Die Lernenden als Quelle von Aufgaben

pdf Sollen sich die Lernenden mit einer bestimmten beruflichen Berechnungssituation – wie etwa dem Umrechnen von Rezeptangaben – auseinandersetzen, benötigt man selbstverständlich Beispiele solcher Situationen, an denen man arbeiten kann.

Traditionellerweise liefern die Lehrpersonen und/oder die Autoren und Autorinnen von Lehrmitteln diese Beispiele. Das muss aber nicht so sein. Grundsätzlich können auch Lernende Lieferanten von Beispielen/Aufgaben sein. Entweder, indem sie Beispielsituationen aus dem Betrieb mitbringen, oder indem sie nach einem vorgegebenen Muster selbst Aufgaben erfinden.

Im Folgenden soll kurz illustriert werden, welche Vorteile es hat, wenn man im Unterricht auf Aufgaben aufbaut, welche die Lernenden einbringen.

1 Lehreraufgaben und ihre Probleme

1.1 Wissenstheoretischer Hintergrund

Als Lehrpersonen gute, lernförderliche Beispiele/Aufgaben in den Unterricht einzubringen, ist nicht einfach. Warum dies so ist, versteht man am besten auf dem Hintergrund der Art und Weise, wie menschliches Wissen organisiert ist.

Es lassen sich verschiedene Arten von Wissen unterscheiden (vgl. auch Kaiser, 2005). Im Zentrum steht aber das situative Wissen bestehend aus Erinnerungen an eine Vielzahl selbst erlebter Situationen. Dieses Wissen steuert im Wesentlichen, was wir tun. Werden wir mit einer neuen Aufgabe/Situation konfrontiert, dann kommt uns sogleich eine andere, verwandte Situation in den Sinn, die wir einmal erlebt haben. Und diese Erinnerung löst weitere Erinnerungen an Situationen aus, in denen wir ebenfalls ähnliche Aufgaben zu bewältigen hatten. Aus dem, was wir in all diesen erinnerten Situationen jeweils getan haben, ergibt sich dann die Lösung für die aktuelle Situation. Wir machen – nach Bedarf etwas abgewandelt – das, was sich in ähnlichen Situationen schon bewährt hat.

Dies gilt übrigens auch, wenn wir zu einem bestimmten Typ von Situation noch keine Erfahrungen gesammelt haben. Dann erinnert uns die neue Situation an andere Situationen, in denen wir ohne passende Erfahrungen handeln mussten. Und wir verhalten uns so, wie wir uns eben typischerweise verhalten, wenn wir nicht auf Erfahrungen zurückgreifen können: Wir schrecken zurück („Mathe war noch nie mein Ding!“) oder versuchen trotzdem zu einer Lösung zu kommen („Das schaffe ich schon irgendwie!“).

Zentral dabei ist, dass wir selbstverständlich nur auf Erfahrungen zurückgreifen können, die uns im entscheidenden Moment auch in den Sinn kommen. Stehe ich im Betrieb und soll Röhren zuschneiden, die ich morgen auf die Baustelle mitnehmen werde, nützten mir die vor vier Wochen im Unterricht an der Berufsfachschule durchgeführten Berechnungsübungen nur, wenn mir diese Schulsituation jetzt auch in den Sinn kommt. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich davon ab, wie ähnlich für mich die beiden Situationen – die im Betrieb und die in der Schule – erscheinen.

Und das ist der Kern des Transferproblems Schule/Praxis. Die Werkstattsituation und die Schulsituation haben oft so wenige Ähnlichkeiten, dass kein Erinnern stattfindet. Auf der einen Seite ist die Werkstatt voller Geräusche, voller Gerüche, es herrscht Betrieb. Überall liegen Stapel von Röhren. Es findet sich kaum Platz, um Berechnungen in Ruhe anstellen zu können und als Vorlage dient eine Skizze. Auf der anderen Seite die ruhige Schulstunde im aufgeräumten Schulzimmer. Alle sitzen isoliert an ihren Plätzen und als Vorlage liegt vor ihnen eine dürre Textaufgabe. Bearbeitet werden Zahlen anstatt Röhren. Kein Wunder, dass sowohl im Betrieb als auch in der Schule keine Erinnerung an die jeweils andere Situation auftaucht.

Dies kann auch bei schulisch guten Lernenden dazu führen, dass in ihrem Kopf zwei verschiedene Welten entstehen, zwei verschiedene Gruppen von Situationen. Jede dieser beiden Situationsgruppen ist in sich vielleicht gut vernetzt. In der Schule kommen bei jeder neuen Aufgabe verschiedene ähnliche Schulsituationen in den Sinn und helfen, die Schulaufgaben zu lösen. Und in der Werkstatt drängt sich ebenso jede Menge an vergleichbaren Werkstattsituationen auf, die als Basis zur Lösung der Werkstattprobleme dienen. Nur zwischen den beiden Gruppen von Situationen gibt es keine Verbindungen. Nie taucht in der Werkstatt eine Erinnerung an das Rechnen in der Schule auf und nie führt eine Aufgabe in der Schule zu einer Erinnerung an eine Situation aus der Werkstatt.

Natürlich ist das ineffizient. Die Idee des dualen Bildungssystems besteht nicht darin in zwei getrennten Welten Getrenntes zu lernen. Die Idee wäre, dass die beiden Lernorte sich gegenseitig befruchten.

1.2 Bessere und schlechtere Lehreraufgaben

Aus dem Gesagten lässt sich ableiten, wie man als Lehrperson eine solche Spaltung vermeiden kann: Man muss die verwendeten Beispiele/Aufgaben so gestalten, dass sich die Lernenden im Betrieb an sie erinnern.

Was man tun kann

Die Herausforderung besteht darin, Beispiele so einzuführen, dass die Lernenden diese in ihrem Gedächtnis am richtigen Ort ablegen: Nicht unter der Rubrik „Schulaufgaben“ sondern unter „relevante Praxissituation“. Das gelingt am besten, wenn die Lehrperson eine Geschichte aus ihrer eigenen beruflichen Praxis als Sanitärinstallateurin, als Metzger, als Pflegende erzählt. Je mehr Details die Geschichte aufweist, je mehr die Emotionen zum Tragen kommen, welche die Lehrperson damals empfunden hat, als die Geschichte sich abspielte, umso grösser ist die Chance, dass die Lernenden sie als eine Situation aus der Praxis und nicht als ein schulisches Beispiel miterleben.

Was man nicht tun sollte

Ins Negative gedreht ergeben sich daraus verschiedene Aspekte, die ein Beispiel/eine Aufgabe zur reinen Schulsituation machen und die man vermeiden sollte:

Veraltete Praxis: Zu Recht werden Lernende nur Beispiele/Aufgaben als Praxissituationen abspeichern, die erkennbar etwas mit der aktuellen Praxis in ihren Betrieben zu tun hat. V.a. Lehrpersonen, die schon vor einiger Zeit aus dem praktischen Berufsalltag in die Schule gewechselt haben, sind hier besonders gefordert. Ihre Beispiele/Aufgaben werden nur funktionieren, wenn die Lehrpersonen sich immer wieder darum bemühen, den Bezug zur aktuellen Praxis – wie sie ist und nicht nur wie sie sein könnte – herzustellen.

Knappe Textaufgaben: Typische Textaufgaben, wie man sie oft in Lehrmittel findet, sind sehr knapp formuliert. In höchstens zwei Sätzen werden die zum Rechnen notwendigen Angaben kompakt verpackt. „Situationsbeschreibungen“ dieser Art haben keine grosse Chance, von den Lernenden als Praxissituationen abgelegt zu werden. Dazu braucht es mehr Details, die der Situation Farbe geben. Im Betrieb kommt eine Aufgabe nie als Text daher, sondern als Auftrag. Meist wird ein solcher Auftrag mündlich übermittelt, oft begleitet durch eine Notiz, eine Skizze oder einen formaleren Auftragszettel mit einigen relevanten Angaben. Andere Angaben müssen aus der Situation direkt entnommen werden. Etc.

Rechenübungen: Anhand von ein paar Angaben lässt sich oft Vieles berechnen. Beispielsweise kann man anhand des Zinsertrages und des Zinssatzes berechnen, wie viel Geld man anfänglich auf dem Konto hatte. Nur wird das im realen Alltag nie jemand tun. Berechnungssituationen haben nur eine Chance, von den Lernenden als Praxissituationen wahrgenommen zu werden, wenn die Berechnung darin einer Berechnung entspricht, die in der geschilderten Situation tatsächlich vorkommt.

2 Der Vorteil von Lerneraufgaben

Die Anforderungen an Lehreraufgaben, welche die Verbindung zwischen Schule und Praxis herstellen können, sind also hoch. Und vermutlich kann kaum eine Lehrperson auf mehr als zwei, drei Geschichten aus der eigenen Berufspraxis zurückgreifen, die wirklich funktionieren.

Die Alternative zu Lehreraufgaben sind Aufgaben/Beispiele, welche die Lernenden in den Unterricht einbringen. Im dualen Berufsbildungssystem gibt es dafür grundsätzlich genügend Grundlagen. Die Lernenden verbringen ja den grösseren Teil ihrer Zeit im beruflichen Alltag und erleben dort ständig neue Praxissituationen.

Diese Erlebnisse lassen sich in den Unterricht holen, indem die Lernenden in der Klasse von diesen Situationen erzählen. Dies kann spontan geschehen, indem die Lehrperson zu einem Thema einfach nachfragt, wer schon etwas Entsprechendes erlebt hat. Das Ganze lässt sich aber auch vorbereiten, indem man den Lernenden einen Beobachtungsauftrag mitgibt und sie bittet, entsprechende Unterlagen und Materialien aus dem Betrieb in den Unterricht mitzubringen. Der Austausch über die Praxissituationen kann dann im Plenum oder in Gruppen erfolgen.

Diese durch die Lernenden eingebrachten Beispiele können dieselben Funktionen wie Lehrerbeispiel erfüllen. Sie können den Lernenden helfen, sich in ein neues Thema hineinzudenken, sie können als Übungsaufgaben dienen und sie können dazu dienen zu diskutieren, welche Probleme sich stellen, wenn man ein Berechnungsverfahren im beruflichen Alltag anwendet. Gegenüber den Lehreraufgaben haben sie verschiedenste Vorteile.

Hohe Motivation der Lernenden: Am auffälligsten ist, wie unterschiedlich Lernende auf Beispiele andere Lernenden im Vergleich zu Beispielen der Lehrperson reagieren. Oft kommt es spontan zu Fragen und zu Vergleichen mit der Situation im eignen Betrieb. Die Lernenden lassen sich auf die Beispiele ein, versuchen sich die Situation vorzustellen und machen sie so zu einer Praxissituation.

Automatische Verknüpfung von „Rechnen“ und Fachkunde: Typischerweise werfen die Beispiele aus den Betrieben jede Menge Fragen auf, die weit übers „Rechnen“ hinausgehen. Die Lernenden werden darauf bestehen, auch diese Fragen zu behandeln und damit die Grenze zwischen „reinem“ Fachrechnen und Fachkunde auflösen. Damit erhält das Fachrechnen seinen richtigen Platz zugewiesen: Ein Wissensbestandteil, der beim Bearbeiten realer Situationen zusammen mit vielen anderen Wissensbestandteilen zum Zuge kommt.

Automatische Rückkopplung des Unterrichts mit der aktuellen beruflichen Praxis: Beispiele, welche die Lernenden aus ihrem Betrieb in den Unterricht einbringen, spiegeln automatisch eine real existierende Praxis. Die Schule und die einzelnen Lehrpersonen müssen also keine gesonderten Anstrengungen unternehmen, um diesen Bezug herzustellen. Allerdings müssen sie sich aber auch ständig weiterbilden, um auf neue Formen von Praxis reagieren zu können und um allfällige Beispiele schlechter Praxis kritisch beleuchten zu können.

Automatische Einbettung in den Ausbildungsablauf: Die Lernenden können nur über bestimmte Erfahrungen berichten, wenn sie solche im Betrieb gemacht haben. Arbeitet man konsequent mit Lernerbeispielen, dann entsteht ein sanfter Druck, Themen erst dann zu behandeln, wenn die Lernenden dazu im Betrieb bereits Erfahrungen machen konnten. Dies ist grundsätzlich eine gute Idee, denn es ist viel einfacher Lernenden etwas zu vermitteln, das sie mit eigenen Erfahrungen verbinden können.

Konzentration auf die für die Lernenden relevanten Punkte: Es ist nicht immer einfach abzuschätzen, was für die Lernenden im Zusammenhang mit einer Berechnungssituation trivial ist und was ihnen ernsthaft Mühe bereitet. Die Art und Weise, wie die Lernenden ihre Erfahrungen aus der Praxis schildern, kann hier wertvolle Hinweise geben. Anstatt in der Vorbereitung Vermutung darüber anstellen zu müssen, wo wohl die Herausforderungen für die Lernenden liegen, kann die Lehrperson darauf reagieren, was sie aus den Erzählungen herauszuhören glaubt.

Intensive Reflexion des situativen Wissens: Wie eingangs geschildert, werden die in der Praxis erlebten Situationen das zukünftige Handeln der Lernenden wesentlich bestimmen. Sie sind viel zahlreicher als alle in der Schule behandelten Beispiele und sie sind im Gedächtnis viel direkter mit dem beruflichen Alltag verknüpft also das beste Beispiel aus der Schule. Wenn die Lernenden an den Situationen arbeiten können, die sie selbst im Betrieb erlebt haben, dann arbeiten sie direkt an ihrem relevanten situativen Wissen. Im Optimalfall führt die Arbeit in der Schule dazu, dass die entsprechende Situation im Gedächtnis mit einer Bewertung versehen ist und in Zukunft je nach Qualität als positives Beispiel – „so kann/soll man das machen“ – oder eher als negatives Beispiel – „da ist etwas geschehen, das man besser vermeiden sollte“ – gekennzeichnet ist.

Weniger Vorbereitung: Ein angenehmer Nebeneffekt ist nicht zuletzt, dass die ganze Arbeit wegfällt, Lehreraufgaben zu entwickeln. Niemand muss mehr Arbeitsblätter mit Reihen von Textaufgaben schreiben. Niemand muss sich mehr einführende und „motivierende“ Beispiele ausdenken. Die Lernenden liefern sie frei Haus.

All dies zusammen bewirkt, dass Lernerbeispiele deutlich besser als Lehrerbeispiele geeignet sind, Schule und Praxis zusammenzubringen.

3 Was sonst noch zu überlegen wäre

Die Grundidee ist also einfach: Die Lernenden bringen Beispiele aus dem Betrieb in den Unterricht und mit diesen wird gearbeitet. Bei der Umsetzung dieser Idee stellen sich im Detail dann verschiedene Fragen.

3.1 Zu welchem Zweck können die Lernerbeispiele eingesetzt werden?

Im Prinzip können Beispiele an drei verschiedenen Zeitpunkten in den Unterricht eingehen: Beim Einstieg (Schritte 2 bis 4 des didaktischen Ablaufs in acht Schritten), beim Üben (Schritt 6) und beim Umsetzen (Schritt 8). Sie übernehmen dabei jeweils eine etwas andere Funktion (vgl. auch Kaiser, 2008).

Einstiegsbeispiele (Schritte 2 bis 4): Beim Einstieg geht es erst einmal darum, dass die entsprechende Berechnungssituation im Klassenzimmer präsent ist. Dazu genügt meist, wenn mehrere Lernende direkt aus ihrer Erfahrung heraus Situationen schildern, die sie erlebt oder beobachtet haben. Nach einigen Beispielen wird dann typischerweise klar, dass es zwar Varianten gibt, wie die Berechnungssituation in den verschiedenen Betrieben gehandhabt wird, dass alle diese Varianten aber gewisse Merkmale teilen. Als Lehrperson kann man versuchen, an der Tafel die Gemeinsamkeiten und die Varianten festzuhalten.

Anschliessend benötigt man für den Schritt 3 ein Beispiel, das eine Berechnung mittlerer Komplexität nötig macht. Meist findet sich unter den vorgestellten Situationen eine solches. Manchmal muss man diese noch etwas bereinigen und mit frei erfundenen Angaben ergänzen (beispielsweise genaue Abmessungen), welche in der Erzählung nicht enthalten waren.

Scheint keines der Beispiele der Lernenden geeignet, sollte man auf keinen Fall ein vorbereitetes Lehrerbeispiel aus dem Hut zaubern. Besser ist es, eines der Lernerbeispiele zu nehmen und dieses laut denkend vor den Augen der Lernenden in eine brauchbare Einstiegsaufgabe zu verwandeln – beispielsweise indem man die Situation etwas vereinfacht.

Übungsaufgaben (Schritt 6): Übungsaufgaben sollen den Lernenden helfen, eine gewisse Routine bei zentralen Aspekten des Berechnungsvorgangs zu erwerben. Reale Geschichten direkt aus dem beruflichen Alltag eignen sich dafür weniger, da diese meist viele Fragen aufwerfen, welche mit dem eigentlichen Berechnungsvorgang nicht direkt zu tun haben. Bewährt hat sich hier, die Lernenden auf eine andere Art als Aufgabenlieferanten einzusetzen, indem man sie nämlich Aufgaben frei erfinden lässt. Dass dies intensive Lerneffekte auslösen kann, zeigt das folgende Beispiel:

In einem Kurs für Mitarbeiter im Tiefbau wurde die Berechnung des Aushubvolumens einer Baugrube anhand des Beispiels eines Einfamilienhauses eingeführt. Dann wurden die Teilnehmenden (12 Männer, alles Angelernte aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens) im Plenum aufgefordert, ein nächstes Beispiel selbst zu erfinden. Darauf ein Teilnehmer: „Das erste Beispiel war etwas langweilig, ein Haus bei uns im Mittelland. Lasst uns etwas auf einem Berg bauen, auf 2‘000 m Höhe“. Okay, und auf welcher Höhe soll die Sole der Grube liegen? Ein anderer Teilnehmer: „1‘500 m“. Okay, ihr seid die Fachleute, aber ist das nicht eine etwas tiefe Grube? Ein dritter: „Stimmt schon. Machen wir es etwas realistischer, sagen wir 1‘950 m.“ Okay. Derselbe: „Das ist aber immer noch ziemlich tief. Da müssen wir aufpassen, dass uns die Wände nicht abrutschen. Ich schlage eine Böschungsneigung von 1:100 vor.“ Okay, und wie breit und lang soll die Grube werden? Dazu wieder der Erste: „Eine grosse Turnhalle, 50 m x 30 m!“. Damit waren alle Daten beieinander und es wurde gerechnet. Als Resultat ergab sich, dass zum Abtransport des gigantische Volumens von 10’315’664 m3 Aushub 859’638 Lastwagenfahrten notwendig sind.

Das Beispiel illustriert, welches Potential in solchen selbsterfundenen Aufgaben steckt. Einmal geben sie Aufschlüsse darüber, welche Aspekte die Lernenden bereits verstanden haben. Zumindest die Person, welche die Böschungsneigung vorschlug, war sich offenbar im Klaren darüber, wie die Verhältnisangabe zu interpretieren ist und in welche Richtung man den typischen Wert von 3:1 verändern muss, um eine flachere Böschung zu erhalten. Zum zweiten ermöglichen sie es den Lernenden aber auch spielerisch zu erkunden, welche Effekte bestimmte Veränderungen der Werte haben. Verschiedene Teilnehmende meldeten nach der Bearbeitung dieses Beispiels zurück, dass sie dank der absurden Werte nun viel besser die Verhältnisangaben bei der Böschungsneigung verstehen würden. Darüber hinaus sind die selbst erfundenen Aufgaben meist hoch motivierend. Denn wenn man sich schon selbst eine Situation ausgedacht hat, möchte man auch wissen, was für Resultate sich ergeben.

Man kann Übungsaufgaben dieser Art wie im Beispiel oben im Plenum gemeinsam erfinden und dann gemeinsam oder in kleinen Gruppen lösen. Man kann aber auch alle Lernende einzeln oder in kleinen Gruppen Aufgaben erfinden lassen und dann diese Aufgaben an alle anderen zum Lösen verteilen. In diesem Fall werden die Autoren und Autorinnen der Aufgaben zu Experten, die dann auch eine Musterlösung liefern und/oder die Lösungen aller anderen korrigieren müssen.

Manchmal resultieren aus den ersten Versuchen allzu harmlose Aufgaben. Dem kann man gegensteuern, indem man selbst adhoc zusätzliche Schwierigkeiten einbaut oder indem man die Lernenden auffordert, die Schwierigkeit zu steigern. In jedem Fall kann man nach dem Lösen mehrerer Aufgaben noch darüber diskutieren, welche Aufgaben besonders schwierig waren und warum.

Umsetzungsaufgabe (Schritt 8): Hat man einmal im Prinzip verstanden, wie eine bestimmte Berechnungssituation anzugehen ist und dabei auch schon etwas Routine entwickelt, dann dienen Umsetzungsaufgaben dazu, das Gelernte nun in ganz realen Situationen einzusetzen. Im Gegensatz zu Übungsaufgaben sind hier nicht auf das Berechnen reduzierte Aufgaben gefragt sondern ganz reale Situationen mit allen möglichen Komplikationen.

Benötigt werden also möglichst komplexe Beispiele, welche die Lernenden aus den Betrieben mitbringen. Je mehr Details vorhanden sind, umso grösser ist die Chance, dass man bei der Bearbeitung auf die eigentlichen Umsetzungsprobleme stösst und nicht einfach nur eine Berechnung abspult. Am besten erreicht man dies, indem man den Lernenden als Hausaufgabe den Auftrag gibt, im Betrieb eine entsprechende Situation aufzuspüren, dort die notwendigen Berechnungen durchzuführen und dann einen kleinen Bericht (Situation, Berechnungsversuch, Resultat, Schwierigkeiten) mitzubringen. Damit ist garantiert, dass die Lernenden im Moment, wo sie die Berechnung durchführen wollen, die Situation real vor Augen haben und mit allen relevanten Details konfrontiert werden.

3.2 In welcher Sozialform können Lernerbeispiele eingesetzt werden?

Grundsätzlich kann man die Lernenden sowohl im Plenum wie auch in Gruppen an den Beispielen arbeiten lassen.

Einstiegsbeispiele erzählen lassen, wurde oben als Plenumsaktivität beschrieben. Aber natürlich könnte man die Lernenden auch in Gruppen ihre jeweiligen Erfahrungen austauschen lassen und ihnen den Auftrag geben, gemeinsame Strukturen und Varianten zu suchen. Diese würde man dann im Plenum wieder aufgreifen.

Ebenso wurde im Beispiel oben die Übungsaufgabe im Plenum erfunden und bearbeitet. Dies kann ein guter Einstieg in die Übungsphase sein, damit alle ein Modell haben, auf dessen Hintergrund sie dann in Gruppen weitere Beispiele erfinden und bearbeiten können.

Umgekehrt kann man die Resultate der Umsetzungsaufgaben zuerst in Gruppen diskutieren lassen und den Auftrag erteilen, dass die Lernenden nachher das Wichtigste aus ihrer Diskussion als Zusammenfassung ins Plenum tragen. Wichtig ist allerdings, dass sowohl beim Einstieg wie auch bei den Umsetzungen ein Teil der Diskussion im Plenum stattfindet. In diesen Momenten demonstriert die Lehrperson als Fachperson modellhaft, wie man professionelle mit solchen Situationen umgeht, welche Aspekte wirklich wichtig sind, wo man den gesunden Menschenverstand einschalten sollte und was es sonst noch alles zu bedenken gibt.

3.3 Wie gelangt man zu guten, reichhaltigen Beispielen?

Bittet man die Lernenden, einfach im Laufe des Unterrichts aus ihren Betrieben zu erzählen, dann macht man sich abhängig davon, woran sich die Lernenden erinnern und was ihnen aus ihrer Anfängerperspektive aufgefallen ist. Dies kann im Rahmen des Einstiegs in eine neue Berechnungssituation durchaus informativ sein. Um intensiver an der Situation zu arbeiten, wäre es aber oft sinnvoll, man hätte detaillierte Angaben zu einzelnen Beispielen.

Zu diesen gelangt man eher, wenn man den Lernenden einen Beobachtungsauftrag als Hausaufgabe mitgibt. Je besser vorstrukturiert dieser Auftrag ist, umso eher ist sichergestellt, dass die Angaben, auf die man im Unterricht zurückgreifen möchte, auch vorhanden sind. Eine mögliche Form wäre eine Checkliste. Welche Punkte dort enthalten sein müssen, hängt von der jeweiligen Berechnungssituation ab. Ideal ist, wenn die Lernenden nicht nur eine Beschreibung der Situation, sondern auch Materialien wie Pläne, Packungsbeilagen, Katalogseiten etc. mitbringen.

Auf jeden Fall sollte man die Lernenden ermuntern, über die Situationen und dazu, wie sie in ihrem Betrieb angegangen werden, in ihrem Betrieb zu diskutieren. Oft können sie nur so zu relevanten Hintergrundinformationen gelangen, die sehr betriebsspezifisch sein können und zu denen es keinen anderen Zugang gibt.

3.4 Was macht man mit Beispielen schlechter Praxis?

Es ist zu hoffen, dass die Beispiele, welche die Lernenden in den Betrieben beobachten und in den Unterricht mitbringen, einer aktuellen, professionellen Praxis entsprechen. Aber ganz auszuschliessen ist nicht, dass zwischendurch Beispiele geschildert werden, die man nicht einfach kommentar- und kritiklos stehen lassen kann.

Dabei ist zu unterscheiden zwischen praktischer Praxis und wirklich schlechter Praxis. Mit ersterer sind Beispiele gemeint, die streng genommen nicht wirklich einem hochprofessionellen Vorgehen entsprechen, die man aber, wenn man sich mit der Situation genauer auseinandersetzt, trotzdem als brauchbare praktische Variante gelten lassen kann. Solche Beispiele sind nützliches Material, um in der Umsetzungsphase den Sinn hochprofessioneller Lösungen und die Umstände, in denen andere Varianten akzeptabel sind, zu diskutieren.

Anders im Fall wirklich schlechter Praxis. Damit ein solches Beispiel nicht ungefiltert in den Wissensschatz der Lernenden aufgenommen wird und dort als mögliche Variante haften bleibt, muss man zu solchen Fällen Stellung nehmen. Dies kann man tun, ohne direkt das Vorgehen als falsch oder schlecht zu bezeichnen, was unter Umständen nur den Widerstand der betroffenen Lernenden (und allenfalls des Betriebes) hervorrufen würde. Etwa in der Form: „Das Vorgehen in dem Fall kann ich nicht ganz verstehen. Ich denke aus den und den Gründen dürfte das nicht funktionieren. Ich möchte das Beispiel deshalb nicht weiter behandeln“. Die angegeben Gründe müssen natürlich fachlich fundiert sein. Die Lernenden (und allenfalls der Betrieb) können dann selbst ihre Schlüsse daraus ziehen.

3.5 Was tun, wenn nur ein Teil der Lernenden entsprechende Erfahrungen hat?

Wenn zwar nicht alle, aber doch mehr als nur zwei, drei Lernenden einschlägigen Erfahrungen haben, können diese Beispiele genügen, um den Unterricht durchzuführen. Normalerweise wird man sowieso nicht alle Beispiele aller Lernenden ausführlich behandeln können.

Sind die fehlenden Erfahrungen bei einigen Lernenden darauf zurückzuführen, dass es im Betrieb zwar solche Situationen gibt, die Lernenden aber noch keinen Kontakt damit hatten, kann man diesen Lernenden Beobachtungsaufträge und Umsetzungsaufträge erteilen. Sie werden vielleicht etwas Mühe haben, an die relevanten Situationen zu gelangen, können aber auch so wertvolle Einblicke in den Betrieb gewinnen.

Lernende, bei denen die entsprechenden Situationen überhaupt nicht vorkommen, können selbstverständlich auch keine Beobachtungsaufträge ausführen. Sind es nicht immer dieselben, sondern sind je nach Situation andere Lernende davon betroffen, stellt das aber kein Problem dar. Die entsprechenden Lernenden haben dann in der jeweiligen Woche einfach weniger Hausaufgaben. Umsetzungsversuche müssen sie allerdings anhand von Beispielen anderer machen. Dies kann man beispielsweise so organisieren, dass Lernende, welche entsprechende Situationen im Betrieb antreffen, dort einen ersten Versuch zur Umsetzung machen und die relevanten Aspekte der Situation dokumentieren. Zurück im Unterricht können sie dann zusammen mit anderen Lernenden, die keine entsprechenden Gelegenheiten hatten, gemeinsam in Gruppen das Umsetzungsbeispiel fertig ausarbeiten.

3.6 Was tun, wenn zu einem Thema niemand Erfahrungen beisteuern kann?

Die erste Überlegung in diesem Fall ist natürlich: Muss das Thema jetzt behandelt werden, bzw. muss das Thema überhaupt behandelt werden?

Muss das Thema wirklich jetzt behandelt werden? Ist es nicht möglich zuzuwarten, bis zumindest einige der Lernenden entsprechende Erfahrungen gesammelt haben? Denn, wie gesagt, es gibt nichts Schwierigeres, als Lernenden etwas verständlich machen zu wollen, das sie mit keinen Erfahrungen und Vorstellungen ihrerseits verknüpfen können. Ist es nur die eigene Gewohnheit bezüglich der Abfolge der Themen, die man dazu ändern müsste, sollte dies eigentlich einfach sein. Besteht hingegen ein Schullehrplan, welcher die Behandlung des Themas zu einem ungünstigen Zeitpunkt vorsieht, dann wird man sich mit den Kollegen besprechen müssen. Schullehrpläne lassen sich ändern und in den seltensten Fällen steht dahinter ein Bildungsplan, der eine genaue Abfolge der Behandlung von Themen vorsieht.

Radikaler ist die Frage, ob das Thema überhaupt behandelt werden muss. Auch hier trifft man auf dieselbe Abstufung von Verbindlichkeit. Behandelt man das Thema nur, weil man selbst einmal entschieden hat, dass dieses Thema wichtig ist, dann ist es an der Zeit, diese Entscheidung aufgrund der Realität im praktischen Alltag der Lernenden zu überdenken. Steht das Thema im Schullehrplan, dann lohnt sich auf jeden Fall, einmal einen Blick in den Bildungsplan des entsprechenden Berufes zu werfen. Erstaunlich häufig findet man gerade im Bereich Fachrechnen in den Schullehrplänen Themen, die spätestens bei der letzten Revision des Bildungsplanes dort verschwunden sind. Ist dies der Fall, ist es an der Zeit, den Schullehrplan den rechtlichen Vorgaben anzupassen.

(Ich gehe hier einmal davon aus, dass das Qualifikationsverfahren mit den Inhalten des Bildungsplans übereinstimmt, dass also an der Abschlussprüfung nicht Themen verlangt werden, zu denen es im Bildungsplan keine Ziele gibt. Andernfalls liegt ein grösseres Problem vor.)

Kommt man trotz dieser Überlegungen zur Überzeugung, dass man ein Thema behandeln möchte/muss, obwohl niemand von den Lernenden dazu Erfahrungen vorweisen kann, sind zwei Szenarien denkbar:

1) Man ist selbst der Überzeugung, dass das Thema eigentlich für die Lernenden nicht von Bedeutung ist, muss das Thema aber behandeln, weil das im Bildungsplan oder Schullehrplan so vorgeschrieben ist: Dann ist das der Moment, Mut zur Lücke zu zeigen und angesichts der Stoffmenge das Thema nur oberflächlich durchzunehmen.

2) Man ist der Überzeugung, dass das Thema für die Lernenden so wichtig ist, dass es sich lohnt, dafür Zeit und Energie zu investieren, auch wenn die Lernenden keine Erfahrungen haben, die sie damit verknüpfen können: In diesem Fall gibt es natürlich den traditionellen Weg über die Lehrerbeispiele. Eine Überzeugung dieser Art auf Seiten der Lehrperson sollte eigentlich in prägenden beruflichen Erfahrungen verwurzelt sein. Denn wo sonst soll man die Überzeugung hernehmen, dass das Thema wichtig ist? Diese Erfahrungen kann man für die wirkungsvollste Art der des Lehrerbeispiels nutzen, indem man ausführlich von diesen Erfahrungen erzählt und damit zumindest über ein gutes Einstiegsbeispiel den Unterricht mit dem beruflichen Alltag verknüpft.

Besser ist es sicher, solche Themen eher gegen Ende der Ausbildung zu behandeln. Wenn die Lernenden in der Anfangsphase der Ausbildung immer wieder (dank dem Einsatz von Lernerbeispielen) erleben, dass Schulunterricht und berufliche Praxis eng verknüpft sind, entsteht ein Vertrauensverhältnis. Dieses kann man später nutzen, um das eine oder andere Mal nur über die Erfahrungen der Lehrperson die Brücke zu schlagen.

4 Literatur

  • Kaiser, H. (2005). Wirksames Wissen aufbauen – ein integrierendes Modell des Lernens. Bern: h.e.p. verlag.
  • Kaiser, H. (2008). Berufliche Handlungssituationen machen Schule. Winterthur: Edition Swissmem.