Über rund 12 Jahre hinweg (2004 bis 2016) ist das Konzept „Fachrechnen vom Kopf auf die Füsse gestellt“ herangewachsen. Im weitesten Sinn handelte es sich dabei um einen empirischen Forschungsprozess, bei dem ein Produkt immer wieder getestet und weiterentwickelt wurde. Kriterium war dabei die Verständlichkeit und Akzeptanz der Konzepte bei Lehrpersonen, so wie die Wirkung in ihrem Unterricht. In beiden Punkten wurden über die Jahre hinweg deutliche Fortschritte gemacht.
Dies hier ist ein Versuch, die grossen Linien dieses Entwicklungsprozesses herauszuarbeiten und wo möglich etwas daraus zu lernen. Ich habe zu diesem Zweck vor allem die Kurse zum Thema verglichen, so wie ich sie vor zehn Jahren gehalten habe und so wie ich sie heute halte. Dabei wurden folgende Entwicklungslinien erkennbar:
Wissenszuwachs: Wie nicht anders zu erwarten, hat mein Wissen über theoretische Hintergründe der Mathematikdidaktik, über mathematikdidaktische Modelle, über die Unterrichtsrealität der Lehrpersonen und über ihre Art zu denken und zu handeln stetig zugenommen. Vermutungen haben sich bestätig oder wurden widerlegt. Lücken haben sich gefüllt. Griffige Beispiele sind dazugekommen.
Überwinden alter Gewohnheiten: Etwas überraschender war es im Rückblick festzustellen, wie lange es gedauert hat, bis ich selbst alte Denkmuster überwunden hatte. Dass Fachrechnen als Handlungskompetenz situiert gedacht werden muss, war von Anfang an als theoretische Basis gegeben. Es dauerte aber relativ lange, bis ich konsequent nicht mehr von (schulischen) Aufgaben, sondern von (beruflichen) Handlungssituationen sprach.
Entwicklung geeigneter situierter Abstraktionen: Als erstes eigentliches Produkt entstanden für die Kommunikation mit den Lehrpersonen geeignete situierte Abstraktionen. Ganz im Sinne der Vorstellung von Vygotskij wuchsen die durch das IML eingebrachten wissenschaftlichen Begriffe und die im Gespräch mit Lehrpersonen gebrauchten alltäglichen Begriffe einander entgegen. Dazwischen bildete sich eine brauchbare, im Unterrichtsalltag der Lehrpersonen situierte mittlere Begriffsebene.
Entwicklung eines angepassten didaktischen Konzepts: Die Acht Schritte sind das zweite, isolierbare und massgeschneiderte Produkt. Wie bei allen Schritt für Schritt Anleitungen war hier die Herausforderung die, genau das explizit zu machen, was den Lehrpersonen weiter hilft, und genau diejenigen Details implizit zu lassen, deren Erwähnung nur verwirrt.
Verschiebung von Steuerung hin zu Ermöglichung: Grob gesagt standen am Anfang Versuche einer differenzierten Diagnose des Vorwissens und einer kleinschrittigen Steuerung des Lernens. Dies wurde ersetzt durch Arrangements, in denen die Lernenden selbst erleben, was sie schon können, und die so aufgebaut sind, dass spontane Lernprozesse optimal greifen. Diese Veränderung fand auf beiden Ebenen statt, d.h. sowohl bzgl. der Lernenden im Schulunterricht wie auch bzgl. der Lehrpersonen im Kurs.
(Implizites) Dozentenwissen: Die Vermittlung von Hintergrundwissen und didaktischen Konzepten geschah im Wesentlichen in direkter Interaktion mit den Lehrpersonen. Daraus entwickelte sich Wissen darüber, was wann gesagt werden kann, was besser ungesagt bleibt, welche Beispiele unmittelbar einleuchten etc. Einiges davon liesse sich explizit beschreiben. Aber wie es dazu kam, dass ich nun auch Lehrpersonen erreichen kann, die „Grundlagen“ in Mathematik und Physik unterrichten müssen, kann ich offenbar nicht explizieren.
Viel ausführlicher als pdf.
Der zweitletzte Punkt „Verschiebung von Steuerung hin zu Ermöglichung“ beschreibt für mich gut nachvollziehbar, wie mit diesem didaktischen Ansatz ein selbstwirksames Erfassen auf wertschätzende Art ermöglicht wird.
Lieber Hansruedi
Es gibt eine so auffällige Anzahl an Parallelen zu meiner Entwicklung in der Sprachförderung, dass man wahrscheinlich generalisieren kann: Ein Paradigmenwechsel im Bereich des Lehrens und Lernens realisiert sich nicht von heute auf morgen. Es dauert ungefähr zehn Jahre, bis handliche neue Konzepte entwickelt sind.
Meine konkreten Parallelen:
(1) Klage im Feld: Die Lernenden können nicht mehr lesen/schreiben; faktisch aber verfügen sie über ein genügendes Vorwissen für sprachlich zu meisternde Situationen
(2) Induktiver Lernweg auch für Dozierende/Lehrpersonen: Beispiele bearbeiten, dann die Arbeit reflektieren und daraus generalisierende Schlüsse ziehen
(3) Verschiebung der Gewichte: Von Hintergrundtheorien zu didaktischen Modellen, die immer einfacher werden, weil verwirrende Details ausgeblendet bleiben
(4) Deutlichere Anwendungsorientierung: Anfänglich zu grosser Gap zwischen Kurs/Studieninhalt und Anwendung in der Praxis
(5) Wichtige Ergebnisse von Entwicklung: Das Identifizieren der häufig anzutreffenden Situationen und der sprachlichen Werkzeuge, die in diesen Situationen taugen
(6) Hintergrundinformationen freiwillig: Keine obligatorische Lektüre von Fachartikeln mehr (Wenn ergänzende Fachartikel, dann mit Lektüreanleitung und Auswertung).
(7) Arbeitseinheiten: Bei dir: Von Aufgaben/Stoffgebieten zu Situationen. Bei mir: Präzise Identifikation der Sprachhandlung(en), die in einer bestimmten Situation gefragt sind; Instrument zur Stützung eben dieser Handlung finden; Üben (genug Redundanz!)