben 1 bis 10“ ablief. Heute sei er handlungsorientierter. Er setzt die Lernumgebungen als zentrale Elemente ein: „Die Darstellung auf den Blättern bereitet den Lernenden keine Mühe – sie ist ihnen von der Volksschule her vertraut.“

Allerdings mag Armin bei einem neuen Thema (noch?) nicht auf einen konventionellen Einstieg verzichten. Das bedeutet beispielsweise bei der Situation „Eine Kulturmenge beschaffen, herstellen und einsetzen“, dass er mit der gesamten Klasse anhand von drei Beispielen (Versicherungsprämie, Strassensteigung und dann Kulturmenge in Promille) „Prozentrechnen“ einführt bzw. repetiert. Dann erst schickt er die Klasse in Kleingruppen und lässt sie dort austauschen und diskutieren, wie die entsprechende Situation in den jeweiligen Lehrbetrieben gehandhabt wird. Diese Diskussionen verlaufen angeregt und intensiv, u.a. weil etwa die Hälfte seiner Lernenden in einem Grossbetrieb angestellt sind, wo vieles durch Computer gesteuert wird, und die andere Hälfte in Kleinstbetrieben mitarbeiten, wo sie oft die einzigen Mitarbeitenden neben dem Betriebsinhaber sind.

Die in den Gruppen gemachten Erfahrungen werden anschliessend in die Klasse zurückgetragen und dort besprochen. Dann wird anhand der Lernumgebungen weitergearbeitet. „Das Niveau bei den Lernenden ist sehr unterschiedlich und so konnte ich die ,Detektivarbeiten-Aufgaben‘ gut für die Fortgeschrittenen anwenden.“

Armin ist froh über die Veränderungen, die er in seinem Unterricht vorgenommen hat. Das Rechnen ist so praxisbezogener worden und steht weniger isoliert da als früher, sondern wird als natürlicher Teil des Arbeitsprozesses wahrgenommen. Positiv nimmt er auch wahr, dass die Eigenverantwortung der Lernenden steigt. Seine eigene Rolle hat sich vom „Lehrer“ zum Coach gewandelt.

Allerdings ist er der Meinung, dass die Lernumgebungen alleine nicht genügen, sondern dass es eine Hinführung darauf zu braucht. Zudem war es früher einfacher Hausaufgaben zu geben im Sinne von „Löst die Aufgaben 1 bis 10“!