Anna und die Faltenzahl: Beispiel einer Stützkusintervention

Katy Rhiner

Bei Grassi, Rhiner, Kammermann & Balzer (2014) findet sich unter „Unterwegs mit Anna“ ein ausführliches Beispiel einer Lernberatung bei Schwierigkeiten im Bereich Rechnen/Mathematik (jeweils auf den blauen Seiten). Dabei kommen ineinander verwoben verschiedene Aspekte zu Sprache. Anna hatte schon während der obligatorischen Schulzeit die Erfahrung gemacht, dass sie „nicht rechnen kann“. Und als sie an der Berufsfachschule wieder mit Rechenaufgaben konfrontiert wurde, meldeten sich alte Ängste und Überzeugungen zurück. Es ging daher zuerst einmal darum, Anna zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit zu verhelfen. Anna musste erfahren, dass sie sehr wohl rechnen kann. Wie sich bei Grassi et al. nachlesen lässt, ist dies gelungen.

Neben dieser Arbeit am Gefühl der Selbstwirksamkeit wurde aber auch an der Verbindung zwischen Rechnen in der Schule und Erfahrungen aus dem beruflichen Kontext gearbeitet (Situieren helfen). Hier ein Beispiel dazu (nicht in Grassi et al. enthalten):


Anna besucht die Lernberatung, weil sie im berufskundlichen Rechnen Schwierigkeiten mit Berechnungen hat. Sie ist in der Ausbildung als Innendekorationsnäherin und muss dort immer wieder für verschiedene Werkstücke wie Vorhänge, Nackenrollen, Bettüberwürfe etc. beispielsweise den Stoffverbrauch berechnen.

Anna bringt jeweils Aufgaben aus dem berufskundlichen Unterricht oder aus dem Ausbildungsbetrieb mit, die sie verstehen und lösen möchte (Stützkurs als Aufgabenhilfe). Bei einem Typen von Aufgaben geht es darum, für verschieden breite Deko-Vorhänge die Faltenzahl, Faltentiefe und den Abstand zwischen den Falten zu berechnen, wie in Abbildung 1.

Anna_1_Schema

Abbildung 1: Schema eines Deko-Vorhangs

Als Rechnungsweg hat Anna sich folgendes aufgeschrieben:

150 cm : 16 cm = 9.375 => 9 Faltenzahl
 (16 cm für 8 cm Faltenabstand 
  plus 8 cm geschätzter Faltentiefe)
9 Faltenzahl minus 1 x 8 cm Abstandsgrösse 
                                = 64 cm Einhaltemass.
150 cm minus 64 cm Einhaltemass = 86 cm Rest.
86 cm Rest durch 9 Faltenzahl = 9.55 cm Faltentiefe.

Dazu hat sie nun folgende Fragen:

  • Warum muss ich von der Faltenzahl 1 minus rechnen?
  • Wie komme ich auf das Einhaltemass?

In den Stunden, die wir bisher zusammen gearbeitet haben, hatte Anna erfahren, dass sich solche Fragen am besten klären lassen, wenn man eine neue Aufgabe angeht. Sie wählt folgende aus: Die Stoffbreite beträgt 140 cm, die Seitensäume sollten 3 cm doppelt genäht werden. (Alle Aufgaben dieser Art enthielten immer diese zwei Angaben: Die Stoffbreite, welche bestellt werden konnte, und die gewünschte Breite der beiden Seitensäume).

Ich bitte Anna, die Aufgabe mithilfe von Haushaltpapier als Ersatz für den Stoff in Originalbreite 140 cm darzustellen (vgl. Handfeste Modellieren). Aus dem berufskundlichen Unterricht kennt sie folgende Normen:

  • Die „Tiefe“ der Falten (der zusätzliche Stoffverbrauch pro Falte) sollte etwa 8 cm betragen.
  • Der Abstand zwischen den Falten muss immer genau 8 cm sein.

Und aus der Praxis weiss sie, dass

  • man jeweils den ersten und letzten Gleiter 2 cm ab Rand annäht und
  • die erste Falte nach dem ersten und die letzte vor dem letzten Gleiter gemacht wird.

Mit Stecknadeln faltet sie die Säume 2×3 cm auf beiden Seiten und setzt beidseitig 2 cm ab dem Rand eine Nadel für den ersten und letzten Gleiter, so dass nun 124 cm „Vorhangbreite“ übrig sind, um die Falten und Abstände gleichmässig zu verteilen (Abbildung 2).

Anna_2_Saeume_und_Raender

 Abbildung 2: Säume und Ränder abstecken

Anschliessend stellt Anna dies in Form einer Berechnung dar:

Stoffbreite                     140 cm
Saumbreite 2 x 3cm x 2         - 12 cm
Einzug Gleiter 2 x 2cm         -  4 cm
Vorhangbreite                   124 cm

Da pro Falte etwa 8 cm zusätzlicher Stoff vorhanden sein sollte („Tiefe“) und für den Abstand zwischen den Falten grundsätzlich 8 cm eingerechnet werden, rechnet Anna aus, wie viele Falten und Abstände innerhalb dieser 124 cm gemacht werden können:

124 cm : 16 cm = 7.75 Falten

Bei diesem Resultat kommt die erste Verunsicherung auf, ob nun auf- oder abgerundet wird. Wir rekapitulieren, was wir hinsichtlich Aufgabenstellung wissen:

  • Der Abstand zwischen den Falten ist mit 8 cm gesetzt.
  • Als Tiefe der Falten wird ungefähr 8 cm erwartet – das bedeutet, dass es mehr oder weniger als 8 cm sein können.

Wir besprechen Vor- und Nachteile des Auf-, resp. Abrundens und ziehen folgende Schlussfolgerung: Wenn wir abrunden, steht mehr Stoff pro Falte zur Verfügung und diese wirkt dadurch voluminöser. Wenn wir hingegen aufrunden, gibt es zwar eine Falte mehr aber die einzelnen Falten sind flacher. Da es sich um einen Deko-Vorhang handelt, entschliessen wir uns, auf 7 Falten abzurunden, damit der Vorhang üppiger wirkt.

Anschliessend an diese Diskussion bitte ich Anna, die erste und letzte Falte am „Modell“ zu bezeichnen und die restlichen fünf Falten mal provisorisch möglichst gleichmässig zu verteilen. Dabei wird Anna bewusst, dass es einen Abstand weniger als Falten gibt und sie strahlt: „Aha, jetzt verstehe ich, warum ich im Unterricht minus 1 rechnen musste. Denn wenn ich gleich viele Abstände wie Falten mache, habe ich entweder am Anfang oder am Schluss einen Abstand statt eine Falte.“ (vgl. Abbildung 3)

Anna_3_Schema_mit_Zahlen

Abbildung 3: Das Verhältnis von Falten zu Abständen

Anna_4_Vorhang_im_modell

Abbildung 4: Der gefaltete Deko-Vorhang im Modell

Nun besprechen wir, was wir nun bereits herausgefunden haben, und Anna wiederholt, dass die Abstände immer 8 cm betragen und dass es bei diesem Vorhang 6 Abstände geben muss. Ich fordere sie auf, die 6 Abstände massgetreu auf dem „Modell“ nacheinander abzumessen und mit einer Nadel zu bezeichnen (Abbildung 5). Ich lasse Anna dazu laut denken und sie erkennt, dass sie einfach 6 x 8 cm rechnen muss und steckt so bei 48 cm die Nadel. Auf die Frage, was nun mit dem Rest des Stoffes geschieht, ist klar, dass daraus die 7 Falten genäht werden. Anna misst den Rest und erhält 76 cm.

Anna_5_Abstaende_nebeneinander

 Abbildung 5: Alle Abstände nebeneinander

Bei der Analyse des Vorgehens erkennt Anna, dass sie die Anzahl Abstände, die sich durch die oben beschriebene Berechnung ergeben, mit 8 multiplizieren muss, weil ja jeder Abstand immer 8 cm beträgt. Nun wird Anna auch klar, wie das sog. Einhaltemass zustande kommt. Anhand des Modells sieht Anna weiter, dass dieses Einhaltemass von der Vorhangbreite abgezählt werden muss, weil ja mit dem Rest die Falten genäht werden (vgl. Abbildung 1).

Anna ergänzt nun ihre Berechnung folgendermassen:

124 cm : 16 cm = 7.75 Falten (abgerundet 7 Falten)
7 Falten minus 1 = 6 Abstände zu je 8 cm.
6 Abstände x 8 cm = 48 cm Einhaltemass.

Und:

Vorhangbreite            124 cm
Einhaltemass            - 48 cm
Rest                      76 cm

Nun ist klar, dass diese Zahl durch 7 dividiert wird, weil es 7 Falten gibt, also: 76 cm : 7 = 10.87 cm. Pro Falte werden also 10.8 cm Stoff verwendet, d.h. die einzelnen Falten sind etwas voluminöser als die als Richtwert vorgegebenen 8 cm.

Anna kann also dank dem Modellieren des Vorgangs ihre Fragen klären. Im Lernjournal am Schluss der Lernberatung schreibt sie:

So bin ich vorgegangen, dass es mir gelungen ist:
 Ich durfte mit Papier und Stecknadeln arbeiten.
Damit hatte ich Schwierigkeiten:
 Am Schluss mit der Rechnung – es verwirrt mich noch 
 ein bisschen, so viele Zahlen!
So habe ich auf die Schwierigkeiten reagiert:
 Ich schrieb alles auf ein grosses Blatt und bezeichnete 
 mit Farben, was zusammen gehört.

Die hier beschriebene Situation mit Anna kann man als Beispiel für Situieren helfen verstehen. Anna bringt ein Modell eines professionellen Vorgehens aus der Schule mit. Sie hat aber Schwierigkeiten, einzelne Punkte daraus zu verstehen. Dies hat sie selbst festgestellt, als sie versucht hat, das Modell auf neue Beispiele anzuwenden (Schritt 6 der Acht Schritte). Sie erhält die Gelegenheit, nochmals ganz sorgfältig das Modell aus der Schule mit ihren Erfahrungen aus dem beruflichen Alltag zu verknüpfen, indem sie die ganze Situation Handfest modelliert.

Je bezogen auf die einzelnen der Drei Welten (vgl. Handfeste Modellieren) bringt sie genügend Wissen mit. Bezogen auf die Welt der Dinge weiss sie, wie ein Deko-Vorgang aussieht, was daran als „Falte“ und was als „Abstand“ bezeichnet wird, welche Regeln bezüglich des Saums, der Position der äusseren beiden Gleiter und des Faltenabstands gelten, dass Vorhangstoffe in bestimmten Breiten hergestellt werden etc. Ebenso in diesen Bereich gehört das Wissen, dass Falten nur in ganzen Anzahlen auftreten, dass halbe Falten oder gar 0.75 Falten keinen Sinn machen, dass aber bei Stoffbreiten sehr wohl Teile von Zentimetern möglich sind, dass also 10.8 cm Faltentiefe ein möglicher Wert ist.

In der Welt der Konzepte ist ihr klar, dass man das schmaler Werden des Stoffes durch das Nähen eines Saumes mittels eine Subtraktion modellieren kann, dass man den doppelten Saum durch eine Multiplikation mit 2 modellieren kann, dass man das gleichmässige Verteilen des Stoffs auf 7 Falten durch eine Division modellieren kann etc. Und in der Welt der Techniken beherrscht sie auf jeden Fall die Subtraktion, die Multiplikation und die Division mehrstelliger Zahlen. Zudem steht ihr ein Beispiel eines vollständigen Rechnungswegs zu Verfügung.

Ihr eigentliches Problem liegt darin, dieses Wissen aus den verschiedenen Welten aufeinander zu beziehen. Die geschieht so, dass sie mit Hilfe des Haushaltpapiers die Welt der Dinge darstellt und dann Punkt um Punkt den Berechnungsablauf aus der Welt der Techniken in diesem Modell nachstellt. Dabei ergeben sich keine grösseren Probleme. Einzig der Effekt, den das Auf- bzw. Abrunden auf eine ganzzahlige Faltenzahl hat, ist nicht sofort klar, sondern muss am Modell geklärt werden.

Die Einträge ins Lernjournal lassen vermuten, dass Anna auf diesem Weg die Vernetzung zwischen den verschiedenen Welten klären konnte und dass sie nun in der Lage ist, wenn sie sorgfältig vorgeht, sich Zeit nimmt und „ein grosses Blatt“ zu Hilfe nimmt, Berechnungssituationen bewältigen kann. Bis sie dabei aber so zügig vorankommt, wie das wohl im beruflichen verlangt ist, dürften noch einige Übungen notwendig sein.

Anna wird dabei nach folgendem Prinzip unterstützt: Statt Erklärungen werden Klärungsfragen und Reflexionsfragen gestellt. Ziel der Klärungsfragen ist es, Anna zu helfen

  • die Situation/das Problem zu verstehen,
  • den Weg/das Vorgehen zu verstehen.

Klärungsfragen können sein:

  • Wie machen Sie es im Betrieb?
  • Was wissen Sie über das Vorgehen (theoretisch)?
  • Was ist Ihnen im Zusammenhang mit der gestellten Aufgabe klar, was verstehen Sie?
  • Was ist noch unklar/was verstehen Sie (noch) nicht?
  • Was wollen Sie am Schluss können/verstehen?

Ziel der Reflexionsfragen (bspw. im Lernjournal) ist es, Anna bewusst machen, dass es ihre eigenen Anstrengungen sind, die geholfen haben, das Problem zu lösen. Nur wenn sie den Erfolg sich selbst und nicht der erhaltenen Unterstützung zuschreibt, beginnt sie daran zu glauben, dass sie in der Lage ist, solche Aufgaben zu lösen (Selbstwirksamkeit, vgl. Grassi, et al., 2014, S. 93ff und S. 110ff).

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