Brötchen aufbacken

pdf Eine nicht ganz orthodoxer, aber sehr spannender und anregender Umsetzungsversuch der Acht Schritte. Im Folgenden ist in Normalschrift Schritt um Schritt beschrieben, was jeweils geschah. Kursiv folgen dann einige Kommentare meinerseits. Ganz am Schluss findet sich eine Zusammenfassung, der man vor allem entnehmen kann, warum ich dies eine sehr anregende Umsetzung finde.

0 Einleitung

Anlass für diesen Versuch war ein zweitägiger Kurs zu Mathematikdidaktik sowohl für Regellehrpersonen wie für Stützkurslehrende an Berufsfachschulen. Am ersten Tag gab es etwas theoretischen Hintergrund so wie eine Einführung in die Acht Schritte. Die Teilnehmenden hatten den Auftrag, auf den zweiten Tag hin (6 Wochen später) eine Umsetzung zu versuchen und dort dann davon zu erzählen. Wir baten sie, sich dazu in Tandems zusammenzutun. Thierry Clerc und Margrit Walther lösten diesen Auftrag radikal, indem sie vorübergehend je eine ihrer Klassen zusammenlegten.

Thierry Clerc: Er arbeitet im „Motivationssemester“ (SEMO), einem Brückenangebot vor dem Einstieg in die Berufsbildung. In seiner Klasse waren 10 junge Männer und zwei junge Frauen mit französischsprachigem Hintergrund und Thierrys Unterricht erfolgt normalerweise auch in Französisch. Diese Jugendlichen waren dabei, für sich den passenden Beruf zu finden.

Margrit Walther: Sie arbeitet als Berufsfachschullehrerin im Bereich Detailhandel, bildet also Verkäufer und Verkäuferinnen aus. In ihrer Klasse waren sieben junge Frauen und ein Mann mit deutschsprachigem Hintergrund, welche sich im ersten Jahr der zweijährigen beruflichen Grundbildung zur Detailhandelsassistentin bzw. zum Detailhandelsassistent (DHA) befanden.

Das Folgende spielte sich an zwei Nachmittagen zu je 4 Lektionen ab.

1 Warten, bis die Lernenden mit der Situation schon Erfahrungen gemacht haben

Beim gewählten Arrangement war dieser „Schritt“ im wörtlichen Sinn nicht umsetzbar. Die Teilnehmer aus dem SEMO hatten selbst noch nie im Detailhandel gearbeitet und damit keine aktive Erfahrung als Verkäufer und Verkäuferinnen. Die beiden Lehrpersonen beschlossen, das Zusammentreffen der beiden Klassen dafür zu nutzen, dass die DHA den SEMO-Teilnehmern von ihren Erfahrungen in ihren beruflichen Alltag erzählen und diesen so einen Einblick in die Arbeit einer DHA gewähren – ganz im Sinne des Orientierungsprozesses, in dem sich die SEMO-Teilnehmenden ja befanden.

Als Vorbereitung stellte Margrit Walter im Gespräch mit Thierry Clerc sechs typische Situationen aus der Arbeit einer Detailhandelsassistentin zusammen, die alle auch etwas mit Rechnen/Mathematik zu tun haben:

  1. Vorstellen eines Produkts (présentation/argumentation d’un produit)
  2. Einkassieren/Retourgeld (encaissement/retour de l’argent)
  3. Preis/Rabatt/Aktionspreis (prix/rabais/prix d’appel)
  4. Reklamation/Lösung (réclamation/solution)
  5. Verkaufsfördernde Massnahmen (mesures promotionnelles)
  6. Gepflegtes Auftreten (soins de la personnalité)

Am ersten Nachmittag wurden diese Situationen als Einstieg zweisprachig vorgestellt.

2 Die Lernenden schildern ihre Erfahrungen

Die Lernenden teilten sich in sechs Gruppen auf, bestehend aus Lernenden beider Klassen. Jede der Gruppen nahm sich einer der vorbereiteten Situation an und die DHA schilderten in Deutsch als Expertinnen und Experten, was sich aus ihrer Sicht in der entsprechenden Situation abspielt.

Während mehrerer Phasen des ganzen Ablaufs waren übrigens noch zusätzlich die beiden Lehrpersonen für Deutsch und für Französisch anwesend. Bei allfälligen Übersetzungsproblemen zwischen Deutsch und Französisch konnten alle Lehrpersonen helfend eingreifen.

Damit Schritt 2 funktioniert, müssen nicht zwingend alle Lernenden die Situation schon erlebt haben. Gut und lebhaft erzählte Geschichten der Lernenden, welche die Situation kennen, können bei den anderen die fehlenden Erfahrungen bis zu einem gewissen Grad ersetzen. Wichtig ist einfach, dass die Erzählenden genügend Platz bekommen, die Situation durch ihre Schilderungen im Schulzimmer lebendig werden zu lassen. In diesem Fall dürfte dies der Fall gewesen sein, da die DHA in jeder Gruppe ihre Erfahrungen so lange und breit schildern konnte, wie die anderen beiden Gruppenmitglieder zuhören mochten. Es fand ein intensiver Erfahrungsaustausch in zwei Sprachen statt.

3 Die Lernenden lösen eine mittelschwere Aufgabe

Die Gruppen entschieden dann unter Mitthilfe der Lehrpersonen, welche mathematisch/rechnerische Herausforderung ihrer jeweiligen Situation sie anpacken wollten.

Bei der Gruppe, welche die Situation „Verkaufsfördernde Massnahmen“ behandelte, arbeitete die DHA, eine junge Frau, in einer Tankstelle mit integriertem Shop und Kaffeebar. Zu ihren Aufgabenbereichen zählt das morgendliche Aufbacken verschiedener Backwaren wie Brötchen, kleine Pizzas, mehrere Brotsorten etc. Die Gruppe beschloss eine Grafik zu entwickeln, aus der sich die verschiedenen Angaben zu den einzelnen Produkten wie Backzeit, Abkühlzeit, Backtemperatur und Preis ablesen lassen.

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Abbildung 1: Die Präsentation der Graphik durch die Lernenden

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Abbildung 2: Die Graphik zum Vergleich verschiedener Aufbackprodukte nachgestellt

Treibende Kraft bei dieser Entwicklung waren vor allem die beiden SEMO-Teilnehmer, zwei junge Männer. Die Frau hatte ein eher distanziertes Verhältnis zu Rechnen/Mathematik und beschränkte sich darauf, die notwendigen Hintergrundinformationen und praktische Tipps zu liefern.

Das Vorgehen hier nutzt noch radikaler die Lernenden als Quelle von Aufgaben, als dies bei den Acht Schritten angedacht ist. Wie das Beispiel noch zeigen wird, kann das zu sehr kreativen Resultaten führen.

4 Gemeinsam die Lösungen der Lernenden kritisch besprechen

Die Gruppen stellten ihre Situation und ihre Bearbeitung der Situation reihum dar.

Bei der Gruppe, welche sich mit den Backzeiten etc. beschäftigt hatte, beschrieb die DHA zuerst die Situation (auf Deutsch). Sie erklärte, dass Brote und Backwaren einen wichtigen Teil ihres Sortiments ausmachen und dass die erste Schicht deshalb schon um 4.30 Uhr mit dem Aufbacken beginnt, so dass bis spätestens 10 Uhr von jeder Sorte 20 Stück vorhanden sind. Jede Backware wird nach einem eignen Programm (Backzeit, Temperatur etc.) behandelt und dabei ist es ganz wichtig, dass man die Backwaren nach dem Backen doppelt so lange ruhen lässt, wie sie im Ofen waren. Das gilt selbstverständlich nicht für Backwaren, die warm verkauft werden, wie kleine Pizzas oder Schinkengipfel. Einer der SEMO-Teilnehmer fasste anschliessend die Präsentation auf Französisch zusammen.

Der zweite SEMO-Teilnehmer leitete dann über zum mathematischen Aspekt der Situation. Eingangs erwähnte er, dass es nicht ganz einfach gewesen war, eine „mathematische“ Problematik zu finden. Anschliessend stellte er die von ihnen entwickelt Graphik vor (s.o.). Grundlage dafür war eine Liste aller Backprogramme, welche die DHA mitgebracht hatte. Die wesentliche Herausforderung war es gewesen, die verschiedenen Daten mit ihren verschiedenen Skalen in ein Bild zu bringen.

Da hier jede Gruppe an einer anderen Situation arbeitete, kam es hier nicht zu einem Vergleich der verschiedenen Zugangsweisen der einzelnen Gruppen – wie bei den Acht Schritten vorgesehen – sondern jede Gruppe, jede Situation wurde unabhängig von den anderen behandelt. Dabei kam es zu einem fliessenden Übergang von Schritt 4 zu Schritt 5.

5 Das Werkzeug an realistischem Beispiel modellhaft demonstrieren

Während und anschliessend zu den Präsentationen der einzelnen Gruppen beteiligten sich im Plenum alle gemeinsam an der Weiterentwicklung der jeweiligen Ideen bis eine praktikable Lösung gefunden wurde.

Bei der Gruppe mit den Backwaren stellt sich im Verlaufe dieses Prozesses heraus, dass man die Graphik nutzen kann, um Produkte zu finden, die gleichzeitig gebacken werden können, da bei ihnen die wesentlichen Daten identisch sind. V.a. die beiden SEMO-Teilnehmer der Gruppe waren der Meinung, dass sich solche Produkte mit gleichen Programmen anhand der Graphik leichter finden lassen, als wenn man nur die Zahlen in der ursprünglichen Liste vergleicht.

Hier wird an Stelle des Modellierens des professionellen Vorgehens durch die Lehrperson in der Klasse gemeinsam eine gangbare Vorgehensvariante erarbeitet. Das kann vor allem dann sinnvoll sein, wenn die Vorschläge der einzelnen Gruppen bereits alle relevanten Aspekte enthalten, so dass ein Input durch die Lehrperson redundant wäre.

6 Die Lernenden üben mit selbst erfunden Beispielen

Die Gruppen bearbeiteten aufgrund der erarbeiteten Vorgehensweisen ein zweites, ähnliches Problem. Anschliessend tauschten sich je zwei Gruppen aus und jede Gruppe versuchte, ein Problem der anderen Gruppe zu lösen.

Für die Arbeit an der eigenen Situation entspricht dieses Vorgehen dem, was in den Acht Schritten vorgesehen ist. Da dort normalerweise alle Gruppen an derselben Situation arbeiten, heisst das, dass wenn sich die Gruppen gegenseitig Aufgaben stellen, jede Gruppe trotzdem an der Situation arbeitet, welche schon seit Schritt 2 im Zentrum steht. Dies war hier nicht der Fall, d.h. mit der Übernahme einer Aufgabe einer anderen Gruppe mussten sich alle Gruppen in eine neue Situation hineindenken ohne vorher selbst aktiv die Schritte 3 und 4 durchgeführt zu haben. Wie die Studie zum Produktiven Scheitern zeigt, sind diese beiden Schritte aber wesentlich für das Gelingen des ganzen Ablaufs der Acht Schritte, so dass zu erwarten ist, dass die Gruppen von dieser zweiten Aufgabe nicht gross profitiert haben.

7 Die Lernenden erarbeiten einen Spickzettel

Die Gruppen erarbeiteten als Vorbereitung für Schritt 8 Unterlagen, anhand derer die DHA-Lernenden im Betrieb das Erarbeitete zusammen mit ihren Berufsbildnern besprechen und dann allenfalls auch anwenden konnten.

In der Grundform gehen die Acht Schritte davon aus, dass die Lernenden versuchen, das Behandelte relativ selbstständig im Betrieb zu nutzen. Der Spickzettel sollte also eine Form haben, die sie dabei unterstützt. Aber natürlich kann es gerade bei komplexeren Situationen sinnvoll sein, dass sich die Lernenden bei den Umsetzungsversuchen bei ihren Berufsbildnern Hilfe holen. Und dann muss der Spickzettel so gestaltet sein, dass er als Grundlage für eine Besprechung dienen kann.

8 Gemeinsam die Anwendung im Betrieb diskutieren

Die DHA besprachen einzeln in ihren Betrieb das Erarbeitete mit ihren Berufsbildner.

Bei der Lernenden, welche die Situation mit den Backwaren bearbeitet hatte, hatte dieses Gespräch ganz konkrete Konsequenzen. In der Graphik war ersichtlich, dass die Schinkengipfel und die kleinen, mit einer Tomatenscheibe belegten Pizzas, gleich lang aufgebacken werden müssen (E und G in Abbildung 2). Im Betrieb wurde daher beschlossen, diese von nun an gemeinsam in den Ofen zu schieben. Dadurch verkürzte sich die morgendliche Vorbereitungszeit um einige Minuten.

Schritt 8 ist im Rahmen der Acht Schritte vorgesehen, da typischerweise beim Einsatz des Gelernten im realen Berufsalltags kleinere und grössere Schwierigkeiten auftreten, die so nicht vorherzusehen waren und für die eine Lösung gefunden werden muss. Es kann dabei durchaus geschehen, dass Schritt 8 mehr Zeit beansprucht als alle anderen sieben Schritte zusammen. Hier war das nicht der Fall, da die Arbeit an der Situation ein konkretes Produkt erbracht hat (Schinkengipfel und Mini-Pizzas können gleich behandelt werden), das ohne Schwierigkeiten genutzt werden konnte. Ob die Graphik und deren Gebrauch längerfristig – d.h. wenn neue Produkte hinzukommen und alte aus dem Sortiment verschwinden – so unproblematisch ist, wird sich erst zeigen müssen.

9 Zusammenfassung

Das Beispiel illustriert einen äusserst kreativen Einsatz der Acht Schritte, weit jenseits dessen, was ich bei der Entwicklung dieses didaktischen Arrangements im Auge hatte.

Es werden u.a. verschiedene Ziele angestrebt und wohl auch erreicht, welche nichts mit Fachrechnen im eigentlichen Sinn zu tun haben: Die SEMO Teilnehmenden setzen sich recht intensiv mit einem bestimmten Beruf auseinander, die DHA erhalten eine Gelegenheit ihre Arbeit darzustellen und so zu reflektieren. Und alle üben sich im bilingualen Austausch. Nur schon deshalb war der Versuch sicher die darin investierte Zeit wert.

Ob bezüglich Zielen im Zusammenhang mit Fachrechnen im engeren Sinn etwas erreicht wurde, ist schwierig abzuschätzen. Da sechs Situationen parallel behandelt wurden, konnten vermutlich die Lernenden keine Kompetenzen erwerben, die wesentlich über ihre schon vorhandenen hinausgehen. Der ganze Ablauf enthält aber ein paar Varianten zur Grundform der Acht Schritte, welche bedenkenswert sind:

  • Schritt 3, die Lernenden stellen sich die Aufgabe selbst: Die Grundform der Acht Schritte geht davon aus, dass aus dem Lehrplan oder aus der Erfahrung der Lehrperson abgeleitet wird, welche Berechnungen für die im Fokus stehende Situation relevant sind und behandelt werden müssen. Es kann aber durchaus sein, dass die Lernenden genau mit diesem Aspekt der Situation keine Probleme haben, dafür andere Punkte schwierig finden. Dies kann man klären, indem man im Verlauf von Schritt 2 entsprechend die Lernenden danach fragt, ob und welche Berechnungen ihnen in der fokussierten Situation Schwierigkeiten bereiten (vgl. das Schienenmodell). Sind das andere, als gedacht, und will man darauf eingehen, dann muss man für Schritt 3 ad hoc eine entsprechende Aufgabe erfinden. Typischerweise ergibt sich eine solche direkt aus den Erzählungen der Lernenden.
  • Schritt 5, die ganze Klasse erarbeitet ein brauchbares Vorgehen: Vor allem, wenn die in Schritt 4 vorgestellten Varianten bereits alle relevanten Punkte abdecken, ist eine modellhaftes Vormachen durch die Lehrperson überflüssig. Dann kann das professionelle Vorgehen direkt gemeinsam formuliert und erlebt werden.
  • Schritt 7, der Spickzettel wird im Hinblick auf eine Besprechung geschrieben: Vor allem bei komplexeren Situationen kann es sinnvoll sein, dass man die Lernenden auffordert, sich für Umsetzungsversuche explizit Hilfe zu holen. Dann muss der Spickzettel in erster Linie einmal eine gute Unterlage für ein entsprechendes Gespräch bilden. Eine zweite Variante eines Spickzettels – als Unterstützung für das selbstständige Weiterarbeiten – kann dann bei Bedarf später noch erstellt werden.

Das Beispiel illustriert darüber hinaus, dass auch auf Sekundarstufe I die Schule eine Funktion übernehmen kann, wie man sie sonst eher auf der Tertiärstufe erwartet. Es gelingt hier im Unterricht, eine Situation aus dem Betrieb – das Aufbacken der verschiedenen Produkte – so aufzuarbeiten und zu reflektieren, dass daraus ein direkter Nutzen für den Betrieb entsteht!

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