Konzepte modellieren

Der folgende Vorschlag basiert auf noch wenigen Erfahrungen, also mit Vorsicht umsetzen! Für Rückmeldungen zu Verständlichkeit und Umsetzbarkeit bin ich dankbar.

pdf  Masse, wie sie im beruflichen Alltag verwendet werden, haben sich typischerweise über Jahrhunderte hinweg entwickelt, bis sie ihre heute gebräuchliche Form gefunden haben. Gewisse einfache Masse werden wohl von den meisten Lernenden als unproblematisch erlebt: Man legt das Messband an, um eine Länge zu messen. Man drückt auf die Stoppuhr, um eine Zeit zu messen. Man hält das Thermometer ins Wasser, um die Temperatur zu messen. Mehr Probleme bereiten zusammengesetzte Masse wie Fläche, Volumen, Drehmoment etc. Und besonders viele Schwierigkeiten scheinen dabei Quotienten-Grössen zu bieten wie Düngeraustrag pro Hektare oder Dachneigung in Prozent.

Eine Schwierigkeit mit diesen Massen ist, dass man ihnen nicht einfach ansieht, wozu sie erfunden wurden und warum sie genau diese Form angenommen haben. Erkennt man das aber nicht, ist es auch schwierig, mit ihnen verständnisvoll umzugehen. Man kann den Lernenden daher im Umgang mit solchen Massen helfen, indem man Zweck und Form explizit zum Thema macht.

1 Wozu sind Masse gut?

Dass bei Personen mit einem eher distanzierten Verhältnis zu Rechnen und Mathematik nicht sofort klar ist, wozu ein bestimmtes Mass gut ist, zeigte sich beispielsweise im Rahmen eines Projekts mit arbeitslosen Jugendlichen in Sydney (Johnston, Baynham, Kelly, Barlow, & Marks, 1997). Zum Thema wurde dort sogar die für viele wohl unproblematische Höhe eines Gegenstandes.

Eines der beteiligten Mädchen erzählte den Forschern, dass sie Schwierigkeiten mit dem Kinderarzt hatte, weil sie diesem die Grösse ihres Babys nicht angeben konnte. Und im Gespräch wurde klar, dass sie überhaupt keinen Bezug zu Längen- bzw. Höhenmessungen hatte. Um dem abzuhelfen, spielten die Forscher mit den Jugendlichen in Gruppen folgendes Szenario durch.

  • Aufgabe 1: Im Raum stehen zwei Tische. Welcher ist wohl höher? Die typische Lösung der Jugendlichen war völlig „mathematikfrei“: Sie stellten die Tische nebeneinander und verglichen sie direkt.
  • Aufgabe 2: Und wie könnte man vorgehen, wenn die Tische festgeschraubt wären? Immer noch „mathematikfrei“ stapelten die Jugendlichen neben dem einen Tisch Bücher aufeinander, bis die Höhe des Tisches erreicht war. Dann transportierten sie den Stapel zum anderen Tisch und verglichen.
  • Aufgabe 3: Und wenn wir nun ins Einkaufszentrum fahren, um dort einen gleich hohen Tisch zu kaufen? Die Lösung bestand aus einem Stück Schnur, das von der Tischplatte heruntergehängt und entsprechend abgeschnitten wurde. Dieses Schnurstück liess sich leicht aufrollen und mitnehmen.
  • Aufgabe 4: Und wenn euch nun eure Schwester aus Adelaide (1‘375 km weit weg) anruft und einen gleich hohen Tisch kaufen möchte? Nun wurden verschiedene Vorschläge diskutiert, wie etwa die Schnur per Post schicken oder am Telefon beschreiben, welche Bücher die Schwester aufeinander stapeln muss. Nach einiger Zeit setzte sich dann aber doch die Idee durch, ein Messband zu suchen, es an den Tisch zu halten, die Anzahl Zoll abzulesen und die Zahl über das Telefon durchzugeben.

Die Entwicklung des Vorgehens beim Vergleichen illustriert Verschiedenes:

  1. Masse wurden zum Zweck erfunden, Objekte/Situationen vergleichen zu können.
  2. In einer konkreten Situation gibt es dafür aber oft andere, direktere Möglichkeiten, als den gewünschten Aspekt der Situation durch eine Zahl darzustellen.
  3. Erst wenn die zu vergleichenden Objekte/Situationen räumlich oder auch zeitlich weit voneinander getrennt sind, d.h. wenn die Kommunikation erschwert ist, erweisen sich Zahlen als das nützlichste Mittel.
  4. Damit diese Kommunikation mittels Zahlen überhaupt möglich ist, muss es immer eine Referenzgrösse geben, die beiden Parteien zugänglich ist. Das Messband erfüllt diese Aufgabe. Aber auch die Bücher könnten diese Funktion erfüllen, wenn die Schwester genügend derselben Bücherhätte, um den Stapel nachzubauen.

Den Jugendlichen wurden diese Punkte im Verlauf der Bearbeitung der vier Aufgaben auch bewusst und sie konnten nachvollziehen, dass der Kinderarzt wohl lieber von den Eltern der Kinder eine Zahl als eine entsprechend lange Schnur entgegennimmt. Zahlen kann er sich in einer Tabelle aufschreiben. Die Lagerung von hunderten von Schnüren könnte mit der Zeit unübersichtlich werden.

Es ist aber keineswegs gesagt, dass eine numerische, digitale Massangabe immer die beste und nützlichste Form ist. Beispielsweise ist es oft zielführender, etwa für die Montage eines Geräts die Position der zu bohrenden Löcher mit Hilfe einer Schablone analog anzugeben – anstatt digital mit Hilfe von X- und Y-Koordinaten.

Schablone_klein

2 (Mathematisches) Denken als Kommunizieren

Masse sind also auf bestimmte Kommunikationssituationen ausgerichtete Kommunikationsmittel. Anna Sfard hat konsequent in diese Richtung weitergedacht (Sfard, 2008). Sie beschreibt, wie man die gesamte Mathematik als „miteinander über bestimmte Tätigkeiten reden“ verstehen kann.

An der Basis steht das Zählen. Wenn jemand sagt „Das sind 5 Tafeln Schokolade“ dann erzählt er damit leicht verkürzt von folgendem Vorgang: Ich sage der Reihe nach „1“, „2“, „3“ usw. und zeige dabei bei jedem Wort auf eine andere Schokoladetafel; wenn ich auf jede Tafel genau einmal gezeigt habe, höre ich auf; das letzte, was ich gesagt habe, ist „5“. „5“ ist die Abkürzung für diese ausführlicher Erzählung. Und „3 Tafeln + 4 Tafeln = 7 Tafeln“ ist die Abkürzung für „Hier liegen zwei Haufen Schokoladetafeln. Wenn ich bei ersten Haufen der Reihe nach „1“, „2“ …. Beim zweiten Haufen … Und wenn ich beide Haufen zusammenlege, dann …“.

Auf diesen ersten Abkürzungen für einfache Zählvorgänge lassen sich dann Schicht um Schicht weitere Abkürzungen aufbauen. Um vollständig auszuschreiben, was hinter 2 x (3+4) = 2 x 3 + 2 x 4 = 6 + 8 steht, wäre schon eine ziemlich lange Erzählung notwendig. Und für a2 + b2 = c2 müsste man wohl mehre Seiten füllen. Das Geniale am ganzen Gebäude der Mathematik ist, dass man, wenn man sich an gewisse Regeln hält, mit den Abkürzungen allein schon brauchbare Geschichten erzählen kann, ohne dass man diese jedes Mal auseinander nehmen muss. Mathematik betrieben, so Sfard, ist Geschichten erzählen – und zwar so, dass all diejenigen, die sich mit dieser Art Geschichten auskennen, sie als stimmige Geschichte akzeptieren (Sfard, 2008; vgl. auch Rituale, Werkzeuge und Modelle).

Und solche Geschichten erzählt man, wenn man jemanden von etwas überzeugen will; beispielsweise davon, dass er die gewünschten 7 Tafeln Schokolade zusammenbekommt, wenn ich ihm zu seinen 4 Tafeln noch 3 weitere schenke. Hat er seine 4 Tafeln und ich meine 3 dabei, dann geht das ohne Erzählung. Wir legen sie nebeneinander und wir zählen. Schwieriger wird es hingegen, wenn seine 4 Tafeln zuhause sind. Ersatzweise zum direkten Zählen könnte ich ihm dann die Geschichte „4 + 3 = 7“ erzählen. Und wenn er sie überzeugender findet, hat sich das Problem erledigt.

3 Masse/Konzepte als Erzählungen modellieren

Masse und die damit verbundenen Konzepte kann man also als stark komprimierte, standardisierte Erzählungen verstehen. Sie wurden erfunden, um in ganz bestimmten Situationen jemanden überzeugen zu können. Mit etwas Aufwand kann man jede dieser komprimierten Erzählungen dekomprimieren – so wie das in Abschnitt 2 für „5 Tafeln Schokolade“ geschehen ist. Und anhand der dekomprimierten Erzählung kann man sich dann veranschaulichen, wann und wozu diese Erzählung gebraucht werden kann – so wie das in Abschnitt 1 für „die Höhe des Tisches“ geschehen ist. Dadurch verlieren die entsprechenden Masse ihre abstrakte Natur und werden für die Lernenden zu handlichen Instrumenten.

Am besten geht das, wenn man die entsprechende Kommunikationssituation, in der eine Person eine andere von etwas zu überzeugen versucht, ganz konkret modelliert. Der ablaufende Kommunikationsvorgang lässt sich dazu genauso gut modellieren, wie sich ein Arbeitsvorgang modellieren lässt. Vieles, was zum Modellieren von Arbeitsvorgängen gesagt wurde, gilt auch beim Modellieren von Kommunikationsvorgängen. Unter anderem macht es auch hier Sinn, die drei Welten der realen Dinge, der mathematischen Konzepte und der Berechnungsverfahren auseinander zu halten.

4 Ein Beispiel: Dachneigung in Prozent als eine Erzählung, die hilft Dächer zu vergleichen

Auch „Mein Dach hat eine Neigung von 40%“ ist eine mathematische Erzählung. Ich könnte sie beispielsweise nutzen, um jemand zu überzeugen, dass mein Dach steiler ist als sein Dach. Die Erzählung könnte auch gebraucht werden, um eine Behörde davon zu überzeugen, dass mein Dach weniger steil ist als ein bestimmtes Normdach, welches als das steilste noch erlaubte Dach gilt. Etc.

Dachneigung in Prozent braucht man also nicht einfach als abstraktes Konzept zu verstehen. Dazu wird es eigentlich erst, wenn sich Mathematiker darüber beugen und nach interessanten Eigenschaften dieses Konzepts suchen. Im beruflichen Alltag wird das Konzept aber gebraucht, ist also integraler Teil einer Kommunikationssituation: Jemand vergleicht verschiedene Dächer um sich oder andere davon zu überzeugen, dass ein Dach steiler/flacher/gleich steil ist wie ein anderes.

Wie das Beispiel illustriert, lässt sich dieser Kommunikationsvorgang modellieren. Und wie das Beispiel ebenfalls illustriert, wird dadurch erkennbar, warum das Mass Dachneigung in Prozent diese Form angenommen hat.

4.1 Ein Auftrag

Die Akteure im folgenden Beispiel sind eine Gruppe von Berufsschullehrpersonen in Ausbildung. Sie erhielten folgenden Auftrag:

Auftrag_Daecher

Zwei Personen vergleichen zwei Dächer. Modellieren Sie, wie die beiden vorgehen könnten, um sich davon zu überzeugen, dass die Behauptung stimmt. Denken Sie dabei nicht gleich an Zahlen und Rechnen, sondern versuchen Sie allgemeiner darzustellen, wie der Überzeugungsprozess aussehen könnte.

4.2 Die Welt der Dinge

(vgl. Vorgänge modellieren, Schritt 1)

Vier Zweiergruppen machten sich an die Arbeit und produzierten dazu in gut einer halben Stunde folgende Modelle.

 Fischerrute

Fischerrute_1

Fischerrute_2

Abbildung 1: Modell „Fischerrute“

Wir nehmen eine lange Latte. Dann knüpfen wir an das eine Ende ein Stück Schnur, steigen auf das eine Dach und einer von uns setzt sich auf den First. Er hält die Latte schön waagrecht und lässt die Schnur senkrecht nach unten hängen. Der andere schneidet die Schnur am unteren Ende genau dort ab, wo sie das Dach berührt. Anschliessend gehen wir zum zweiten Dach, setzen uns wieder auf den First und halten die Latte wieder waagrecht. Berührt die Schnur das zweite Dach, ist es flacher als das erste; reicht die Schnur nicht bis zum Dach (wie in Abbildung 1), dann ist das zweite Dach das steilere.

Alle Beteiligten waren sich einig, dass durch dieses Vorgehen tatsächlich die Frage geklärt werden kann, welches der Dächer das steilere ist. Eine zweite Gruppe produzierte eine ähnliches Modell, eine Art „umgedrehte Fischerrute“.

Wir gehen zusammen in den Wald und beschaffen uns einen schönen, geraden Stecken. Dann steigen wir auf den Dachboden und schieben den Stecken unter die Dachschräge bis sein äusseres Ende dort anstösst, wo Dach und Boden zusammentreffen. Wir messen am anderen Ende des Steckens, wie hoch das Dach über dem Boden ist, und begeben uns anschliessend auf den zweiten Dachboden, wo wir den Vorhang wiederholen. Das Dach, bei dem wir eine grössere Höhe messen, ist das steilere Dach.

Bierkasten

Wir nehmen einen Bierkasten und steigen auf den ersten Dachboden. Dort schieben wir den Bierkasten so weit wie möglich unter die Dachschräge. Sitzt er fest, dann messen wir, wie weit das Ende des Bierkastens noch von der Stelle weg ist, wo Dach und Boden zusammenstossen. Dasselbe Vorgehen wiederholen wir beim zweiten Dach. Dort, wo wir den Kasten weiter unter die Dachschräge schieben können, ist das steilere Dach.

Bierkasten_klein

Abbildung 2: Modell Bierkasten

Weihnachtsmann

Wir messen auf beiden Dächern ausgehend vom First dieselbe Strecke ab (vielleicht vier Meter). Dann bitten wir den Weihnachtsmann, bei beiden Dächern herunterzurutschen. Wir stoppen die Zeit, die er für die abgemessene Strecke braucht. Das Dach, bei dem er weniger lang braucht, ist das steilere.

Im Gegensatz zu den drei anderen Gruppen, die ihre (brauchbaren) Modelle ohne grosse Intervention meinerseits erstellten, verrannte sich diese Gruppe zu Beginn ein wenig. Anfänglich wollten sie den Weihnachtsmann das ganze Dach herunterrutschen lassen und die entsprechende Zeit stoppen. Sie erkannten nicht sofort, dass diese Zeit nicht nur von den Neigungen der Dächer, sondern auch von ihren Längen abhängt. Das dürfte u.a. darauf zurückzuführen sein, dass bei ihrem Modell schwieriger zu erkennen ist, was geschieht, wenn man den Vorgang tatsächlich durchspielt. Lässt man beispielsweise eine Kugel als Weihnachtsmann die beiden modellierten Dächer herunterrollen, müssen die Dächer schon ziemlich gross sein, bis die Zeitunterschiede klar erkennbar sind.

Ich schlug ihnen als Reaktion auf ihren ersten Entwurf vor, zu überlegen, was passiert, wenn man das steilere Dach doppelt so lang macht. In der Diskussion stellten sie dann bald fest, dass der exakte Zusammenhang zwischen Dachneigung, Länge und Zeit nicht ganz einfach ist. Die Gruppe wählte darauf die Lösung einer normierten Rutschstrecke.

4.3 Mathematik einbauen

(vgl. Vorgänge modellieren, Schritt 2)

Eine erste konzeptionelle Einsicht ergab sich für die Lehrpersonen spontan, als sie sich reihum gegenseitig die Modelle vorstellten. Alle hatten, um die Vergleichbarkeit zu erreichen, eine normierte Bezugsgrösse eingerichtet: Bei „Fischerrute“ ist es die Latte bzw. der Stecken, der von Dach zu Dach mitgenommen wird. Bei „Bierkasten“ ist es eben der Bierkasten, den man entweder auch mitschleppt oder bei dem man sich darauf verlässt, dass zwei identisch aussehende Kästen auch die gleichen Abmessungen haben. Und bei „Weihnachtsmann“ ist Rutschstrecke normiert. Jede Gruppe konnte bei der Modellsuche die Notwendigkeit einer solchen Bezugsgrösse erleben und sah sich dann beim Vergleich mit den anderen Modellen darin bestätigt.

Als nächstes bat ich die Gesamtgruppe zu diskutieren, welches dieser realen Modelle wohl am praktikabelsten sei. In dieser Diskussion wurde das Modell „Weihnachtsmann“ relativ schnell eliminiert – dies v.a. wegen Bedenken bei der Messgenauigkeit. Es ist beispielsweise nicht einfach sicherzustellen, dass alle Dächer gleich rutschig sind oder dass der Weihnachtsmann sich jedes Mal gleich stark abstösst. Interessiert stellen die Teilnehmenden in dieser Diskussion aber auch fest, dass es gleichgültig ist, ob man eine horizontale Länge (Länge der Fischerrute) oder eine vertikale Länge (Höhe des Bierkastens) normiert. Ebenfalls keine Rolle spielt es, ob man die Grössen unter dem Dach misst (Bierkasten und umgedrehte Fischerrute) oder über dem Dach (echte Fischerrute).

Ich versuchte dann eine Digitalisierung des Vorgehens zu provozieren. Dazu fragte ich, wie man vorgehen kann, wenn man keine Lust hat, von Dach zu Dach zu reisen und dabei noch Latten, Stecken oder Bierkasten mitzuschleppen. Obwohl ja bereits in allen Modellen (ausser der „Fischerrute“) zumindest eine Grösse digitalisiert wurde, dauerte es einen Moment, bis die zentrale Idee geboren war: Die Normobjekte durch ein Metermass ersetzen und davon ausgehen, dass beide Beteiligten über identische Messbänder verfügen. Aus Praktikabilitätsüberlegungen schieden dann „echte Fischerrute“ und „Bierkasten“ aus der Diskussion aus. Den Beteiligten schien es am praktikabelsten, im Sinne der „umgedrehten Fischerrute“ auf dem Dachboden zuerst einen Meter abzumessen und dann mit einer zweiten Messung die Höhe an dieser Stelle zu bestimmen.

Dieses zweite Mass – beispielsweise in Zentimeter – konnte man sich nun einfach per Telefon mitteilen. Seine Bedeutung ergibt sich aus dem Modell und wurde wie folgt zusammengefasst: Mein Dach steigt jeden Meter um so-und-so viele Zentimeter. Und das Dach, das pro Meter um mehr Zentimeter steigt, soll als das steilere gelten.

4.4 Rechnen

(vgl. Vorgänge modellieren, Schritt 3)

Bis zu dieser Stelle gab es keinen Grund, irgendetwas zu rechnen. Wenn zwei reale Dächer zur Verfügung stehen, brauchen sich die Beteiligten nur auf das Messprozedere zu einigen. Die aufgeworfene Frage können sie dann durch den Austausch beispielsweise der gemessenen Höhen klären. Ich bat die Teilnehmenden nun, je für sich die ursprüngliche Behauptung für die zwei dort erwähnten Dächer zu klären.

Auftrag_Daecher

Selbstverständlich hatten sie alle keine Schwierigkeiten, mit einfachen Proportionalitätsüberlegungen zu einer Antwort zu gelangen:

  • Mein Dach: 120 cm auf 4 m, also 30 cm pro 1 m.
  • Dein Dach: 160 cm auf 8 m, also 20 cm pro 1m.
  • Mein Dach ist tatsächlich steiler!

4.5 Mathematisches Modell

Im Grunde genommen konnten die Teilnehmenden bei diesem Schritt nicht einfach nur losrechnen, sondern sie mussten den mathematischen Aspekt des Modells erweitern. Mit „120 cm auf 4 m, also 30 cm pro 1 m“ werden die vier Grössen in einen proportionalen Zusammenhang gesetzt. Dieser gilt natürlich nur bei Dächern, die überall gleich steil sind. Die abgebildeten Dächer suggerieren das und die Teilnehmenden gingen wie selbstverständlich von dieser Annahme aus. Man könnte das an dieser Stelle zur Diskussion stellen, aber im konkreten Fall blieb keine Zeit dazu.

Wichtiger war es an dieser Stelle auf die eigentliche Ausgangsfrage zu kommen, wie man denn nun „30% Steigung“ zu verstehen hat. Eine Teilnehmerin fasst das so „Mit den % gebe ich im Grunde genommen an, dass ich das Ganze in cm (Höhenunterschied) und m (Horizontaldistanz) angebe, und nicht etwa in m pro m – dann wäre es ja 0.3. Ich signalisiere einfach, dass ich für die Höhe ein 100-mal feineres Mass nehme. Ich könnte auch m pro 100 m nehmen.“

Die Teilnehmenden waren sich aber an diesem Punkt einig, dass die Angabe in Prozent auf dem Bau eigentlich eine unnötige Abstraktion ist. Eine Angabe in cm Anstieg pro m Horizontaldistanz ist anschaulicher. Und rechnen lässt sich damit problemlos. Beispielsweise gilt die Regel, dass ein ebener Platz ein Gefälle von 2% haben sollte, damit das Wasser gut abläuft. Die Lernenden haben typischerweise Schwierigkeiten, zu diesen 2% einen Bezug zu entwickeln. 2 cm pro m ist hingegen einfacher zu verstehen. Und dass das bei einem Platz von 10 m Breite einen Höhenunterschied von 20 cm bedeutet, bereitet auch rechnerisch kein Problem.

Um die Nützlichkeit einer Prozent-Darstellung zu illustrieren, musste ich eine nächste Erweiterung der Kommunikationssituation vorschlagen: Im Baubüro existiert bereits ein massstabsgetreuer Plan des Daches. Der Bauherr ruft von der Baustelle an und möchte wissen, wie steil das Dach werden wird. Der Lernende im Baubüro könnte nun die relevanten Masse herausmessen und umrechnen. Ist der Plan beispielsweise im Massstab 1:50 gezeichnet, dann entsprechen 2 cm auf dem Plan 1 m auf dem Bau. Er könnte also 2 cm abmessen und an der Stelle die Dachhöhe bestimmen. 1 mm auf dem Plan entspricht 5 cm auf der Baustelle. Misst er also beispielsweise eine Höhe von 6 mm, dann sind das 30 cm auf dem Bau. Gibt er diesen Wert durch, weiss der Bauherr, woran er ist.

Fühlt sich der Lernende aber beim Umrechnen unsicher, kann er etwas ausführlicher kommunizieren und sowohl den Massstab (1:50) wie die beiden Masse (6 mm auf 2 cm) durchgeben. Das Rechnen ist dann dem Bauherrn überlassen. Dabei muss der Lernende gar nicht zwingend bei 2 cm messen. Auch wenn er dem Bauherrn mitteilt, dass auf dem Plan das Dach nach 10 cm genau 3 cm hoch ist, kann der Bauherr damit weiterarbeiten. Und das klappt sogar, wenn der Bauherr nicht weiss, in welchem Mass­­stab der Plan gezeichnet ist.

Natürlich würde der Bauherr in diesem Fall wohl vermuten, dass der Lernende die Sache nicht ganz im Griff hat. Will der Lernende das verschleiern, kann er es ganz schlau anstellen: Er übermittelt nur das Verhältnis zwischen den beiden Massen – 3 zu 10 – und drückt das auch noch in Prozent aus – 30% – damit niemand merkt, welche Strecken er gemessen hat!

Anders gesagt: Die Angabe der Dachneigung in Prozent verteilt den Rechenaufwand einigermassen gelichmässig auf Sender und Empfänger. Der Sender kodiert, was er auf seiner Seite sieht/misst, in Form einer Prozentangabe. Der Empfänger wandelt das dann wieder in für seine Seite gültige Masse um. Und das funktioniert nicht nur zwischen realen Dächern, sondern auch zwischen Plänen und Dächern, Dächern und Plänen sowie Plänen und Plänen.

Die Darstellung der Dachneigung in Form einer Prozentangabe entspricht damit dem, was die Soziologen ein Boundary Object nennen (bspw. Hoyles & Noss, 2004). Ein Boundary Object ist etwas, das auf der Grenze zwischen zwei unterschiedlichen Kontexten steht und von jeder Seite aus gesehen mit Bedeutung gefüllt werden kann. Es erlaubt so Informationen von einem Kontext zum anderen zu übertragen. Wie jedes Boundary Object ist die Dachneigung in Prozent für sich allein bedeutungslos. Sie bekommt erst Sinn in einem komplexen Netzwerk (Latour, 2008) von Praktiken und Bedürfnissen. Und in dieses Netzwerk müssen die Lernenden hineinwachsen (Lave, 1988; Lave & Wenger, 1991), bis sie mit der Angabe der Dachneigung in Prozent wirklich arbeiten können.

4.6 Und die Lernenden?

Am Schluss blieb nur noch etwas Zeit, kurz anzudiskutieren, welche Konsequenzen sich aus den gemachten Erfahrungen für die Arbeit mit den Lernenden ergeben könnten. Im Prinzip zeigten sich dabei zwei mögliche Stossrichtungen:

  • Probleme vermeiden: Man kann versuchen, konzeptionelle Probleme ganz zu vermeiden, indem man die Lernenden ermuntert, in „cm pro m“ zu denken. Dies kann beispielsweise geschehen, indem man beim Bearbeiten der Situation „Dachneigung …“ mit Hilfe der Acht Schritte bei Schritt 5 als professionelles Vorgehen vorschlägt, allfällige Neigungsangaben in Prozent immer sofort in cm pro m zu übersetzen.
  • Mathematik als Kommunikation modellieren: Sollten die Lernenden dann trotzdem noch Verständnisschwierigkeiten haben, könnte man versuchen, mit ihnen genau dieselbe Aufgabe zum „Dächer-Vergleichen“ durchzuspielen. So wie die Lehrpersonen ihre Freude daran hatten und sehr kreativ dahinter gingen, ist zu erwarten, dass sie auch die Lernenden anspricht.

5 Konzepte modellieren – eine Anleitung

Das beschriebene Beispiel illustriert, wie Modelle auch Lehrpersonen helfen können, zentrale Konzepte oder Grössen ihres Berufsfeldes durchzudenken. Es ist zu erwarten, dass dieses vertiefte Verständnis seitens der Lehrpersonen diesen helfen kann, Lernende bei Verständnisproblemen zu unterstützen. Allerdings liegen hier noch keine Erfahrungen vor.

5.1 Das Vorgehen ganz allgemein

Das Wesentliche des hier vorgeschlagenen Vorgehens lässt sich in folgenden Punkten zusammenfassen:

  • „Wie können zwei Personen sich davon überzeugen, dass …?“ als Grundfrage: Mathematische Konzepte kann man als Ãœberzeugungsinstrumente betrachten. Sie werden benutzt, um sich oder andere davon zu überzeugen, dass entweder eine von zwei Situationen die andere in einem bestimmten Punkt übertrifft, oder dass beide in diesem Punkt ununterscheidbar sind.
  • Zuerst Modellieren des Ãœberzeugungsvorgangs ohne Zahlen und Mathematik: Genauso wie beim Modellieren von Bearbeitungsvorgängen ist es wichtig, zuerst einmal den Ãœberzeugungsvorgang herauszuarbeiten, ohne schon an Rechnen und Mathematik zu denken. Die Frage ist hier: Was müssen die Beteiligten alles in welcher Reihenfolge tun, damit am Schluss alle überzeugt sind?
  • Einführung von Massen und Zahlen schrittweise durch Einführung von Randbedingungen provozieren: Gerade dank der Aufforderung „nicht an Zahlen und Mathematik zu denken“ werden die ersten Modelle meist ohne in Zahlen ausgedrückte Messgrössen auskommen. Die Nützlichkeit und den Sinn der im entsprechenden Zusammenhang üblichen Messgrössen kann man dann erlebbar machen, indem man immer mehr Auflagen an die Kommunikationssituation macht. Der Bedarf nach einer Digitalisierung der Messung wird typischerweise immer grösser, je grösser die räumliche und/oder zeitliche Distanz zwischen den beiden zu vergleichenden Situationen ist (vgl. das Beispiel mit der Tischhöhe in Abschnitt 1) und je unterschiedlicher die beiden Situationen sind (bspw. ein reales Dach und ein gezeichnetes Dach).
  • Mathematische Beziehungen klären, wo sich die Gelegenheit dafür gibt: Typischerweise schon beim ersten Modell, aber sicher dann bei der Weiterentwicklung, wird sichtbar werden, dass der Ãœberzeugungsvorgang nur funktioniert, wenn bestimmte Grössen in einem bestimmten Bezug zueinander stehen (bspw. an beiden Orten gleich hohe Bierkästen eingesetzt werden). Es ist sinnvoll, sobald solche Bezüge sichtbar werden, diese als mathematisches Modell ins reale Modell einzutragen (vgl. Vorgänge modellieren, Schritt 2).
  • Berechnungen erst am Schluss: Erst ganz am Schluss, wenn das Konzept, das man modellieren wollte, seinen Platz gefunden hat, macht das Durchrechnen konkreter Zahlenbeispiele Sinn. Auf diesem Weg kann man sich abschliessend überzeugen, wie die üblichen Berechnungsverfahren sich im Modell abbilden (vgl. Vorgänge modellieren, Schritt 3).

5.2 Quotienten-Grössen

Vermutlich lassen sich verschiedene Untertypen von Modellen für verschiedene Typen von Konzepten bzw. Massen unterscheiden. Ein solcher Untertyp sind Modelle für Quotienten-Grössen wie Steigung in Prozent, Düngeraustrag pro Hektare, Geschwindigkeit eines Autos (km/h), Dichte von Wasser (kg/dm3) etc. Diese Modelle haben mindestens folgende Eigenschaften gemeinsam, welche bewusst gemacht werden müssen:

  • Für den „Nenner“ wird eine normierte Bezugsgrösse benötigt: So wie beim „Dächer-Vergleichen“ beispielsweise derselbe Bierkasten von Haus zu Haus mitgenommen wird, braucht es immer eine Bezugsgrösse, welche in beiden Situationen mit Sicherheit identisch ist.
  • Es wird angenommen, dass sich die Grösse im „Zähler“ gleichmässig verändert: So wie beim „Dächer-Vergleichen“ angenommen wird, dass das Dach überall gleich steil ist, wird auch angenommen, dass der Düngeraustrag gleichmässig erfolgt, dass das Auto gleichmässig schnell fährt, dass das Wasser sich gleichmässig verteilt etc..

5.3 Möglichkeiten und Grenzen

Vielleicht werden zukünftige Erfahrungen zeigen, dass sich nicht alle Konzepte, welche Lernenden Schwierigkeiten bereiten, auf diese Art gewinnbringend modellieren lassen. Momentan gibt es aber keinen Grund, das zu befürchten.

Mögliche Grenzen des Einsatzes dürften eher durch den dafür notwendigen Aufwand gegeben sein. Die verschiedenen gebräuchlichen Konzepte und die damit verbundenen Überzeugungsprozesse haben alle ihre spezifischen Eigenarten. Es ist nicht zu erwarten, dass Lernende, welche einmal ein in ihrem Berufsfeld gebräuchliches Konzept modelliert haben (bspw. Dachneigung in Prozent), die gewonnen Erkenntnisse ohne weiteres für das Verständnis anderer Konzepte (bspw. Dichte von Baumaterialien) nutzen können. Vermutlich müssen sie jedes relevante Konzept separat durchspielen, um je das dafür notwendige Verständnis zu erwerben. Und es ist auch nicht zu erwarten, dass die Lehrpersonen, wenn sie mit ihren Lernenden einmal auf diese Art ein Konzept erarbeitet haben, ohne weitere Vorbereitung die Arbeit an anderen Konzepten aufnehmen können. Jede Lehrperson wird daher jedes Konzept separat zuerst für sich aufarbeiten müssen.

Wie gross dieser Aufwand ist, hängt natürlich vom Berufsfeld ab, bzw. wie „mathematiklastig“ dieses ist, wie viele solcher Konzepte dort eine Rolle spielen. Sofern es mehr als zwei, drei sind, dürfte der Aufwand zu gross werden, als dass er im normalen Fachkundeunterricht integriert werden kann. Daher ist es wichtig, dieses Vorgehen nicht präventiv einzusetzen und mit den Lernenden einfach einmal als „Grundlage“ alle relevanten Konzepte durchzuarbeiten. Sinnvoller ist es, die Bearbeitung von Berechnungssituationen über die Acht Schritte zu behandeln und die relevanten Konzepte bei Schritt 5 im Gebrauch einzuführen. Nur wenn dann die Lernenden immer noch hartnäckig Verständnisschwierigkeiten haben, ist eine Klärung via Modellieren wirklich angezeigt.

6 Zitierte Literatur

  • Hoyles, C., & Noss, R. (2004). Situated abstraction: mathematical understandings at the boundary. Paper presented at the ICME-10, Kopenhagen.
  • Johnston, B., Baynham, M., Kelly, S., Barlow, K., & Marks, G. (1997). Numeracy in Practice. Effective Pedagogy in Numeracy for Unemployed Young People. Sydney: Centre for Language and Literacy, University of Technology.
  • Latour, B. (2008). Wir sind nie modern gewesen (Vol. 1861). Frankfurt a.M.: Suhrcamp.
  • Lave, J. (1988). Cognition in practice. Mind, mathematics and culture in everyday life. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Lave, J., & Wenger, E. (1991). Situated Learning. Legitimate peripheral participation. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Sfard, A. (2008). Thinking as communicating: human development, the growth of discourses, and mathematizing. Cambridge: Cambridge University Press.

 7 Anhang: Analoges Rechnen

Wie angemerkt, ist es nicht immer zielführender, Grössen digital als Zahlen anzugeben. Das Beispiel der Montageschablone illustriert das.

Aber sogar die Verarbeitung analoger Daten ist manchmal einfacher und schneller: Möchte man beispielsweise hundert kleinere Gegenständen nach ihrer Länge sortieren, kann man ihre Längen „messen“, indem man hundert rohe Spaghetti entsprechend kürzt und so markiert, dass klar ist, welche Spaghetti welchem Gegenstand entspricht. Nimmt man dann alle Spaghetti in eine Hand und stellt sie zusammen auf die Tischplatte, ist sofort sichtbar, welcher Gegenstand der längste ist, welcher der zweitlängste etc. Das geht deutlich schneller, als wenn man jeden Gegenstand mit einem Messband misst, diese Masse in eine geeignete Tabelle einträgt und dann diese Zahlen sortiert.

Vgl. dazu den Artikel Analogrechner auf Wikipedia. (Die englische Version ist wesentlich ausführlicher.)

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