ausführlicher als pdf   Im Zentrum dieses Beispiels stehen Bauarbeiter im Tiefbau, also Personen, welche Strassen bauen und Gräben ausheben. Dieses Beispiel ist chronologisch das erste und umfasst noch nicht alle Aspekte, die im Leitfaden angesprochen werden.
Anlass
Der Schweizerische Verband für Weiterbildung SVEB engagiert sich seit einigen Jahren im Bereich der Förderung von Grundkompetenzen gering qualifizierter Personen. In diesem Zusammenhang wurde beschlossen, ein Betrag, den die Binding Stiftung für ein Projekt zur Förderung von Bauarbeitern bereitgestellt hatte, für ein Pilotprojekt im Bereich Förderung von alltagsmathematischen Kompetenzen einzusetzen. Der Schweizerische Baumeisterverband konnte von der Idee überzeugt werden und ging auf die Suche nach einem Betrieb, der daran interessiert war, einen entsprechenden Kurs betriebsintern durchzuführen.
Zu Beginn des nächstens Winters – Baufirmen haben im Sommer keine Zeit für Weiterbildungen – meldet sich dann auch eine im Tiefbau tätige Firma mittlerer Grösse. Bei einem ersten Gespräch schälte sich ein klar umrissenes Ziel für einen derartigen Kurs heraus: Auf grösseren Baustellen ist meist ein Ingenieur oder doch ein gut ausgebildeter Vorarbeiter vor Ort, der allfällige Berechnungen übernimmt. Es gibt aber immer wieder Kleinbaustellen – beispielweise soll vor der Garage eines Einfamilienhauses der Belag des Vorplatzes erneuert werden – wo es viel zu teuer wäre, einen Vorarbeiter einzusetzen. Auf solchen Baustellen arbeiten dann zwei oder drei angelernte Baumitarbeiter und sind für ein paar Tage auf sich allein gestellt. Dabei müssen sie Entscheidungen fällen, wie etwa, welche Menge Belagsmaterial bestellt werden muss.
Ausgehend von dieser Problemlage wurde beschlossen, betriebsintern einen Kurs für angelernte Mitarbeiter durchzuführen. Als Ziel des Kurses wurde festgelegt: „Drei Tage ohne Vorarbeiter (mathematisch) überleben“. Der Kurs wurde dann im folgenden Winter durchgeführt und umfasste insgesamt sieben Halbtage.
Situationen sammeln
Als erstes wurde versucht, eine Sammlung von Situationen aus dem beruflichen Alltag von Tiefbaumitarbeitern zusammenzustellen, in denen Mathematik eine Rolle spielt. Quelle dafür war ein erfahrener Bauführer, der auch entscheidend hinter dem Engagement der Firma für diesen Kurs stand.
Intuitiv wäre dieser Bauführer eher von einer Sammlung von Ressourcen wie „Dreisatz“, „Prozentrechnen“ etc. ausgegangen. Vom Zugang über die Situationen musste er zuerst überzeugt werden. Es fiel ihm dann aber nicht schwer, sich umzustellen und dank seiner langjährigen Erfahrung hatte er keine Mühe, die folgenden sechs Situationen zu beschreiben.
- Aushub organisieren: Eine Baugrube, ein Schacht für eine Leitung oder Ähnliches muss ausgehoben werden. Wie viele Lastwagenladungen Aushub fallen an und wie lange wird für den Abtransport benötigt?
- Beton bestellen: Eine Schalung, der Boden eines Schachtes oder Ähnliches soll mit Beton ausgegossen werden. Wie viele Kubikmeter Beton werden benötigt?
- Beton mischen: Eine Kleinmenge Beton soll vor Ort gemischt werden. Wie viel Kies und wie viel Zement wird benötigt?
- Belag bestellen: Ein Stück Belag in mehr oder weniger regelmässiger Form muss frisch erstellt werden. Wie viele Tonnen Belag werden benötigt?
- Werkleitungsbau: Leitungen bzw. Rohre müssen verlegt werden. Wie viel Aushub fällt an? Wie viel Kies und/oder Beton wird benötigt? Wie viel Belag wird benötigt?
- Pflästerungsarbeiten: Als Randabschluss müssen Pflastersteine gesetzt werden. Wie viel Beton wird benötigt? Welches Gefälle muss abgesteckt werden?
Diese Liste von Situationen spiegelt die Erwartung des Bauführers wider, in welchen Momenten seine Leute selbstständiger agieren müssten, als sie es bisher getan hatten. Entsprechend kamen im Lauf der folgenden Entwicklung auch keine gänzlich neuen Situationen hinzu. Dies obwohl es für die Teilnehmenden am Kurs durchaus möglich gewesen wäre, solche einzubringen.
Hingegen war in der ursprünglichen Vorstellung des Bauführers das Abstecken von Linien etc. im Gelände eine Ressource, die bei den verschiedensten anderen Situationen eine Rolle spielen kann. Im Verlaufe der Durchführung des Kurses zeigte sich aber, dass Abstecken als eigene, bedeutsame Situation wahrgenommen wird, in deren Zusammenhang sehr spezifische Ressourcen wie Längen aus einem Plan herausmessen und Nivellieren von Bedeutung sind:
- Abstecken: Auf Grund von Angaben in einem mehr oder weniger detaillierten Plan müssen Strukturen im Gelände abgesteckt werden (Punkte, Kreissegmente, Steigungen).
Die Beschreibung der Situationen
Zu jeder dieser Situationen wurde eine Beschreibung mit typischer Situation, Ressourcen etc. angelegt. Als der Kurs begann, waren diese Beschreibungen kaum über grobe Skizzen hinaus gediehen. Dies erwies sich aber als unproblematisch, da der Bauführer als primäre Informationsquelle den Kurs selber gab. Die Beschreibungen konnten dann im Verlaufe des Kurses ergänzt werden – anhand von Beobachtungen während der Interaktion des Bauführers mit den Kursteilnehmern und anhand von ergänzenden Fragen an den Bauführer und die Kursteilnehmer.
>> Die Situationsbeschreibungen im Detail als pdf
Kritisches Nachfragen
Meine Rolle bestand im ganzen Prozess darin, einerseits kritische Fragen zu stellen und andererseits den Blick auf Situationen zu lenken, in denen Mathematik weniger offensichtlich zu Tage tritt.
Selbstverständlich brachte der Bauführer seine Sicht der Situationen ein, schilderte aus seiner Sicht, was sich in den jeweiligen Situationen abspielt. Auch brachte er seine Vorstellungen der relevanten Ressourcen ein. Diese waren oft bereits ganz klar auf die Praxis auf der Baustelle bezogen. Beispielsweise schilderte er, dass es üblich ist, Beton pro Kubikmeter zu bestellen, dass also in der Situation Beton bestellen in Volumen gedacht und gerechnet wird. Hingegen wir Strassenbelag pro Tonne bestellt. Bei Belag bestellen wird also mit Gewicht gerechnet, und zwar mit Gewicht pro Fläche: 1m2 Belag wiegt pro Zentimeter Dicke 24 kg. Die 24ger-Reihe bis 10 x 24 ist deshalb eine im Strassenbau relevante Ressource.
Viele der Ressourcen wie Prozentrechnen und Dreisatz waren aber recht schulmathematisch gedacht. Durch die Anlage des Kurses wurde es möglich, diese Sicht von „oben“ durch die Sicht der Personen zu ergänzen, welche die entsprechenden Situationen von „innen“ erleben.
Ein Kurs
Grundlage des Kurses waren die sieben oben beschreiben Situationen.
Mit Ausnahme der ersten Situation Abstecken wurden im Kurs die Situationen etwa in dieser Reihenfolge angegangen. Das Vorgehen war dabei in zweifacher Hinsicht bedarfsorientiert. Einerseits wurde jede Situation so oft wieder aufgenommen, bis sich die Teilnehmenden den jeweiligen Anforderungen gewachsen fühlten. Zum zweiten war der Ausgangspunkt immer das Vorwissen der Teilnehmenden. Sie schilderten für jede Situation zuerst, wie sie mit ihrem aktuellen Wissen mit der jeweiligen Situation umgehen. Dafür standen reale Pläne etc. zur Verfügungen, wie sie in der entsprechenden Firma üblich sind. Der Kurs widmete sich dann den Schwierigkeiten, welche dabei sichtbar wurden, und entsprach damit weitgehend dem Modell eines Schienenkurses.
Auf diese Art wurde – wie oben erwähnt – die Sicht des Bauführers durch die Innensicht der der Bauarbeiter ergänzt. Es ergaben sich dadurch Veränderungen an verschieden Stellen.
Anpassung der Liste der Situationen: Wie erwähnt tauchten im Verlauf der Kurses keine gänzlich neue Situationen auf. Nachträglich wurde aber das Abstecken von einer Ressource zu einer Situation befördert.
Anpassen der Situationsbeschreibungen: Zum Beispiel waren in der ursprünglichen Beschreibung der Situation Beton mischen keine Mengenangaben enthalten. Im Gespräch mit den Teilnehmenden zeigte sich dann aber, dass Beton selbst mischen nur für Kleinmengen bis ½ m3 bzw. 500 Liter sinnvoll ist. Natürlich war das dem Bauführer auch klar. Aber von sich aus erwähnte er es in der Vorbesprechung nicht und ich habe mangels Kenntnisse der realen Arbeitssituation auch nicht nachgefragt.
Anpassen der Ressourcen: Der Bauführer als Ingenieur war ursprünglich davon ausgegangen, dass die Teilnehmenden lernen sollten, die jeweils gesuchten Werte mit Hilfe des Taschenrechners exakt zu berechnen. Entsprechend ging er davon aus, dass beispielsweise für die Herstellung von 300 Liter (verdichtet) von PC 150 (Beton mit 150 kg Zement auf 1000 Liter Volumen) wie folgt gerechnet wird: Locker hat das Kies 20% mehr Volumen, es braucht also 360 Liter Kies. Bei 150 kg Zement auf 1000 Liter braucht es 45 kg Zement auf 300 Liter.
Im Laufe des Kurses zeigte sich aber immer mehr, dass Schätzungen sowie das Rechnen in „natürlichen“ Einheiten (Lastwagenladungen, volle Schubkarren, Zementsäcke etc.) wichtiger und sinnvoller sind. Die Überlegungen zum Beton mischen sehen dann so aus: Für 1 m3 verdichteten Beton benötigt man 20 Schubkarren Kies, für 300 Liter also etwa 6 Schubkarren. Bei PC 150 muss man pro Schubkarre Kies etwa 1/3 Sack Zement zugeben, also hier etwa zwei Sack Zement.
Auf diese Art wurden die vom Bauführer eher etwas schulmathematisch gedachten Ressourcen an verschiedenen Stellen den realen Situationen angepasst. Daneben erfolgte eine zweite Anpassung, nämlich an die tatsächlichen Fähigkeiten der Teilnehmenden. Beispielsweise zeigte sich recht schnell, dass viele Teilnehmenden selbst einfache Aufgabestellungen nur bewältigen konnten, wenn sie zuerst eine saubere Handskizze der Gegebenheiten anfertigten. Entsprechend wurde die Liste der Ressourcen um Handskizzen machen ergänzt.
6 Gemachte Erfahrungen
Im grossen Ganzen hat sich das Vorgehen bewährt.
6.1 Evaluation des Kurses
Der Kurs erstreckte sich während eines Winters über insgesamt sieben Halbtage zu ca. 3 Stunden. Die Teilnahme war freiwillig und fand in der Freizeit statt. Insgesamt haben zwölf Mitarbeitende der beteiligten Baufirma teilgenommen, darunter drei Lernende in Ausbildung. Die Deutschkenntnisse der Teilnehmenden waren sehr unterschiedlich. Sie reichten aber mit Ausnahme einer Person aus, um dem Kurs zu folgen.
Der Kurs fand in einem sehr lernförderlichen Rahmen statt. Die Teilnehmenden waren interessiert und engagiert. Wie sich beobachten liess, konnten sie ihre Routine im Umgang mit den behandelten Berechnungssituationen eindeutig verbessern. Selbst schätzten sie den Lerneffekt auf etwa einen Viertel des Weges vom Anfänger zum Experten ein. Nur bei dem Teilnehmenden mit sehr wenig Deutschkenntnissen ist unsicher, ob er überhaupt vom Kurs profitiert hat.
Der Bauführer erzählte bei einer späteren Gelegenheit, dass die Umsetzung des Gelernten in den beruflichen Alltag leider nur teilweise glückte. Die Vorarbeiter, die unter seiner Leitung standen, wies er an, den Kursteilnehmern regelmässig die Gelegenheit zu geben, das Gelernte auch zu nutzen. Und so konnten diese auch die entsprechenden Kompetenzen aufbauen. Unter anderen Vorarbeitern im Betrieb fand hingegen keine solche Förderung am Arbeitsplatz statt und entsprechend war die Wirkung des Kurses gering.
6.2 Qualität der Informationsquelle
Wie erwartet, war der Bauführer keine optimale Informationsquelle, um mit ihm zusammen am Schreibtisch die Berechnungssituationen zu erarbeiten. Er kannte zwar die relevanten Situationen aus seinem Arbeitsalltag sehr gut und wusste auch, wie auf der Baustelle tatsächlich gerechnet wird. Und auch seine Erwartungen an das, was die Kursteilnehmenden am Schluss können sollten, waren realistisch. Aber da er, im Gegensatz zu Lehrpersonen, vermutlich noch nie gezwungen gewesen war, dieses Wissen explizit zu machen, kamen viele relevante Details in den Vorbesprechungen nicht zur Sprache.
Zudem überlagerten sich seine Kenntnisse darüber, wie auf der Baustelle tatsächlich gerechnet wird, mit schulmathematischen Vorstellungen dazu, wie gerechnet werden sollte. In diesem Punkt unterschied er sich allerdings nicht von den meisten Lehrpersonen, so dass hier wie meistens das eigentliche Fachwissen erst „ausgegraben“ werden muss.
Dadurch, dass die Konkretisierung der Situationen aber während des ganzen Kurses weitergehen konnte und dass der Kurs bedarfsorientiert von den realen Schwierigkeiten der Teilnehmenden mit den Situationen ausging, erwies sich das nicht als grosses Hindernis. Im Prinzip genügte für die Vorbereitung des Kurses die Liste der Situationen (bzw. ihre Titel). Für den Bauführer als Kursleiter waren diese aussagekräftig genug. Am Ende des Kurses standen dann voll ausgearbeitete Situationsbeschreibungen zur Verfügung, die mit den Teilnehmenden validiert waren. Damit erwies sich die Kombination Bauführer, Kursteilnehmer und Interaktion der beiden Seiten während des Kurses als äusserst interessante Informationsquelle.
Weitere Unterlagen zum Kurs finden sich auch auf der Webseite des SVEB.