10. „Projekt“ Lehrerbildung (1981)

Nach Studienanschluss verdiente ich mir meine ersten Brötchen als Forschungsassistent in kognitionspsychologischen Projekten (Flammer, Kaiser & Lüthi, 1981; Flammer, Kaiser & Müller-Bouquet, 1981). Es ging in diesen Projekten um die Frage, ob und wie sich die Fragen, die Menschen in bestimmten Situationen stellen, vorhersagen lassen. Die Grundidee war einfach: Fragen dienen oft dazu, Lücken im Wissen zu füllen. Weiss man, wie eine Person ihr Wissen zu einem bestimmten Thema organisiert hat und kennt man ihre Lücken, dann sollte man im Prinzip vorhersagen können, welche Fragen sie stellt. Wir machten Versuche mit Themen, bei denen wir eine ziemlich standardisierte Form der Wissensrepräsentation vermuteten. Konkret waren dies Unfallmeldungen in Zeitungen und Kochrezepte. Diese Versuche waren nicht besonders erfolgreich und wurden mit der Zeit eingestellt.

Aufgrund meiner erkenntnistheoretischen Ãœberlegungen macht es keinen Sinn, eine solche Frage ohne klares Ziel zu verfolgen, da die Antwort von diesem Ziel abhängt. Ich drängte darum in Projektsitzungen immer wieder darauf, die Ausgangsmotivation zu unseren Untersuchungen zu reflektieren. Diese hatte sehr direkt mit Lernen und Unterricht zu tun. Flammer war nach intensiven Auseinandersetzungen mit dem sogenannten Aptitude-treatment interaction Ansatz (ATI; Flammer, 1977) zur Ansicht gelangt. dass es schwierig bis unmöglich sein dürfte, für jeden Schüler genau seine „Fähigkeiten“ (aptitude) zu diagnostizieren und ihn dann massgeschneidert zu schulen (treatment). Sinnvoller schien es ihm daher, bei den Schülern selbstgesteuertes Lernen zu fördern. Ein wichtiges Hilfsmittel, mit dem Schüler ihr Lernen steuern können, sind aber die Fragen, die sie stellen. Und so lag es nahe Frageverhalten zu untersuchen.

Je länger ich aber in diesem Projekt mitarbeitete, umso unsinniger schien mir seine Stossrichtung. Wollte man wirklich autonome Lernende, die durch Fragen ihr Lernen selbst steuern, dann machte es keinen Sinn, diese Fragen vorherzusagen. Denn wäre dies möglich, bräuchten die Fragen nicht mehr gestellt zu werden. Der Lehrer könnte sie antizipieren und bereits vorgängig beantworten. Nahm man die Idee ernst, dass nur selbstgesteuertes Lernen flexibel genug auf die Bedürfnisse der einzelnen Lernenden eingehen kann, dann schien es konsequenter, sich z. B. das daraus entstehende Frage und Antwort Spiel zwischen Lernenden und Lehrenden genauer anzuschauen (vgl. Problemlösen zu zweit)

Aus dieser Unzufriedenheit heraus organisierte ich mit zwei Kollegen zusammen einen kleinen Aufstand am Institut. Wir forderten eine praktischere, an realen Zielen orientierte Ausrichtung der Forschung, und schlugen konkret ein Projekt vor zur Frage, wie man die Lehrerausbildung verbessern könnte. Daraus wurde natürlich nichts. Auch überlebte unsere „Dreierbande“ nur wenige Monate, bis jeder wieder seinen Partikularinteressen nachging.

Interessant ist an dieser Episode, dass verschiedentlich zwei unterschiedliche Haltung auftauchen bezüglich der Frage, wer für das Gelingen des Lernens die Verantwortung tragen soll. Der ATI Ansatz übergibt sie von der Stossrichtung her voll den Lehrenden. Sie sind für die Diagnose der Fähigkeiten etc. der Lernenden verantwortlich, sie sind dafür verantwortlich, dass darauf abgestimmt die Lernenden die richtige Art Unterricht etc. erfahren und schliesslich sind sie natürlich auch noch für die Überprüfung der erreichten Lernziele zuständig. Die Gegenposition geht von einer geteilten Verantwortung aus. Die Lernenden sollen hier durch ihre Fragen etc. das Geschehen zumindest mit beeinflussen. Lernen und Unterricht wird als kooperativer Prozess aller Beteiligter aufgefasst.

Meine eigene, ursprüngliche Fragestellung war der ersten Haltung verpflichtet (vgl. Warum verstehen meine Kollegen meine Erklärungen nicht?) und auch im eigenen Unterricht sollte ich noch lange Zeit immer wieder in diese Haltung zurückfallen (vgl. Ziemlich unbedarfter Unterricht). Auf theoretischer Ebene kündete sich hier aber zu ersten Mal eine Hinwendung zu einer kooperativen Haltung an, die mir später auch als „Modell II Haltung“ bei Schön (Schön, 1983) begegnete.

Literatur

  • Flammer, A. (1977) Aptitude-treatment interaction (ATI). — nach dem Abflauen der ersten Begeisterung. In: W. H. Tack: Bericht über den 30. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Regensburg 1976; Dand 2. Göttingen, Hogrefe; 228-229.
  • Flammer, A., Kaiser, H. & Lüthi, R. (1981) Gewusst wie – gefragt wie. Forschungsbericht Nr. Nr. 27, Fribourg, Psychologischen Instituts der Universität Fribourg.
  • Flammer, A., Kaiser, H. & Müller-Bouquet, P. (1981) Predicting what questions people ask. Psychological Research, 43; 407-420.
  • Schön, D. A. (1983) The reflective practitioner: how professionals think in action. New York: Basic Books.

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