Alltagsbegriffe und wissenschaftliche Begriffe bei Vygotskij

Wissenschaftliche Begriffe
Entstehen nicht spontan
Werden im Unterricht gelehrt/gelernt
Stärke: Abstraktes, logisches Operieren
Schwäche: Verbindung zu konkreten Erfahrungen
.
„Die Analyse des wissenschaftlichen Begriffs dagegen
überzeugt uns davon, dass sich das Kind anfänglich 
des Begriffs weit besser bewusst ist als des darin 
repräsentierten Gegenstands.“ (S. 344)
Alltagsbegriffe
Entstehen Spontan
Entwickeln sich aus dem alltäglichen Gebrauch heraus
Stärke: Brauchbar als Werkzeug im Alltag
Schwäche: Zu stark mit konkreten Erfahrungen verbunden, 
als dass rein logisches darüber nachdenken möglich ist.
.
„Die Analyse spontaner kindlicher Begriffe überzeugt 
uns davon, dass sich das Kind des Gegenstands in 
wesentlich stärkerem Maße als des Begriffs bewusst 
geworden ist.“ (s. 344)

Abbildung 1: Vygotskijs Unterscheidung zweier Arten von Begriffen

Quelle: Vygotskij, L.S. (2002, 1934) Denken und Sprechen. Weinheim und Basel: Beltz (vor allem Kapitel 6: „Untersuchung der Entwicklung wissenschaftlicher Begriffe im Kindesalter“, S. 251-386)

Im Idealfall entwickeln sich die beiden Arten von Begriffen einander „entgegen“ und treffen sich. „Ein spontaner Begriff entsteht gewöhnlich dadurch, dass das Kind mit Dingen konfrontiert wird, die zwar gleichzeitig von Erwachsenen erklärt werden, aber eben doch reale Dinge sind. Und nur über einen langen Entwicklungsweg wird sich das Kind des Gegenstands und des Begriffs selbst bewusst und wird zu abstrakten Operationen mit ihm fähig. Die Entstehung eines wissenschaftlichen Begriffs beginnt dagegen nicht mit einer unmittelbaren Konfrontation mit Dingen, sondern mit einer vermittelten Beziehung zum Objekt. Wenn das Kind dort vom Ding zum Begriff geht, so ist es hier oft gezwungen, den entgegengesetzten Weg zu gehen – vom Begriff zum Ding. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Stärke der einen Begriffsart die schwache Seite der anderen ist.“ (S. 345)

Vygotskij spricht von „Begriffen“, ein Begriff (!), der so im IML nicht vorkommt. Für Vygotskij hat ein Begriff in den Strukturen des IML ausgedrückt eindeutig eine deklarative und eine situative Komponente. Die beiden Arten von Begriffe, die er unterscheidet, unterschieden sich zuerst vor allem einmal, auf welche Art sie entstehen. Wissenschaftliche Begriffe werden im Unterricht erworben, vermittelt durch eine Lehrperson, welche den Begriff sprachlich einführt. Wissenschaftliche Begriffe sind von Anfang an in ein Netz anderer Begriffe eingebunden. Sie können nur so eingeführt und verstanden werden. Beispiele bei Vygotskij: „Leibeigenschaft“, „Kapitalist“, „das Gesetzt des Archimedes“ etc.

Alltagsbegriffe kommen aus der Erfahrung, entstehen im alltäglichen Gebrauch. Sie haben aber auch eine deklarative Komponente, die mitgelernt wird: „Ein spontaner Begriff entsteht gewöhnlich dadurch, dass das Kind mit Dingen konfrontiert wird, die zwar gleichzeitig von Erwachsenen erklärt werden, aber eben doch reale Dinge sind.“ – wie „Rose“, „Bruder“, „Stuhl“ etc. D.h. durch die Erwachsenen wird ein deklaratives Wissensstück mitgeliefert, das als Beschreibung der situativen Erfahrung dienen kann.

Alltagsbegriffe sind von Anfang an mit Erfahrungen verbunden, aber eben so eng, dass man damit nicht viel anderes machen kann, als sich ihrer in ganz konkreten Situationen zu bedienen, wie etwa in : „Ist dieser Stuhl frei?“ Zu rein logischen Überlegungen eignen sie sich zumindest zu Beginn noch nicht. Aufgaben wie die folgende werden erst behandelbar, wenn der Alltagsbegriff durch Abstraktion von der konkreten Erfahrung an „Willkürlichkeit“ gewinnt: „Wir sind zwei Kinder. Wer ist der Bruder meines Bruders?“

Umgekehrt geht es mit den wissenschaftlichen Begriffen. Logische Überlegungen aus den Begriffsdefinitionen heraus sind von Anfang an möglich: „Die Leibeignen sind im Besitz des Gutsbesitzers. Der Gutsbesitzer ist folglich ihr …“ Hingegen hätten die von Vygotskij untersuchten Kinder, welche soeben die Definition von „Leibeigener“ gelernt haben, wohl Mühe, einen solche zu erkennen, sollten sie ihm denn begegnen. Dazu muss sich der abstrakte Begriff zuerst mit konkreten Erfahrungen verbinden, wobei dieser Vorgang gleichzeitig strukturierend auf das situative Wissen auswirkt.

Eine Interpretation von Vygotskijs Konzepten ist im Rahmen des IML also möglich. Begriffe sind Wissenspakete, welche mindestens deklarative und situative Komponenten enthalten. Bei wissenschaftlichen Begriffen, ist der situative Anteil zu Beginn klein. Ihre Bildung wird durch eine Instruktion angestossen, die verstanden werden muss. Alltagsbegriffe entstehen aus gesammelten Erfahrungen heraus und haben zu Beginn einen sehr kleinen deklarativen Anteil. Wenn sie sich von diesem Punkt aus weiter entwickeln, dann entwickeln Alltagsbegriffe vor allem über das Durcharbeiten ihres deklarativen Anteils, in dem dieser sich von konkreten Erfahrungen löst, mit anderen Begriffen vernetzt wird und „willkürlicher“ gebraucht werden kann. Wissenschaftliche Begriffe hingegen erweitern in einem Entwicklungsprozess ihren situativen Anteil durch Situieren, binden immer mehr konkrete Erfahrungen unter sich ein. Idealerweise treffen sich die beiden Entwicklungslinien und befruchten sich gegenseitig: „Wissenschaftliche Begriffe wachsen durch die Alltagsbegriffe nach unten, Alltagsbegriffe durch die wissenschaftlichen nach oben.“ (S. 347) Vigotskij

Abbildung 2: Vygotskijs Begriffsentwicklung über das IML gelegt.

Die Grundmechanismen, die Vygotskij postuliert, sind also im IML angelegt. Und auch das Zusammenspiel von deklarativem Wissen und situativem Wissen beim Lernen ist im IML thematisiert. Interessant über das hinaus, was im IML schon explizit angesprochen ist, scheinen mir die zwei Entwicklungslinien von oben und von unten:

Von oben nach unten: Es leuchtet sofort ein, dass die Situierung eines neuen, abstrakten Begriffs einfacher ist, wenn schon „von unten“ (oder woher auch immer) gut situierte Begriffe gewachsen sind, zu denen der neue Begriff von oben leicht Kontakt aufnehmen kann. Hat man schon eine gut situierte Vorstellung der natürlichen Zahlen und der Bruchzahlen, dann ist es einfacher, sofort konkrete Vorstellungen zu entwickeln, wenn man hört: „Alle das sind Zahlen. Was du schon kennst sind einfach spezielle Arten von Zahlen. Und es gibt noch mehr solche Arten.“

Vygotskij gelingt es mit dieser Vorstellung auch das Konzept der Zone der nächsten Entwicklung zu konkretisieren. Sie ist der Bereich „oberhalb“ der aktuell gut situierten Begriffe, innerhalb dem eine Hilfestellung genügt, um einen neuen Begriff zu den vorhandenen Kontakt machen zu lassen. (S. 347f)

Von unten nach oben: Nicht in allen Punkten überzeugend scheint mir dagegen seine Darstellung, wie die abstrakte Einführung wissenschaftlicher Begriffe die Entwicklung der Alltagsbegriffe fördert. Ist das so zu verstehen, wie gerade für die Zone der nächsten Entwicklung beschrieben, dann ist das nachvollziehbar. Die Einführung des wissenschaftlichen Begriffs „Zahl“ in dieser Zone lässt die natürlichen Zahlen in einem neuen Licht erschienen. Man kann etwa beginnen, sich über die speziellen Eigenschaften verschiedener Zahlenarten Gedanken zu machen.

Vygotskijs Beispiele sind aber nicht immer von dieser Art. Sie hinterlassen den Eindruck, dass er es durchaus sinnvoll findet, Kindern in den ersten vier Schuljahren wissenschaftliche Begriffe wie „Klassenkampf“ zu vermitteln und dann darauf hinzuarbeiten, dass sich in einem langen Prozess diese mit Alltagsbegriffen treffen. Noch deutlicher ist diese Haltung zu spüren, wenn er mehrfach ausgiebig die Analogie Muttersprache/Alltagsbegriffe und wissenschaftliche Begriffe/Fremdsprache bemüht und dabei davon ausgeht, dass die Fremdsprache „schulmässig“ vermittelt wird, d.h. zuerst Grammatik und Vokabeln büffeln. Er deutet in diesem Zusammenhang an, dass das Erlernen von und das Spielen mit abstrakten Begriffen eine Struktur vorbereitet, in welche dann die Alltagsbegriffe hineinwachsen und argumentiert damit gegen Thorndike für die Möglichkeit formaler Bildung (S. 325). Ich denke, sofern das überhaupt möglich ist, dann wäre das zumindest äusserst inneffizient. Im Beispiel oben würde das etwa bedeuten, dass man den Lernenden die Axiome algebraischer Gruppen und Ringe beibringt und abstrakte Übungen damit anstellt, so dass der Alltagsbegriff der natürlichen Zahlen eine Struktur findet, in die er hineinwachsen kann.