Wünsche an die Sekundarstufe I

1    Mathematik gebrauchen

pdf Sven Basendowski hat in seinen Untersuchungen zur Relevanz mathematischer Kompetenzen im beruflichen Umfeld (Basendowski 2013) eine nützliche Unterscheidung eingeführt. Er unterscheidet zwischen:

  • Mathematik betreiben
  • Mathematik anwenden
  • Mathematik gebrauchen

Mathematik betreiben vor allem Mathematiker und Mathematikerinnen. In den allgemeinbildenden Schulen versucht man den Lernenden ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie spannend das sein kann und wie viel Spass das machen kann. Bspw. ist es so, dass wenn man mit 1 beginnt und immer grössere ungerade Zahlen dazu addiert, jede dieser Summen eine Quadratzahl ist: 1 = 12; 1 +3 = 4 = 22; 1 + 3 + 5 = 9 = 32; usw. Zu untersuchen, warum das so ist, ist Mathematik betreiben.

Mathematik anwenden, das machen Lernende in der Schule, wenn sie zu Ãœbungszwecken Textaufgaben lösen, wie etwa die folgende Aufgabe: Der Schacht eines Bergwerks geht senkrecht nach unten bis auf 300m unter Meereshöhe; der Eingang zum Schacht liegt auf 100m über Meer; wie lange muss das Seil für den Grubenaufzug sein, damit es bis ganz nach unten reicht? Gute Lernende wissen, dass das eine Ãœbung im Umgang mit negativen Zahlen ist, dass man 100m – (-300m) rechnen soll und dass das gesuchte Resultat exakt 400m ist.

Mathematik gebrauchen, das haben Uwe und Anton versucht, die im Rahmen einer Untersuchung diese Aufgabe zur Seillänge zu lösen hatten und daran scheiterten. Sie haben sich in eine Diskussion darüber verstrickt, ob die Tatsache, dass der Aufzug ja oben ganz aus dem Schacht herauskommen muss, damit man ein- und aussteigen kann, bei der Berechnung berücksichtigt werden muss. Sie haben versucht herauszufinden, wie lange das Seil tatsächlich sein muss, wenn man es real einsetzen möchte.

Die Diskussion, welche Uwe und Anton geführt haben, ist typisch dafür, wenn es darum geht, Mathematik zu gebrauchen. Bezüglich der Differenz zwischen -300 und +100 liefert zwar die Mathematik ein eindeutiges Resultat. Gebrauchen kann man dieses Resultat aber nur, wenn man je nach Gebrauchssituation verschiedenste Zusatzüberlegungen anstellt: Oben muss der Aufzug ganz aus dem Schacht heraus, richtig! Aber das Seil ist ja am Deckel der Aufzugskabine angemacht, muss also nicht ganz bis zum Grund des Schachtes reichen, das kompensiert sich! Ja, aber es könnte sein, dass die Rolle, auf der das Seil aufgewickelt ist, so angebracht ist, dass noch etwas freies Seil bleibt, wenn der Aufzug oben stoppt! Zudem braucht es etwas zusätzliches Seil um dieses sowohl an der Kabine wie an der Rolle festzumachen! Sicher, aber das Seil wird durch das Gewicht der Kabine etwas gedehnt, braucht also aufgewickelt nicht ganz so lang zu sein! …

Beim Mathematik gebrauchen sind Erfahrungen mit der Gebrauchssituation von zentraler Bedeutung, die einzuschätzen erlauben, wie ein „mathematisches“ Resultat im Kontext interpretiert werden muss. Darüber hinaus braucht es weiter die Sicherheit, dass man sich auf die Resultate der Mathematik – richtig interpretiert – verlassen kann. Dazu auch ein Beispiel:

Kleine Kinder zählen beim Rechnen. Ein ganz wichtiger Schritt bei der mathematischen Kompetenzentwicklung ist, dass sie über diese Phase hinauskommen. Sie müssen sich Zahlenfakten merken, ein Zahlenverständnis entwickeln etc. Viele Erwachsene, v.a. wenn sie Lehrinnen oder Lehrer sind, haben diesen Schritt selbstverständlich gemacht. Wenn Lehrpersonen aber an eine Weiterbildung gehen, die bspw. vom 2. März bis zum 7. März dauert, ermitteln alle die Anzahl der zu buchenden Übernachtungen zählenderweise – mittels der Finger oder durch Abzählen in der Agenda. Dabei wäre das Resultat durch eine einfache Subtraktion zu haben: 7 – 2 = 5. Praktisch jedermann (mir auch) fehlt das Vertrauen darin, dass das wirklich funktioniert.

In anderen Situationen, wie etwa, wenn ich von 7 Gummibärchen 2 esse, ist dieses Vertrauen da, ist die Fertigkeit zu subtrahieren über Vorstellungen und Erfahrungen fest in der Situation verankert. Um im Kontext Übernachtungen buchen auch sicher mit Subtraktionen zu operieren, müssten diese zuerst auch hier verankert, situiert werden (vgl. Wissensaufbau von den Füssen her).

2     Ressourcen und Situierte Kompetenzen

Handlungskompetenzen im Sinne des sicheren Gebrauchs von Mathematik im berufliche wie auch im alltäglichen Kontext, sind Situierte Kompetenzen. Das benötigte Wissen besteht einerseits aus Ressourcen, d.h. theoretische Konzepte aber auch praktische Fertigkeiten, wie etwa die Fertigkeit 100m – (-300m) zu berechnen. Andererseits umfasst es Erfahrungen mit dem Gebrauchskontext, welche es erlauben, diese Ressourcen situationsgerecht einzusetzen.

Etwas plakativ kann man daraus eine Arbeitsteilung der verschiedenen Schulstufen ableiten:

  • Schule bis und mit Sekundarstufe I: Aufbau von Ressourcen
  • Berufsbildung: Situierung der Ressourcen im beruflichen Kontext

(vgl. auch Wissen aufbauen)

2.1 Schulmathematik: Aufbau von Ressourcen

Mit etwa fünf Lektionen Fachkunde pro Woche, in denen das gesamte für einen Beruf relevante Fachwissen behandelt wird, kann die Berufsbildung kaum neue mathematische Ressourcen aufbauen. Sie muss darauf bauen können, dass diese in den ersten neun Schuljahren erworben werden (vgl. Abschnitt 3 unten zur Frage, welche Ressourcen gefragt sind).

Ressourcen, das sind einerseits Konzepte wie ein elaboriertes Zahlenverständnis oder ein Verständnis proportionaler Zusammenhänge. Andererseits geht es dabei aber auch um Fertigkeiten wie das Durchführen von Berechnungen oder die Darstellung von Zusammenhängen mit Hilfe symbolischer Mittel.

Ressourcen kann man nicht im luftleeren Raum erwerben. Hier erhält das, was Basendowski (2013) mit Mathematik anwenden meint, seine Bedeutung. In der Terminologie des IML geht es dabei v.a. um die Lernbausteine Durcharbeiten, Prozeduralisieren und Optimieren. Sie arbeiten alle mit Beispielen und Aufgaben, bei denen die zu erwerbenden Ressourcen „wörtlich“ angewendet werden können. Halbschriftliches Rechnen zu üben ist bspw. nur dann sinnvoll möglich, wenn die dazu verwendeten Aufgaben tatsächlich genau mit dem Vorgehen, das geübt werden soll, gelöst werden können.

Aufgaben wie die oben erwähnte zur Länge des Aufzugsseils sind in diesem Zusammenhang gefährlich. Starke (bildungsnahe) Lernende werden sie korrekt als eine Aufforderung verstehen, Mathematik anzuwenden, und die Details ignorieren, die Uwe und Anton diskutieren.  „Schwächere“ Lernende, welche die Absicht hinter der Aufgabe nicht erkennen, können dagegen in Versuchung geraten, die Mathematik gebrauchen zu wollen und scheitern am Lernziel des Ressourcenaufbaus, da in den meisten Fällen beim Mathematik gebrauchen die Ressourcen nicht „wörtlich“ verwendet werden können.

2.2 Berufsmathematik: Gebrauch von Ressourcen

Sind die notwendigen Ressourcen vorhanden, dann besteht die Aufgabe der Berufsbildung, den Lernenden zu helfen, diese Ressourcen in den für sie neuen beruflichen Kontexten zu situieren. Dazu haben wir ein geeignetes didaktisches Instrumentarium entwickelt (vgl. Abschnitt 4 unten; aber auch Didaktisches Grundmodell). Als Lehrpersonen sind daher nicht Mathematikerinnen oder Mathematikdidaktiker gefragt, sondern erfahrene Fachpersonen, welche die verschiedenen Gebrauchssituationen und ihre Eigenarten genau kennen.

Die im beruflichen Kontext benötigten Ressourcen sollten bei den Lernenden eigentlich vorhanden sein, da kaum etwas benötigt wird, was über den Stoff der siebten Klasse hinausgeht (Heymann 1996; Smith 1999). Unsere eigenen Erfahrungen zeigen, dass dies tatsächlich auch der Fall ist (bspw. Eintrittstests und situiertes Lernen).

Die überall und immer wieder zu hörende Klage, dass die Lernenden beim Eintritt in die Berufsbildung nicht rechnen können, dürfte eine Folge unerfüllbarer Erwartungen sein. Verschiedene die Akteure in der Berufsbildung erwarten fälschlicherweise, dass die Lernenden ohne weiteres die vorhandenen Ressourcen auch in den neuen, ihnen unvertrauten Kontexten des Berufslebens einsetzen können, was grundsätzlich nicht möglich ist.

3     Wunsch 1: Zentrale Ressourcen

Es existieren zwar verschiedene Zusammenstellungen dazu, welche Ressourcen im Berufsschulunterricht zur Anwendung gelangen (bspw. Stiftung Rechnen 2015, oder Kompetenzenraster Mathematik des Berfufsbildungszentrums IDM)

Leider findet man aber keine gut abgesicherte Zusammenstellung der mathematischen Ressourcen, welche in der berufliche Praxis gebraucht werden. Es dürfte auch nicht ganz einfach sein, eine solche erarbeiten, da die verschiedenen Berufe unterschiedliche Anforderungen stellen. Im Prinzip liegt hier ein Forschungsgebiet brach, das dringend seiner Bearbeitung harrt.

Als Basis für eine Einschätzung dienen hier ersatzweise Erfahrungen, die im Zusammenhang mit verschiedenen Projekten und unterschiedlichen Berufen gewonnen wurden (vgl. Beispiele). Folgende Ressourcen dürften vor allem gebraucht werden:

  1. Wertetabellen und Graphiken
  2. Proportionalität (auch indirekte)
  3. Angaben relativ zu einer Bezugsgrösse ausgedrückt in % (und auch ‰)
  4. Messungen
  5. „Konzentrationen“ (wie „kg Dünger pro ha“, „2.50 Fr pro Kilo“, „60 km pro h“, „6 l pro 100 km“, „1 kg pro dm3“ etc.)
  6. Zeit
  7. Häufigkeitsverteilungen
  8. Geometrische Darstellungen als Pläne (2D und 3D)
  9. Alphanumerische Codes
  10. Flächen und Volumen
  11. Winkel

Die Ressourcen sind hier grob ihrer Bedeutung nach absteigend geordnet. Einige Anmerkungen zu den einzelnen Punkten:

Häufiger als dass sie berechnet werden, werden benötigte Werte in Wertetabellen nachgeschlagen. Manchmal werden sie auch aus entsprechenden Graphiken herausgelesen. Die verwendeten Tabellen sind oft sehr unübersichtlich organisiert und nicht einfach zu lesen. Es ist allerdings zu erwarten, dass mit zunehmender Digitalisierung solche Wertetabellen zunehmend verschwinden werden, so wie der Taschenrechner längst die Logarithmentafel ersetzt hat.

So gut wie immer, wenn im beruflichen Alltag Berechnungen anfallen, geht es um einfache Proportionalität: „Wenn ich doppelt so viele Gäste habe, brauche ich doppelt so viel Reis“, „Wenn das Strassenstück halb so lange ist, benötigen wir halb so viel Belagsmaterial“ etc. Vor allem, wenn naturwissenschaftliche Grundlagen eine Rolle spielen, tritt auch indirekte Proportionalität auf, da sehr viele naturwissenschaftliche Grundgesetze ähnlich wie „U = R × I“ drei Grössen in einen Zusammenhang stellen: „Wenn die Spannung (U) gleich bleibt und ich den Strom (I) halbieren will, muss ich den Widerstand (R) verdoppeln“.

Sehr häufig findet man auch, dass Angaben zu einer Grösse relativ zu einer Bezugsgrösse gemacht werden müssen, und dass diese Angaben in Prozent oder Promille ausgedrückt werden. Naheliegend sind Beispiele wie „Ein vollfetter Käse enthält 50% Fett in der Trockenmasse“. In diesem häufigsten Fall In den Beispielen liegt der Prozentsatz immer zwischen 0% und 100% und das, was mit dem Prozentwert gemessen wird (die Menge Fett), ist immer ein echter Teil dessen, was mit dem Grundwert gemessen wird (die Trockenmasse). Es gibt aber auch andere Arten des Bezugs. Am geläufigsten ist die Angabe von Steigungen in % oder auch ‰. Hier ist der Höhenunterschied (Prozentwert) keineswegs ein „Teil“ der horizontalen Distanz (dem Grundwert). Ein weniger bekanntes Beispiel wären die „Bäckerprozente“: In professionellen Brotrezepten werden die Zutaten in % relativ zur Mehlmenge angegeben (also beispielsweise 76% Wasser). Der fertige Teig ist typischerweise etwa 180%.

Ebenfalls häufig findet man Angaben der Form „X pro Y“. Bäuerinnen fahren mit dem Ziel über das Feld 50 kg Nährstoff pro ha auszutragen. Reinigungsangestellte verwenden 200ml konzentriertes Reinigungsmittel auf 5 Liter Wasser etc. Diese Verhältnisangaben bieten zwei Schwierigkeiten: Werden sie mit einem „Bruchstrich“ notiert, wie „60 km/h“, sind die Lernenden in Versuchung, das Ganze als „Bruch“ zu interpretieren. h wird zum Nenner. Und 60 km? Die zweite Schwierigkeit liegt darin, dass solche Angaben fiktional sind „Wenn ich genau eine Stunde lang fahren würde, würde ich genau 60 km weit fahren“. Diese Interpretation fällt nicht allen Lernenden leicht, wie das Beispiel eines jungen Agrarpraktikers zeigt: Nachdem er Dünger auf einem Feld von 1/2 ha Fläche ausgetragen hat, stellt er fest, dass er ca. 25 kg Nährstoff verteilt hat und rechnet dann richtig aus, dass er 50 kg/ha ausgetragen hat. Seine Reaktion: „Ja, aber ich habe doch nur 25 kg verbraucht, das waren keine 50 kg!“

Liegen die Angaben wie bspw. der Durchmesser einer Schraube oder das Gewicht einer Packung Mehl nicht schon vor, müssen die benötigten Werte durch eine Messung ermittelt werden. Dabei spielen neben der reinen Fertigkeit, das entsprechende Messgerät bedienen zu können, auch bspw. Überlegungen zur Auswirkung von Fehlerfortpflanzungen eine Rolle: Wie genau wir meine Messung sein, wenn ich 20m abmesse, indem ich 10 mal hintereinander einen Doppelmeter abtrage?

In vielen Berufen spielt die Zeitplanung für grössere oder kleinere Arbeitsabschnitte eine Rolle. In der Küche: Wann muss der Braten in den Ofen, damit er rechtzeitig für das Mittagsmenü bereit ist? In der spitalexternen Pflege: Wie teile ich mir meinen Nachmittag ein, so dass ich alle Klienten bedient habe und auch noch die anderen anfallenden Arbeiten erledigen kann? Etc. Diese Planungsaufgaben können sehr anspruchsvoll sein, vor allem, wenn es darum geht bei knappen Ressourcen Abläufe zu optimieren. Eine Art relative Zeitplanung findet man auch häufig in Form von Ablaufdiagrammen wie Flussdiagrammen etc. Diese treten entweder im Zusammenhang mit Anlagesteuerungen auf oder dann als „Prozessbeschreibungen“ in unterdessen allgegenwärtigen Qualitätssicherungssystemen.

Häufigkeitsverteilungen treten im beruflichen Kontext typischerweise der Form von Statistiken im Rahmen der Qualitätssicherung in grösseren Betrieben auf: „Von 100 Teilen waren im Schnitt 2 defekt.“ „Die mittlere Antwortzeit bei telefonischen Anfragen war 47.8 Sekunden mit einer Standardabweichung von 8.9 Sekunden“. Solche Statistiken müssen in den meisten Fällen nicht selbst erstellt werden, sondern werden von automatischen Systemen oder von Experten generiert. Im Rahmen der Qualitätssicherung wird aber auch von relativ gering qualifizierten Mitarbeitenden erwartet, dass sie daraus Schlüsse für ihre Arbeit ziehen können. Ebenfalls häufig ist die Verwendung solcher Verteilungen als Normen „Der ideale Blutdruck liegt bei 120 mit einer Spannweite von +/- 20“, „Die Bolzen müssen einen Durchmesser von 1.8mm haben, Standardabweichung 0.05mm“. Auch hier gilt es Schlüsse zu ziehen, wie etwa bezüglich der Frage „Ist ein einzelner Messwert ausserhalb der Spannweite schon ein Alarmzeichen?“

In allen technischen und baugewerblichen Berufen müssen Pläne gelesen und (zumindest als Skizzen) Pläne gezeichnet werden. Auf den allermeisten Plänen findet man nur Rechtecke und Kreise. Andere Formen kommen selten vor. Die Herausforderung im Umgang mit Plänen besteht einerseits darin, sich das Abgebildete räumlich vorstellen zu können, und andererseits darin, Längen und Koordinaten abzuleiten, die nicht direkt angegeben sind.

Erstaunlich häufig kommen alphanumerische Codes wie bspw. „Zimmer <S 2 011>“ vor, die entziffert werden müssen. Die Zahlen und auch die Buchstaben können dabei eine räumliche Bedeutung haben, wie hier bei der Zimmernummer. Sie können aber auch klassifikatorischer Natur sein und bspw. Hinweise auf Produktegruppen und damit auf Mengenbeziehungen liefern.

Vor allem im Baugewerbe müssen Flächen und Volumen berechnet werden. Wie gross ist die Fläche des Vorplatzes, der mit einem Belag versehen werden muss? Wie viel m2 Aushub fallen bei der Baugrube für dieses Haus an? Die Flächen sind meist gradlinig begrenzt und lassen sich leicht in Rechtecke und Dreiecke zerlegen. Allenfalls kommen noch Kreissegmente dazu. Bei den meisten Volumina genügt es, wenn man die allenfalls etwas komplexere Grundfläche mit der Höhe multipliziert.

Ebenfalls im Baugewerbe spielen Winkel eine gewisse Rolle. Diese müssen nicht berechnet, sondern konstruiert werden. Ein Maurer setzt eine kleine Mauer rechtwinklig zu einer bestehend Mauer. Ein Zimmerman macht das Dach in der Mitte so hoch, dass die Dachneigung einen gewünschten Winkel aufweist. Zwei Mitarbeiter im Tiefbau stellen sicher, dass ein Platz die minimal notwendige Neigung hat, so dass das Regenwasser gut abfliesst. Winkel werden in Grad oder in Prozent (Steigung) angegeben.

4     Wunsch 2: Gebrauchserfahrungen

Der Unterricht vor dem Eintritt in die Berufsbildung kann kaum dazu beitragen, die Ressourcen in den entsprechenden beruflichen Kontexten zu situieren, da weder die Lernenden noch die Lehrpersonen die entsprechenden Situationen gut genug kennen.

Auf einer Metaebene wäre es aber nützlich, wenn die Lernenden in anderen Kontexten schon das eine oder andere Mal erlebt hätten, was es bedeutet, Mathematik zu gebrauchen. Die Lernenden wüssten dann, was auf sie zukommt, wenn sie in der Berufsbildung mit neuen Gebrauchssituationen konfrontiert sind. Sie wüssten, dass sie zuerst Schwierigkeiten haben werden, ihre vertrauten Ressourcen situationsgerecht einzusetzen. Sie hätten aber auch schon die Erfahrung gemacht, dass sie diese Schwierigkeiten überwinden können.

Didaktisch können zumindest auf der Sekundarstufe I dieselben Instrumente eingesetzt werden, die wir für die Berufsbildung erarbeitet haben. Sie eignen sich, um Ressourcen in beliebigen Gebrauchssituationen zu verankern, nicht nur in beruflichen Gebrauchssituationen. Es sind dies:

  • Die Acht Schritte als Grundmuster
  • Horizontaler Transfer für den Fall, dass die Lernenden im Rahmen der Acht Schritte Mühe haben, die benötigten (und vorhandenen) Ressourcen zu aktivieren.

Eine zentrale Voraussetzung für den Einsatz beider didaktischer Instrumente ist, dass eine Gebrauchssituation gefunden wird, welche den Lernenden vertraut ist und welche das Interesse der Lernenden weckt. Im Rahmen der dualen Berufsbildung ergeben sich diese Situationen zwanglos aus dem beruflichen Alltag, welchen die Lernenden im Betrieb erleben. In Abschnitt 5 unten sind einige Vorschläge zusammengestellt, wie Lehrpersonen auf der Sekundarstufe I zu solchen Situationen gelangen könnten.

4.1 Acht Schritte

Die Acht Schritte führen in einem Bogen von der Gebrauchssituation über verschiedene Zwischenstationen wieder hin zur Gebrauchssituation. Am Anfang stehen die bisherigen Erfahrungen der Lernenden bezüglich der Gebrauchssituation. Am Ende sind die Lernenden in der Lage, verschiedene mathematische Ressourcen zu gebrauchen, um entsprechenden Anforderungen in der Gebrauchssituation zu bewältigen.

Details findet man unter Acht Schritte. Dort gibt es auch auch verschiedene kommentierte Unterrichtsbeispiele. Hier nur eine kurze Zusammenfassung:

1. Schritt: Erst beginnen, wenn Lernende mit der Gebrauchssituation schon Erfahrungen gemacht haben

Mit der Behandlung einer Situation im Unterricht zuwarten, bis möglichst viele der Lernenden mit großer Sicherheit schon Erfahrungen mit der entsprechenden Situation gemacht haben. Die Erfahrungen lassen sich anreichern, indem man den Lernenden entsprechende Beobachtungsaufträge gibt.

2. Schritt: Erfahrungen schildern lassen – nicht nur „rechnerische“ Aspekte, anderes ist genauso wichtig

Die Situation im schulischen Unterricht lebendig werden lassen, indem man die Lernenden von ihren Erfahrungen erzählen lässt. Ging ein Beobachtungsauftrag voraus, existiert mehr Material für diese Erzählungen. Die „kalkulatorischen“ Aspekte sind dabei wichtig, vieles andere ist aber für ein Verständnis der Situation genauso wichtig.

3. Schritt: Mittelschwere Aufgabe stellen und die Lernenden in Gruppen erarbeiten lassen, wie sie diese mit ihrem bereits vorhandenen Wissen angehen würden

Das vorhandene Vorwissen der Lernenden aufgreifen, indem man ihnen ohne weitere Instruktion eine entsprechende Aufgabe (z.B. Rezept umrechnen) stellt. Die Aufgabe sollte nicht so schwer sein, dass die Lernenden keine Chance haben, auch nur annähernd zu einer Lösung zu kommen. Sie sollte aber eine echte Aufgabe sein, welche die reale Komplexität der Situation einfängt und die Lernenden etwas herausfordert. Die Aufgabe in Gruppen bearbeiten lassen.

4. Schritt: Die Lösungen der Lernenden gemeinsam kritisch besprechen

Die einzelnen Gruppen reihum ihre Lösungen vorstellen lassen und Stärken und Schwächen diskutieren. Wichtig ist dabei, dass nicht nur Schwächen herausgearbeitet werden, sondern auch Stärken, welche anschliessend in der modellhaften Lösung aufgenommen werden können.

5. Schritt: Der Einsatz der benötigten Ressourcen an realistischem Beispiel modellhaft vormachen

An einer Beispielaufgabe eine Lösung modellhaft vormachen. Dabei nicht eine perfekte Vorstellung bieten, sondern durch lautes Denken erkennen lassen, was man sich alles Schritt für Schritt überlegen muss.

6. Schritt: Lernende eigene Beispiele erfinden und lösen lassen bis sie sich sicher fühlen

Für die eigentliche Übungsphase ausgehend von Beispielen die Lernenden eigene Beispiele erfinden lassen. Die Lernenden dann anhand dieser Beispiele üben lassen (eventuell zuerst im Plenum, dann in Gruppen), bis sie sich sicher fühlen. Zu Beginn brauchen sie dabei Unterstützung (sowohl beim Erfinden der Beispiele wie beim Lösen), mit der Zeit kann und muss diese wegfallen. Gegen Schluss spontan zusätzliche Schwierigkeiten in die Beispiele der Lernenden einbauen.

7. Schritt: Zentrale Daten erarbeiten, Spickzettel erarbeiten

Mit den Lernenden zusammen zentrale Grössen zusammentragen, die man einfach kennen muss, um den Arbeitsablauf durch Nachschlagen bzw. Nachrechnen nicht zu behindern. Lernende persönliche Spickzettel schreiben lassen (in einem Format, das sie im Alltag auf sich tragen und konsultieren können).

8. Schritt: Anwendung im Alltag diskutieren

Im Plenum gemeinsam zu diskutieren, wie und wann das Gelernte im Alltag genutzt werden kann und welche Schwierigkeiten sich dabei ergeben können. Die Lernenden ermuntern, das Gelernte tatsächlich zu nutzen und allfällige dabei gemachte Erfahrungen und aufgetauchte Fragen zu einem späteren Zeitpunkt besprechen.

4.2 Horizontaler Transfer

Wenn die Lernenden bei Schritt 3 völlig hilflos sind und keine Ideen produzieren, wie die bei ihnen vorhandenen Ressourcen gebraucht werden könnten, kann man versuchen, ihnen eine Brücke zu bauen. Dazu eignet sich das Instrument des Horizontalen Transfers. Beim Horizontalen Transfer geht es darum, eine Verbindung zwischen einer den Lernenden vertrauten Gebrauchssituation und einer neuen Gebrauchssituation herzustellen.

Details findet man unter Horizontaler Transfer. Hier nur eine kurze Zusammenfassung in vier Punkten:

  1. Ausgangssituation: Eine Gebrauchssituation suchen, mit der die Lernenden vertraut sind und in der sie die in der Zielsituation benötigten Ressourcen situationsgerecht gebrauchen können.
  2. Analogie: Eine Darstellung finden, mittels der sich relevante Aspekte sowohl der Ausgangssituation wie der Zielsituation erfassen lassen und so die relevanten Ähnlichkeiten sichtbar werden.
  3. Gebrauch in der Ausgangssituation: Den Gebrauch der relevanten Ressourcen in der Ausgangssituation darstellen, d.h. den Lernenden spiegeln, wie sie dort diese Ressourcen einsetzen.
  4. Gebrauch in der Zielsituation: Auf dieselbe Art darstellen, wie dieselbe Ressourcen in der Zielsituation genutzt werden können.

5     Ideen für Gebrauchssituationen

Um mathematische Ressourcen zu situieren braucht es geeignete, den Lernenden vertraute Gebrauchssituationen (Schritt 1 der Acht Schritte, s. 4.1 oben). Auch hier liegt leider keine ausgearbeitete Liste solche Situationen vor. Aus Diskussionen mit Lehrpersonen, welche auf der Sekundarstufe I und/oder im Rahmen eines 10. Schuljahrs tätig sind, haben sich aber verschiedene Anregungen ergeben.

5.1 Fächerübergreifende Verbindungen

Innerhalb der Schule lassen sich im Rahmen anderer Fächer Situationen finden, in denen Lernende Mathematik gebrauchen. Echte Gebrauchssituationen dürften sich aus dem Arbeiten mit Plänen und Berechnungen im Werken ergeben – sei es mit Textilien oder Holz oder anderen Materialien. Weniger geeignet sind vermutlich Situationen aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht, da viele Lernende diese als schulische Anwendungssituationen erleben, die sich nicht von den Anwendungsaufgaben im Mathematikunterricht unterscheiden.

Eine sehr enge Verbindung konnte eine Schule herstellen, in der das Mittagessen für die Lernenden im Haus gekocht wird und wo wochenweise immer ein paar der Lernenden dabei mitarbeiten. Dabei müssen häufig Rezepte, die für vier Personen gedacht sind, auf die Anzahl der an diesem Tag anwesenden Lernenden umgerechnet werden. In Absprache mit der Küche konnte im Unterricht der Ablauf der Acht Schritte (vgl. 4.1 oben) vollständig durchgespielt werden. U.a. war es möglich, in Schritt 8 intensiv die Erfahrungen zu diskutieren, welche die Lernenden beim Versuch machten, das im Unterricht behandelte in der Küche zu gebrauchen.

5.2 Spezielle Ereignisse im Schuljahr

Verschiedene spezielle Ereignisse im Schuljahr wie Schulreisen, Klassenfeste oder ein Weihnachtsmarkt stellen gute Gebrauchssituationen dar, wenn die Lernenden dort engagiert mitarbeiten. Beim Weihnachtsmarkt stellt sich bspw. die Frage der Preisgestaltung und in diesem Zusammenhang kann es notwendig sein, die Warenkosten zu kalkulieren. Schulreisen und Klassenfeste werfen die Frage auf, was alles mit einem gegebenen, beschränkten Budget realisierbar ist. Etc.

5.3 Berufswahlprozess

Viele Lernende verbringen in der 8. und 9. Klasse in Form von Schnuppertagen und Schnupperlehren Zeit in verschiedensten Betrieben. Dies kann man nutzen, indem man den Lernenden einen Beobachtungsauftrag mitgibt und sie bittet festzuhalten, wo und wie in den jeweiligen Berufen mit Zahlen, Graphiken, Plänen, Tabellen etc. gearbeitet wird. Besonders geeignete Situationen kann man dann aus diesen Beobachtungen herausgreifen und im Unterricht als Gebrauchssituation von Mathematik behandeln.

Das Interessante an diesem Zugang ist, dass so eine direktere Brücke zur folgenden Berufsbildung geschlagen wird, als wenn man Situationen aus dem Schulalltag wählt. Die Schwierigkeit dabei dürfte allerdings sein, eine Situation herauszugreifen, welche der Lehrperson so vertraut ist, dass sie sie wirklich in voller Komplexität als Gebrauchssituation behandeln kann. Denn sonst droht, dass daraus nur eine weitere Anwendungsaufgabe wird.

5.4 Vorhandene Alltagserfahrungen der Lernenden

Als letzte, für die Lernenden aber unter Umständen ergiebigste Variante, kann man versuchen, die Lernenden direkt zu befragen, wo sie denn in ihrem Alltag ausserhalb der Schule und Hausaufgaben mit Zahlen, Graphiken, Plänen, Tabellen etc. zu tun haben. Wichtig dürfte dabei sein, dass man nicht die Begriffe „Mathematik“ und „Rechnen“ verwendet. Aus der Forschung weiss man, dass wenn man Erwachsene dazu befragt, wo sie in ihrem Alltag „Mathematik gebrauchen“, die Antwort meist einfach „nirgends“ lautet. Dass dürfte bei Kindern nicht anders sein.

Die so gefundenen Gebrauchssituationen können auf zwei Arten eingesetzt werden. Handelt es sich um eine Situation, in denen die Lernenden sich im Gebrauch der Mathematik sicher fühlen, kann man gemeinsam zusammentragen, wie sich denn dieser Gebrauch im Detail abspielt. Die Funktion der Lehrperson besteht vor allem darin, durch Nachfragen und geeignet Darstellen zu einer möglichst vollständigen Beschreibung zu gelangen. Auch kann man darüber diskutieren, warum gerade so und nicht anders vorgegangen wird.

Handelt es sich dagegen um eine Situation, die zwar für die Lernenden bedeutungsvoll ist, bei der sie sich aber unsicher fühlen, kann man bspw. über die Acht Schritte (vgl. 4.1 oben) ihnen helfen, mehr Sicherheit zu gewinnen.

6 Erwähnte Literatur

Basendowski, S. (2013). Die soziale Frage an (mathematische) Grundbildung: eine empirische Studie zu dem Wesen, der Funktion und der Relevanz mathematischer Kompetenzen in einfachen Erwerbstätigkeiten sowie Analysen für didaktische Implikationen. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag.

Heymann, H. W. (1996). Allgemeinbildung und Mathematik (Vol. 13). Weinheim: Beltz.

Smith, J. P. (1999). Tracking the Mathematics of Automobile Production: Are Schools Failing to Prepare Students for Work? American Educational Research Journal, 36(4), 835-878.

Stiftung Rechnen (Ed.). (2015). Mathe4Job. Münster: WTM.