Quelle: Dewey, J. (1938). Experience And Education. New York, Macmillan.
Ein zentraler Punkt bei Dewey ist die Rolle, die er dem Lernen aus Erfahrungen einräumt, und damit seine Theorie des Erfahrungslernens: Dadurch, dass alle Lernenden in einer konkreten Welt leben und handeln, durchleben sie nach Deweys Darstellung eine nie abreissende Reihe von Situationen. Jede dieser Situationen besteht aus Interaktionen zwischen der lernenden Person und in der Situation anwesenden weiteren Personen bzw. Objekten. Eine Erfahrung ist das Erleben einer solchen Interaktion in einer bestimmten Situation.
Jede Erfahrung, jede erlebte Situation verändert die Person. Und durch diese Veränderung werden wieder zukünftige Interaktionen/Situationen beeinflusst (Prinzip der Kontinuität). So gesehen entstehen Erfahrungen immer in einer Interaktion zwischen eigenem Können/Wissen/Wollen und den Umständen in der Umgebung (Prinzip der Interaktion), werden also geprägt sowohl durch interne und als auch durch externe Rahmenbedingungen. Eine Folge davon ist, dass alles, was eine Person erlebt, stark davon abhängt, was andere Personen und sie selbst vorher schon getan haben.
Entwickelt man in einer Situation eine Absicht (und handelt nicht einfach impulsiv), dann läuft ein dreischrittiger Prozess ab: (1) Wahrnehmung der Umgebung (2) Erinnerung an ähnliche Situationen und an Ratschläge, die man von anderen Personen erhalten hat, (3) Kombination von Wahrnehmung und Erfahrung.
Durch den Lernprozess expandiert oder kontrahiert die Welt, in der die Person lebt, von Erfahrung zu Erfahrung, von Situation zu Situation. Nicht jede Erfahrung ist eine günstige Erfahrung. Beispielsweise kann eine Erfahrung dazu führen, dass sich eine Routine ausbildet. Grundsätzlich sind Routinen nützlich, sie können aber zur Folge haben, dass die Person das Lernpotential zukünftiger Situationen nicht mehr ausschöpft. Ihre Welt wird auf diesem Weg enger oder kleiner. Oder es kann sein, dass verschiedene, aufeinander folgende Erfahrungen zwar je für sich „interessant“ sind, aber nicht als zusammenhängend erlebt werden. Dann entstehen unzusammenhängende Wissensinseln, unverbundene Gewohnheiten, von denen manchmal die eine, manchmal die andere durchschlägt.
In seinen Worten:
„The statement, that individuals live in a world, means, in the concrete, that they live in a series of situations. … It means, once more, that interaction is going on between an individual and objects and other persons. The conceptions of situation and of interaction are inseparable from each other. An experience is always what it is because of a transaction taking place between an individual and what, at the time, constitutes his environment …“
„…every experience enacted and undergone modifies the one who acts and undergoes, while this modification affects, whether we wish it or not, the quality of subsequent experiences …“„In a word, we live from birth to death in a world of persons and things which in large measure is what it is because of what has been done and transmitted from previous human activities. When this fact is ignored, experience is treated as if it were something which goes on exclusively inside an individual’s body and mind. It ought not to be necessary to say that experience does not occur in a vacuum. “
„The formation of purposes is, then, a rather complex intellectual operation. It involves (1) observation of surrounding conditions; (2) knowledge of what has happened in similar situations in the past, a knowledge obtained partly by recollection and partly from the information, advice, and warning of those who have had a wider experience; and (3) judgment which puts together what is observed and what is recalled to see what they signify.“
„As an individual passes from one situation to another, his world, his environment, expands or contracts …“„For some experiences are mis-educative. Any experience is mis-educative that has the effect of arresting or distorting the growth of further experience. “„Again, experiences may be so disconnected from one another that, while each is agreeable or even exciting in itself, they are not linked cumulatively to one another … Each experience may be lively, vivid, and ‚interesting‘, and yet their disconnectedness may artificially generate dispersive, disintegrated, centrifugal habits.“
Deweys Schlussfolgerungen auf diesem Hintergrund sind unter anderem die folgenden:
- Dass die Lernenden dadurch lernen, dass sie Erfahrungen machen (Interaktion), und dass dabei ihre bereits vorhandenen Erfahrungen eine wichtige Rolle spielen (Kontinuität), kann man nicht ändern. Damit muss man als Lehrperson leben.
- Was man aber beeinflussen kann, ist welche neuen Erfahrungen die Lernenden machen. Der Wissensvorsprung der Lehrperson gegenüber den Lernenden zeigt sich darin, dass die Lehrperson geeignete Lernsituationen kreiert.
- Ausgangspunkt sind die bereits vorliegenden Erfahrungen der Lernenden, die oft aus dem alltäglichen Umfeld stammen.
- Man kann nur erkennen, von welchen Erfahrungen die Lernenden ausgehen, wenn man ihnen eine gewisse Freiheit lässt, nicht einfach nur zu tun, was man für sie als richtig erachtet.
- Im Ausbildungsprozess geht es darum, die Erfahrungen der Lernenden langsam neu zu organisieren, bis die Organisation der eines Experten, einer Expertin gleicht.
- Die Wissensorganisation von Experten und Expertinnen kann also nie der Ausgangspunkt sein, muss aber als Ziel immer im Auge behalten werden
„But it is a mistake to suppose that the mere acquisition of a certain amount of arithmetic, geography, history, etc., which is taught and studied because it may be useful at some time in the future, has this effect, and it is a mistake to suppose that acquisition of skills in reading and figuring will automatically constitute preparation for their right and effective use under conditions very unlike those in which they were acquired. “
Die Begrifflichkeit des IML und Deweys Vorstellungen lassen sich in vielen Punkten gut übereinander legen. Seine Beschreibung des Erfahrungslernens deckt sich mit dem situativen Wissenssystem im IML. Er arbeitet dabei verschiedene Schwächen oder Gefahren dieses Systems heraus, wie die unter Umständen ungünstige Dominanz alter Gewohnheiten oder die Gefahr von Wissensinseln, von unverbundenen Gewohnheiten.
Auch seine hier zusammengestellten Schlussfolgerungen für die Organisation von Lernen decken sich mit den Schlussfolgerungen, welche sich aus dem IML ergeben. Beispielsweise entspricht die Forderung, dass die die Wissensorganisation von Expertinnen und Experten nicht Ausgangspunkt aber Ziel einer Ausbildung sein kann, der Funktion der Strukturierung (des situativen Wissens mittels deklarativer Konzepte) im IML.
Im Gegensatz zum IML arbeitet Dewey aber nur mit einem Wissenssystem. Andere Arten von Wissen wie etwa das deklarative System finden keine Erwähnung (zumindest im hier zu Grunde liegenden Buch; ich bin kein Dewey Experte und lasse mich gern korrigieren). Auch was andere Personen sagen, ist bei ihm ganz klar Teil der erlebten Situationen: „… whether the latter consists of persons with whom he is talking about some topic or event, the subject talked about being also a part of the situation“. Grundsätzlich steht das in keinem Widerspruch zum IML. Auch aus der Sicht des IML werden deklarative Wissensstücke erinnert, indem man sich an die Situation erinnert, in der diese Wissensstücke erworben bzw. gebraucht wurden. Der Unterschied liegt nur darin, dass das IML postuliert, dass solche Äusserungen anderer Personen in einem speziellen Format abgelegt werden, sofern sie verstanden wurden. Dadurch haben sie andere Eigenschaften, als etwa die (situative) Erinnerung daran, dass die entsprechende Person in jenem Moment sehr verärgert war.
Dewey macht zwar an einigen Stellen Anmerkungen, die in Richtung einer Unterscheidung von Erinnerung an eine Situation und Erinnerung an dort erworbenes deklaratives Wissen gehen. Beispielsweise spricht er beim Schritt zwei des zielgerichteten Vorgehens davon, dass hier „knowledge of what has happened in similar situations in the past, a knowledge obtained partly by recollection and partly from the information, advice, and warning of those who have had a wider experience” einfliesst, also Wissen, das z.T. aus Erinnerung an Geschehnisse in vergangenen Situationen und z.T. aus Informationen, Ratschlägen und Warnungen anderer Personen besteht. Er führt dann aber (zumindest im hier zu Grunde liegenden Buch) nicht weiter aus, wie er sich das Zusammenspiel dieser beiden Wissensquellen vorstellt.
Nach den Annahmen des IML ist dieses keineswegs unproblematisch. Das Wissen des situativen Systems kann via Analogien genutzt werden (ähnlich vorgehen wie in ähnlichen vergangenen Situationen). Das deklarative Wissen (Informationen, Ratschläge, Warnungen etc.) hingegen muss erst im Hinblick auf die neue Situation situiert werden. Das gelingt meist erst richtig, wenn man damit einige Erfahrungen gemacht hat, also situatives Wissen dazu erworben hat, wie bestimmte deklarative Wissenstücke zu gebrauchen sind.
Das IML steht aus meiner Sicht nirgends zu Deweys Vorstellungen zum Lernen auf der situativen Ebene im Widerspruch. Viele seiner Bilder – bspw. dass die Welt der Lernenden auf Grund der gemachten Erfahrungen expandiert oder kontrahiert – beschreiben anschaulich Dinge, welche das IML nur andeutet. Das IML geht aber über Dewey hinaus. Es will über das Lernen aus Erfahrung hinaus helfen, das Zusammenspiel von Erfahrung und Instruktion zu gestalten.