Quelle: Lorenzer, A. (1973) Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Lorenzer versucht in diesem Buch zu ergründen, wie Psychoanalyse funktionieren kann. Wie es den Analytikern und Analytikerinnen möglich zu verstehen, was bei ihren Patienten im Unbewussten passiert?
Ãœber verschiedene Schritte kommt er zu folgendem Bild:
- Was die analysierte Person antreibt, ihr Verhalten formt, sind früher einmal erlebte Szenen bzw. Situationen.
- Wenn diese Erinnerungen bewusst zugänglich sind, kann sich die Person entscheiden, ob sie sich von der Erinnerung leiten lassen will oder nicht.
- Es kann aber geschehen, dass solche Erinnerungen aus dem Bewusstsein verschwinden, „verdrängt“ werden. Wenn diese der Fall ist, bleiben sie trotzdem wirksam, d.h. sie bestimmen das Verhalten nach wie vor. Nur geschieht das automatisch. Die Erinnerung setzt sich sozusagen hinter dem Rücken des Bewusstseins durch – beispielsweise als Zwangsneurose.
- An Stelle der Erinnerung an die „Ursituation“ drängen sich Erinnerungen an Decksituationen auf.
- Aus dem, was die analysierte Person erzählt – Träume, Deckerinnerungen, frei Assoziationen jeder Art – kann die Analytikerin nicht direkt auf die dahinter liegende „Ursituation“ schliessen.
- Sie steht aber in Interaktion mit der analysierten Person und nimmt damit an der Situation, an der Szene teil.
- Da sie sich selbst gut kennt, kann sie aufgrund ihrer Reaktionen zu Vermutungen kommen, welche Szene zwischen ihr und der analysierten Person in Form von Übertragung und Gegenübertragung „gespielt“ wird.
- Treffen ihre Interpretationen zu, so kommen bei der analysierten Person die zugedeckten und verdrängten Situationen allmählich ins Bewusstsein zurück.
Die Grundidee, dass nämlich früher einmal erlebte Situationen das Verhalten formen, entspricht zwanglos der Grundannahme des IML, dass das situative Wissen das handlungsleitende Wissen ist. Sofern sich eine Person dieses Hintergrunds bewusst ist oder sich diesen bewusst macht (Reflektieren in der Situation), kann sie selbstverständlich entscheiden, sich anders als damals zu verhalten. Allerdings geht auch das IML davon aus, dass dies nicht immer ganz einfach ist, und dass vor allem in Drucksituationen sich alte Gewohnheiten immer wieder durchsetzen.
Auch die Idee der Deckerinnerung findet Platz im IML. Lernt jemand beispielsweise in der Berufsfachschule, dass man eine bestimmte berufliche Handlungssituation mit Hilfe des Satzes des Pythagoras bewältigen kann, dann wird er/sie sich bei Bedarf im beruflichen Alltag im günstigen Fall an diese Schulsituation erinnern. Tritt später im beruflichen Alltag wieder so eine Situation auf, stehen schon zwei Erinnerungen zu Verfügung. Und mit der Zeit kommen immer mehr dazu. Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass dabei die „Ursituation“, d.h. die Schulsituation, immer mehr in den Hintergrund gerät und mit der Zeit gar nicht mehr erinnert wird. Die „Deckerinnerungen“, d.h. die Situationen, welche direkt aus dem beruflichen Alltag stammen, sind im beruflichen Alltag einfach relevanter.
Auch die Vorstellung eines externen Beobachters, der jemandem helfen kann, unbewusst wirkende situative Erinnerungen ans Licht zu holen, ist dem IML nicht fremd. Es kann beispielsweise sein, dass ein Dozent beobachtet, wie eine Lehrperson im Unterricht immer wieder in alte Muster zurückfällt – also etwa immer wieder eine neue berufliche Berechnungssituation dadurch einführt, dass sie erklärt „wie es geht“ anstatt dass sie die Lernenden zuerst selbst einmal ihre Ideen ausbreiten lässt. Der Dozent kennt das aus eigenem Erleben. Er hat das selbst passiv als Lernender und aktiv als Lehrperson erlebt und kann auf Grund seines Wissens über typische Sozialisationsverläufe etwa vermuten, welche „Ursituation“ da wirksam ist.
Neben diesen Übereinstimmungen bestehen zwei wesentliche Unterschiede zwischen der Psychoanalyse in der Interpretation von Lorenzer und dem IML. Einmal nimmt die Psychoanalyse an, manchmal eine Erinnerung an eine bestimmte Situation nicht mehr bewusstseinsfähig ist und nur über einen langen Prozess wieder zugänglich gemacht werden kann. Das IML dagegen nimmt nur an, dass das situative Wissen nicht bewusstseinspflichtig ist, d.h. dass zwar Erinnerungen wirksam werden können, ohne dass man sich bewusst ist, welche das waren, dass diese handlungswirksamen Erlebnisse aber prinzipiell bewusst zugänglich sind, sofern man direkt danach fragt.
Grundsätzlich wäre es denkbar das IML um „verdrängtes“ situatives Wissen zu erweitern. Dazu müsste man nach dem Vorbild der Psychoanalyse Bedingungen formulieren, unter denen dies geschieht. Aktuell sehe ich bezüglich des Haupteinsatzbereiches des IML, der Lehrerbildung, kein Bedarf dafür.
Auf der anderen Seite scheint die Psychoanalyse anzunehmen, dass das Problem gelöst ist wenn einmal die „Ursituation“ wieder bewusst zugänglich gemacht wurde. Das IML ist hier skeptischer und erwartet, dass alte Gewohnheiten nicht einfach verschwinden. Sie müssen durch neue Gewohnheiten ersetzt werden, d.h. es muss neues, situatives Wissen entstehen, dass im entscheidenden Moment sich mehr in den Vordergrund drängt, als das alte Wissen, das abgelöst werden soll. Ohne dass alternatives Verhalten eingeübt wird, verschwinden alte Muster nicht. Und bis das neue Verhalten auch unter Druck zur Verfügung steht, braucht es einige positive Erfahrungen damit. Solange dies nicht der Fall ist, werden sich die alten Muster immer wieder zeigen.
Allerdings ist das IML in einem anderen Aspekt auch optimistischer als die Psychoanalyse. Im IML ist es durchaus denkbar, dass neue Erfahrungen handlungsleitend werden können, ohne das die Wurzeln der alten Muster aufgearbeitet werden. Macht jemand mit einem neuen Verhalten positive Erfahrungen, können diese dominant werden und die alten Erfahrungen vergessen gehen. Das IML steht hier näher bei lösungsorientierten Therapieansätzen. Vorausgesetzt ist allerdings, dass es gelingt, eine Lernumgebung zu schaffen, in der die alten Muster nicht derart dominant sind, dass sie gar keine neuen Erfahrungen zulassen.