6 Curriculumsentwicklung
Bei der klassischen Curriculumsentwicklung werden sowohl die zu behandelnde Inhalte wie auch die Reihenfolge, in der sie behandelt werden sollen, vor der Durchführung der Lernveranstaltung festgelegt. Lässt man sich aber als Lehrperson wirklich auf die Erlebnisse der Lernenden im Gebrauchskontext ein, ist dies kaum noch möglich.
6.1 Unerwartete Reihenfolge, unerwartete Themen
Bei der Curriculumsentwicklung am Schreibtisch besteht eine Tendenz, vom Einfachen zum Komplexen und vom Grundlegenden zum Speziellen zu gehen. Vor allem Lehrer und Lehrerinnen sind aber in ihrem Gebrauchskontext täglich mit komplexen und ganz speziellen Situationen konfrontiert. Frag man sie daher in einer Weiterbildung, was sie im Moment beschäftigt, dann suchen sie typischerweise Hilfe für diese speziellen Situationen und verspüren wenig Lust, Grundlagenfragen zu erörtern.
Welche Fragen die Lernenden wann beschäftigen werden, lässt sich daher schwer vorhersagen, d.h. eine Abfolge der Themen ist kaum planbar. Aber auch damit, welche Themen überhaupt angesprochen werden, kann man Überraschungen erleben. Denn stimmt die Voraussetzung dieser Überlegungen hier, dass nämlich Lehrpersonen den Gebrauchskontext ihrer Lernenden notwendigerweise nur begrenzt kennen, dann werden die Lernenden früher oder später Themen und Fragen aufbringen, an welche die Lehrperson von sich aus nicht gedacht hätte.
6.2 Improvisieren statt ab Blatt spielen
Die Gestaltung des Schulungskontextes verschiebt sich daher notwendigerweise von einer sauberen Planung hin zu einer offenen Improvisation. Arn (2016) spricht als Hochschuldidaktiker in diesem Zusammenhang von einer agilen Didaktik im Vergleich zu einer Plandidaktik.
Yinger (1990) hat dafür eine hilfreiche Metapher gefunden, die auch Arn anspricht (Arn 2016, S. 56): Die Arbeit mit klassischen, vorstrukturierten Curricula gleicht der Aufführung eins klassischen Musikstücks ab Partitur; die Improvisation auf Grund der Bedürfnisse der Lernenden einer improvisierenden Jamsession von Jazzmusikern. Er stellt zwei Abläufe gegenüber:
- Planen, Implementieren, Auswerten
(Planning, Implementation, Reflection) - Improvisieren, Betrachten, Bereit-Werden
(Improvisation, Contemplation, Preparation)
Der erste, zyklische Ablauf ist vertraut: Der Unterricht wird geplant (Curriculumsentwicklung, Unterrichtsvorbereitung), dann wird er nach Plan durchgeführt und schliesslich ausgewertet. Als Folge davon wird der Plan gegebenenfalls für die nächste Durchführung angepasst. Etc.
Der zweite, ebenfalls zyklische Ablauf beginnt mit einer improvisierenden, auf die Anliegen der Lernenden ausgerichteten Durchführung des Unterrichts (bspw. in Form eines Lernstopps). Danach folgt eine Reflexion darüber, was während des Unterrichts geschehen ist, welche Fragen und Themen die Lernenden angesprochen haben, inwiefern es möglich war, auf diese Fragen befriedigende Antworten zu geben, welche Informationen man den Lernenden in Form einer Nachbereitung noch nachliefern könnte (vgl. das Schienenmodell, Kaiser 2002) und wo man selbst das eine oder andere aufarbeiten sollte, um auf zukünftige, ähnliche Fragen gewappnet zu sein.
Beide Abläufe sind zyklisch. Niemand plant Unterricht auf der grünen Wiese und niemand improvisiert Unterricht aus dem hohlen Bauch heraus. Der Unterschied liegt in der Interpunktion. Beim geplanten Unterricht haben die Aktivitäten neben der eigentlichen Durchführung den Charakter einer Vorbereitung; beim improvisierenden Unterricht finden sie als Nachbereitung statt. Der wesentlich Unterschied besteht darin, dass beim Nachbereiten kein Plan entsteht, sondern Bausteine verschiedenster Art, die bei der nächsten Improvisation flexibel eingesetzt werden können – building blocks bei Yinger (1990), Bausteine bei Arn (2016). Viele Texte dieser Website sind so entstanden.
6.3 Schwerpunktverschiebung
Nicht nur die Lernenden sondern auch die Lehrperson hat Anliegen, welche sie in den Schulungskontext einbringen möchte (oder einbringen muss, weil irgendjemand anders Themen festgelegt hat, die behandelt werden müssen). Diese können auf zwei Arten einfliessen:
Zuerst die Nöte der Lernenden, dann die Anliegen der Lehrperson: Oft ist gar keine spezielle Massnahme seitens der Lehrperson notwendig. Die Lernenden bringen häufig von sich aus alle vorgesehenen Themen zu Sprache – nur nicht in der Reihenfolge, in der die Lehrperson das geplant hätte. Und ist dies nicht der Fall, kann die Lehrperson mit der Zeit, wenn die schlimmsten Nöte der Lernenden behandelt sind, auf weitere Themen hinweisen, die Lernenden danach fragen, ob diese sie nicht auch beschäftigen, ob sie dazu nicht auch schon Erfahrungen gemacht haben. Sofern diese Themen nicht völlig an dem vorbeigehen, was im Gebrauchskontext der Lernenden geschieht, werden die Lernenden positiv darauf reagieren.
Umdeutung der Nöte der Lernenden durch die Lehrperson: Die Lernenden kommen mit Vorannahmen in die Weiterbildung, bringen eine gewisse Weltsicht mit. Und oft ist es eine der wichtigsten Aufgaben einer Weiterbildung, diese Weltsicht zu verändern, den Lernenden zu helfen, ihre Erfahrungen umzustrukturieren (Strukturierung, Kaiser 2008). Fassen daher die Lernenden ihre Erfahrungen in ungünstige Begriffe, kann die Lehrperson alternative Konzepte zur Beschreibung der Erfahrungen anbieten und so Themen einführen, welche von den Lernenden vordergründig nicht direkt angesprochen werden.
6.4 Curriculumsentwicklung durch improvisierendes Unterrichten
Führt man eine Weiterbildung zur selben Thematik mehrmals durch, wird man feststellen, dass viele der Themen sich wiederholen, da bspw. Lehrerinnen und Lehrer zu Beginn ihrer Berufskarriere alle von den gleichen Nöten geplagt werden. Und auch die Reihenfolge, in der die Themen zu Sprache kommen, wird nicht jedes Mal vollständig anders sein. D.h. es entwickelt sich mit der Zeit von selbst eine Art Curriculum und es wird möglich, Lehrpersonen, welche sich einen improvisierten Unterricht nicht richtig zutrauen, auf das vorzubereiten, was sie erwartet.
Allerdings ist es auch dann noch wichtig, dass die Lehrpersonen für die wahren Anliegen der Lernenden offen bleiben, denn jede Erfahrung, welche die Lernenden aus dem Gebrauchskontext mitbringen, ist ein Einzelfall. Und manchmal entscheiden Nuancen, ob man diesem Einzelfall gerecht wird. Zudem kann sich der Gebrauchskontext der Lernenden unerwartet durch neue Entwicklungen so verändern, dass auch ein aus Erfahrung gewonnenes Curriculum nicht mehr passt.
Bei Curricula, welche aus improvisierendem Unterrichten entstehen, lassen sich zwei generelle Tendenzen beobachten:
Grundlagen an den Schluss: Typischerweise haben die Lernenden für Grundlegendes erst dann ein offenes Ohr, wenn ihren spezifischen Anliegen bearbeitet sind. Dann stossen Grundlagen allerdings als systematisierende Zusammenfassungen durchaus auf Interesse.
Disziplin, Stoff, Didaktik: Spezifisch bei Lehreinnen und Lehren lässt sich oft folgende Abfolge von Bedürfnissen beobachten:
- Classroom-Management: Die grösste Sorge angehender Lehrerinnen und Lehrer ist es meist, die Kontrolle über das Geschehen im Klassenzimmer zu verlieren.
- Stoffbeherrschung: Haben sie ihr Überleben gesichert, sind sie als nächstes damit beschäftigt, selbst einmal die Inhalte richtig durchzudenken, welche sie ihren Lernenden beibringen sollten.
- Didaktik: Und erst ganz am Schluss sind sie offen für didaktische Feinheiten.