Situatives System

Inhalte: Bausteine des situativen Systems sind Erinnerungen an selbst erlebte Situationen. Diese Erinnerungen sind konkret und detailreich (Töne, Bilder, Gerüche …). Auch Emotionen gehören dazu, die dazu beitragen, ob die Erinnerung an eine Situation als positiv oder negativ erlebt wird.

Gedächtnisorganisation: Die erinnerten Situationen sind in einem dichten Netz miteinander verwoben. Denken man an eine dieser Situationen, so kommen sogleich andere, ähnliche Situationen in den Sinn. Die Kriterien, nach denen erinnerte Situationen als ähnlich wahrgenommen werden, können sich verändern, so dass je nach Umständen eine Erinnerung unterschiedlich andere Erinnerungen nach sich zieht.

Funktionsweise: Steht man einer konkreten Situation gegenüber, in der man aktiv werden sollte, kommt sofort eine andere, verwandte Situation in den Sinn, an die man sich erinnert. Diese Erinnerung löst weitere Erinnerungen an Situationen aus, in denen ähnliche Aufgaben zu bewältigen waren. Aus dem, was in all diesen erinnerten Situationen jeweils getan wurde und daraus, was sich davon als sinnvoll und was als weniger gut erwiesen hat, ergibt sich dann die Lösung für die aktuelle Situation. Man macht – nach Bedarf etwas abgewandelt – das, was sich in ähnlichen Situationen schon bewährt hat. Dabei versucht man Probleme zu vermeiden, die bei früheren, verwandten Situationen aufgetreten sind.

Beispielweise könnte jemand eine kleine Seilbahn bauen wollen, die vom Fusse eines Baumes zu einem Fenster im zweiten Stock eines Hauses führt (rechte Situation in der Graphik unten). Diese Person hat eine ähnliche Situation schon einmal erlebt, als sie mit Hilfe eines Brettes eine Rutschbahn anlegen wollte. Diese Rutschbahn sollte von einer kleinen Mauer bis zu einem fest im Boden verankerten Stein als Stütze führen. Damals berechnete die Person aus der Distanz zwischen Mauer und Stein und der Höhe der Mauer voller Begeisterung mittels Pythagoras die genaue Länge des Brettes. Leider erwies sich dies nicht als optimal, denn das Brett reichte nur genau bis zu Kante der Mauer. Es war zu kurz, als dass man es sicher oben auf der Mauer hätte abstützen können. Ein zweites, etwas längeres Brett musste organisiert werden.

Die Graphik lässt sich durch Anklicken vergrössern.

Beim Bau der Seilbahn kommt der Person nun die Erfahrung mit der Rutschbahn in den Sinn. Dieses Wissen hilft in zweierlei Hinsicht. Einmal gibt es die Sicherheit, dass der Satz des Pythagoras in dieser Situation hilfreich ist. Zum zweiten führt die Erinnerung an die schmerzliche Erfahrung mit dem zu kurzen Brett aber auch dazu, dass die Person kurz überlegt, ob hier etwas ähnliches geschehen könnte und zum Schluss kommt, dass das tatsächlich der Fall sein dürfte, da das Seil ja nicht nur bis aussen ans Fenster, sondern bis zum Umlenkrolle im Innern des Zimmers reichen muss.

Lernprozesse: Neues Wissen gelang ins situativ-episodisches System ganz einfach dadurch, dass man eine neue Situation erlebt. Dieser Prozess läuft andauernd, ist mit praktisch keinen wahrnehmbaren Aufwand verbunden und kann innert kürzester Zeit erstaunlich viele Details im Gedächtnis ablagern. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Erinnerungen je verloren gehen. Es kann nur geschehen dass sie nie mehr oder eventuell erst nach vielen Jahren wieder ins Bewusstsein kommen. Es scheint aber so, dass sich Erinnerungen gerade durch das Erinnern verändern können, als würde das Original beim Erinnern durch eine veränderte Kopie überschrieben.

Erfahrungen kann man nur selbst machen. Allenfalls können gelegentlich gut erzählte Geschichten als eine Art Ersatzerfahrung dienen. Eine Voraussetzung dafür scheint zu sein, dass die Geschichten emotional miterlebt werden.

Die Verbindungen zwischen Erfahrungen, d.h. wie leicht eine zweite Erfahrung ausgehend von einer ersten erinnert wird, sind veränderbar. Verbindungen zwischen Erfahrungen, welche gleichzeitig präsent sind, werden gestärkt.

Texte als pdf

  • Der Tacit Knowing View: Ein Versuch auf verschiedene Fragen einzugehen, die Neuweg G.H. (2005) Der Tacit Knowing View. Konturen eines Forschungsprogramms. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 1001(4): 557-573. aufwirft.